Leiden am Passivitäts-Komplex

von Sophie Diesselhorst

Berlin, 29. April 2015. Der jüngste der fünf Geschwister ist der erste, der nicht aus dem vermaledeiten Krieg zurückkommt. Als diese Nachricht die Familie per Feldpost erreicht, bricht die Mutter als erste die Schockstarre, indem sie anfängt, Benjamins Mythos zu stricken: "Ungeschickt lässt grüßen", so entsinnt sie sich, wie er als Knirps in einer Schulvorführung auf der Bühne nähen musste und sich aus Nervosität dauernd stach.

Während die Mutter (Katharina Matz) die nunmehr einzig mögliche Bekanntschaft mit dem verlorenen Sohn per Erinnerung erkundet, fährt ihrer Tochter (Judith Hofmann) der Widerwillen gegen die unmittelbare Akzeptanz der Schreckensnachricht in den Körper und kommt zur Hand wieder heraus, die sie der Mutter immer wieder besänftigend aufs Bein legt; ihr eigenes Leiden verbirgt sie, indem sie das Gesicht grienend maskiert, und markiert es dadurch umso stärker.

Präzise Menschlichkeitsbeobachtung

Es gibt in Peter Handkes "Immer noch Sturm" allerlei derartige Szenen, in denen die Familie, für die Handke einen ihrer Nachkommen als Icherzähler auferstehen lässt, den Möglichkeiten des Leidens sowohl an der übergreifenden Geschichte als auch an ihrer eigenen nachspüren lässt. Frank Abt interessiert sich in seiner Inszenierung in den Kammerspielen des Deutschen Theaters nicht so sehr für die Sehnsucht nach den großen Schritten und den historischen Schnitten, die Handke als Motiv stark akzentuiert. Sondern er gewinnt dem Stück, das um eine vom Autor als exemplarisch hingestellte Geschichte aus der slowenischen Minderheit im österreichischen Kärnten im zweiten Weltkrieg kreist, Szenen der präzisen Menschlichkeitsbeobachtung ab.

immer noch 22311 560 arno declaire uFamilientableau: mit den DT-Spielern Simone von Zglinicki, Judith Hofmann, Michael Gerber, Katharina Matz, Thorsten Hierse, Marcel Kohler und Ole Lagerpusch © Arno Declair

Bei Handke verfällt die Familie nach jeder Todesnachricht in einen kollektiven Japser, ein theatrales Signal vom Mikro- an den Makrokosmos. Bei Abt wartet man auf dieses erlösende Moment vergebens. In der Überzeugung, dass er und die seinen sich nicht als Tragödien-Figuren eignen, weil sie der großen Geschichte stets passiv beigewohnt haben, muss der Vater (Michael Gerber) ganz bei sich bleiben. Ja, er muss – oder darf? – sie zum Schluss noch einmal wiederholen, obwohl ihn doch zwei seiner Kinder Lügen gestraft haben, indem sie sich dem Partisanenkampf gegen die deutschen Besatzer angeschlossen haben; und eine dritte Tochter, die Mutter des Ich-Erzählers (Judith Hofmann), sich in die entgegengesetzte Richtung aufgemacht hat ins "Reich", allerdings nicht um zu kämpfen, sondern um den Vater ihres Kindes zu suchen. In der betonten Ignoranz des Vaters klingt der Passivitäts-Komplex dann doch mit.

Zwischenmenschlichkeiten statt Geschichtspanorama

Aber meistens lässt Abt die Figuren einander beleuchten und sucht Gewissheit in den kleinen Zwischenräumen und im Individuellen, das die Spieler in ihrer Mimik konzentrieren. Viel Platz zum Gestikulieren haben sie auch gar nicht auf der Bühne, wo sie sich meistens auf einem kleinen kreisrunden Podest aufhalten, das sich langsam dreht. Am Anfang sind Räume eines Hauses darauf eingerichtet, die der familiären Erinnerungs-Dimension eine Gemütlichkeit schaffen. Sie kippt manchmal ins Betuliche, weil Abt sich trotz vieler Kürzungen weitgehend an die "Und dann"-Chronologie von Handkes Text hält.

Das ist aber vor allem deshalb problematisch, weil die Rolle des Ich-Erzählers, der bei Handke den großen Bogen spannt, stark reduziert wird: Markwart Müller-Elmau agiert meistens nur als Stellvertreter des Publikums, der sich selten Stichwort gebend einmischt. Diese Reduktion versucht die Inszenierung zu kompensieren, indem der außen Stehende in einem Pro- und einem Epilog Texte aus Handkes Erzählung "Wunschloses Unglück" über den Selbstmord seiner Mutter spricht. Aber dieser Auto(r)-biographische Kurzschluss ist zu kurz und in Abts Gesamtkomposition zu wenig wichtig, um die Tür zu einer weiteren Erkenntnisebene aufzustoßen.

Also läuft der Abend ins Leere, so wie auch die Bühne zum Schluss geleert wird und die Familie sich ganz hinten zum Panorama aufbaut, um sich nach der Schilderung der Ankunft des Friedens und des Misstrauens, das trotzdem bleibt, schnell aus dem Staub zu machen. Aber mindestens das Leiden der Tochter am Leiden der Mutter hat sich ins Gedächtnis geprägt.

 

Immer noch Sturm
von Peter Handke
Regie: Frank Abt, Bühne: Steffi Wurster, Kostüme: Sophie Leypold, Dramaturgie: Meike Schmitz.
Mit: Markwart Müller-Elmau, Judith Hofmann, Katharina Matz, Michael Gerber, Ole Lagerpusch, Thorsten Hierse, Simone von Zglinicki, Marcel Kohler.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.deutschestheater.de

 

Kritikenrundschau

Ulrich Seidler findet, das Deutsche Theater zeige, was es kann. Auf der Website der Berliner Zeitung (1.5.2015) schreibt er,  zusammen mit "Don Carlos", inszeniert von Stephan Kimmig, sei hier ein "beglückend solider Doppeltreffer" gelungen. "Immer noch Sturm" lasse all die "kulturbetriebliche Selbstvergewisserungserregung" [Berliner Theaterstreit – der Sätzer] "schlagartig vergessen".
Man sinke mit "dem Handke'schen Ich" hinab in "die Einbildungen einer Vergangenheit", schmecke "alte Apfelsorten und Milchhaut", spüre den Fluss der Zeit durch Leid und Traum zum Tod – "vertrauensvolles Theaterschläfchen inbegriffen".

Christine Wahl schreibt im Tagesspiegel (2.5.2015): In Frank Abts Inszenierung werde "Welt- in Familiengeschichte portioniert". Alles "ins Gegenwärtige beziehungsweise gedanklich Universelle Strebende", das Handke diesen Geschichten "zwischen Anpassung und Widerstand abgewinnt," habe Abt tendenziell gestutzt. Dafür fahre ein "Familienpanorama in historisierenden Kostümen auf", dessen "Tonlage vor allem beim Ich-Erzähler" Markwart Müller-Elmau "gelegentlich hart am Märchenonkel-Idiom entlangschrammt".

Inszeniert habe Frank Abt die imaginierten Gespräche wie eine Chronik des Dabeigewesenseins, "es bleibt eine hölzern erzählte Geschichte; manchmal denkt man, die Schauspieler wurden mit ihren Rollen nicht warm", so Katrin Bettina Müller in der taz (4.5.2015). "Keine Empathie stellt sich ein und das historische Kostüm kann nicht ersetzen, dass man als Zuschauer kaum in den Sehnsuchtsräumen des Erzählers ankommt." Denkt man da an "Common Ground" vom Gorki-Theater, ebenfalls ein Stück über Herkunft, Verlust und Krieg, springe der uninspirierte Umgang mit der Geschichte noch deutlicher ins Auge. 

 

Kommentare  
Immer noch Sturm, Berlin: nichts stürmt, alles staubt
Hier wird nichts vergegenwärtigt, sondern sich der Abend ist sich genug mit einer nostalgischen Zeitreise, die nur eine Richtung kennt und sich in zweidimensionalen Standbildern erschöpft. Da ist die Familie zu Beginn zusammen, korrespondiert ihr zunehmender Zerfall zum einen mit der Vereinzelung der Figuren, zum anderen mit dem schrittweisen Zerlegen des Bühnenbilds, bis sie am Ende, schwarzgewandet, hinter dem Podest auf Hockern sitzen, der Heimat und damit sich selbst beraubt, alle zusammen und doch jeder für sich. Dazu spielt eine Art Fahrstuhlmusik des Verlorenen, heften sich die bedeutungsschwangeren Blicke auf die Zuschauer und gehen doch ins Leere, weil sie uns wie von einer verblichenen Postkarte anschauen. Wo Gotscheff Gegenwart und Vergangenheit sich in einem Wasserfall des Lebens einander begegnen, ja aus einander entstehen ließ, lässt Abt den Zuschauer auf ein paar Seiten in einem staubigen Archiv blicken, schrumpft er die universelle Weite des Textes auf die Zwergengröße eines musealen Kammerspiels zusammen. Es herrsche "Immer noch Sturm", heißt es mehrfach gegen Ende des Textes , die Stürme der Vergangenheit tobten weiter und würden es so lange tun, bis die Geschichte aus dem ewigen Kreislauf wiederholter Ausgrenzung und Verdrängung ausgebrochen ist. In Frank Abts Inszenierung dagegen tobt nichts, von Beginn an nicht, erstirbt am Ende gar das laue Lüftchen der Geschichte zu absoluter Windstille.

Komplette Kritik: https://stagescreen.wordpress.com/2015/04/30/das-laue-luftchen-der-geschichte/
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