Ob das mal stimmt!

von Wolfgang Behrens

1. November 2016. Als ich noch ein Zuschauer war, erzählte mir einmal ein Pianist, warum er seine Konzertkarriere aufgegeben habe. Ein Freund von ihm habe nämlich ein Konzert aus Krankheitsgründen kurzfristig absagen müssen, was freilich den für dieses Rezital vorgesehenen Zeitungskritiker nicht beirrte. Zwei Tage später erschien also eine ausführliche Kritik des ausgefallenen Konzerts. Ich muss zugeben, dass mir das durchaus Respekt vor der Fantasie des Kritikers abnötigt – den Pianisten indes, der mir diese Anekdote erzählte, ließ es am Konzertbetrieb verzweifeln.

Sind Kritiker doch nicht unfehlbar?

Mir ist so, als hätte ich ähnliche Geschichten später häufiger gehört, vielleicht waren sie auch nur gut erfunden. Nicht immer jedoch: Als junger Mensch besuchte ich einmal eine Opernpremiere in Frankfurt, bei der einer der damaligen Hausstars, Helena Döse, kurzfristig ausfiel. Einer sogenannten Qualitätszeitung war das aber nicht weiter aufgefallen: Sie schwadronierte davon, dass Helena Döse die Hauptrolle gewohnt großartig gesungen habe. Mich hat das damals erschüttert, weil mir plötzlich etwas schwante: Vielleicht sind Kritiker ja doch nicht unfehlbar!

kolumne 2p behrensImmerhin hatte ich zu diesem Zeitpunkt schon auf Grund herbster Verrisse (zum Beispiel im Leitmedium meiner Jugend, dem "Rüsselsheimer Echo") auf den Besuch von Aufführungen eines gewissen Einar Schleef verzichtet, dem offenbar nur debilstes Zeug "durch die Rübe rauschte" (um die Formulierung eines verehrten Kritikerpensionärs zu verwenden). Als ich ein oder zwei Jahre später bei einer "Götz"-Inszenierung eben jenes Einar Schleef die vielleicht größte Kunstoffenbarung meines Lebens, jedenfalls meine eigentliche Theaterinitiation erlebte, hätte ich das "Rüsselsheimer Echo" am liebsten sofort abbestellt – wenn ich damit nicht in die Kompetenzen meiner das Abonnement haltenden Eltern eingegriffen hätte.

Seitdem bin ich im Umgang mit Kritiken etwas vorsichtiger geworden – selbst wenn ich ältere Kritiken von mir lese, denke ich manchmal: "Na, ob das mal stimmt!" Und wenn man ab und an den Gegenwind, der einem in den Kommentaren von nachtkritik.de entgegenbläst, zu spüren bekommt, kann man daraus jedenfalls die Beruhigung ziehen: Die Kritik wird nicht mehr als scharfrichterliches Urteil wahrgenommen oder zumindest nicht mehr als solches akzeptiert. Diese Kritikenleser*innen-Emanzipation, die ich mir noch durch leidvolle Erfahrung erkämpfen musste, scheint ja durchaus von so einem neumodischen Ding wie diesem Internet befördert worden zu sein. Ex negativo bestätigt das der Vater eines Freundes, der den Computer wohl nur vom Hörensagen kennt und bis heute auf sein "Tagesspiegel"-Abo schwört. Wenn ich ihn – einen fleißigen Theater- und Opernbesucher – in irgendeinem Foyer treffe, frage ich ihn oft: "Und, Herr K., haben Sie denn schon den neuen 'Macbeth' gesehen?" Er schaut mich dann entgeistert an und sagt: "Nein! Die Kritik [DIE Kritik!!!] war doch nicht gut."

Das wird ein Verriss!

Ich frage mich zuweilen, ob das Ende der Unfehlbarkeit der Kritiker*innen auch schon von diesen selbst bemerkt worden ist. Hat sich der Stil der Kritik (mal abgesehen von der sprachlichen Qualität, die früher – als natürlich alles besser war – bemerkenswert hoch war) verändert? Weicht die Ex-cathedra-Be- und Verurteilung tatsächlich einem Gesprächsangebot, das wer auch immer annehmen kann? Dafür ist nachtkritik.de ja einmal angetreten, aber ob das auch in der Haltung der Kritiken eingelöst wird, ist mir nicht ganz klar. Klingt ja super: nachtkritik.de hat das Schreiben der Kritiker*innen verändert! Ob's stimmt? Ich vermag das nicht zu sagen.

Zuletzt möchte ich noch um ein wenig Verständnis für die Kritiker*innen werben, die ja immer hochgestimmt – den Kopf voller wunderbarster eigener Ideen – ins Theater gehen und dann dummerweise auf reale Aufführungen treffen, die so gar nicht zum vorgefassten Bild passen wollen. Das ist so entnervend, dass man manchmal einfach an der Realität der Aufführung vorbeischreiben muss. Insofern ist die abgesagte Aufführung im Grunde das anzustrebende Ideal: Endlich darf der Kritiker – unbehindert von störenden Bühnenvorgängen – das schreiben, was er wirklich will. Also auf nach München, zur "Unterwerfung" (die – wie wir seit gestern wissen – in der Tat entfallen wird). Juhu! Das wird ein Verriss!

Kolumne: Als ich noch ein Kritiker war

Wolfgang Behrens

Wolfgang Behrens, Jahrgang 1970, ist seit der Spielzeit 2017/18 am Staatstheater Wiesbaden tätig - zunächst als Dramaturg, inzwischen als Schauspieldirektor. Zuvor war er Redakteur bei nachtkritik.de. Er studierte Musikwissenschaft, Philosophie und Mathematik in Berlin. Für seine Kolumne "Als ich noch ein Kritiker war" wühlt er unter anderem in seinem reichen Theateranekdotenschatz.

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Kommentare  
Behrens über Kritiker: Korrekturverlauf
Nachtkritik de. hat m.E. durchaus das Schreiben der Kritiker konkret verändert: Die zu besuchenden Inszenierungen in begrenzter Anzahl bestimmt nicht mehr der Feuilleton-Chef, sondern ein Kollektiv, das sich um Prioritäten streitet und sich dabei zwangsläufig selbst kritisiert, weil bei solchem Streit die Vor-Urteile auffällig werden, einziehender Lobbyismus bewusst gemacht wird. Die Artikellänge bestimmen nicht mehr der Zeilenpreis und redaktionelle Platz-Einräumer oder Platz-Sparer. Es kann – auch wenn nicht jeder Kritiker das nutzt – sich daher mehr auf Inhalte und Formen der Inszenierungen konzentriert werden, gern mehr ins Detail gegangen werden als bei den Printmedien. Dadurch MUSS nicht mehr zwingend in der Kritik der eigene kritische Text und die eigene Haltung ironisch, möglichst witzreich – gebrochen werden. Das lässt mehr Platz und auch geistigen Raum für persönliche Schreibstile von Kritikern und ihre Entwicklung. Die ironische Brechung erfolgt durch die Kommentare auf die Kritiken. Die Kritik hat gelernt, mit diesen Kommentaren als unberechenbaren aber zuverlässig eintreffendes Feedback zu rechnen! Wenn sie nicht eintreffen, können sie durch die Kritiker selbst befeuert werden. Und: die Kolumne als journalistisches Instrument lebt durch den sich differenzierenden Schreibstil und persönliche Vorlieben der Kritiker wieder auf. Auch dies ist ein Vorteil! Auch für die allgemein in den Printmedien modisch gewordenen Kolumnen, die sich immer mehr sprachlich gleichen, von wem immer verfasst und veröffentlicht! – Gleich, worum es geht: Hauptsache schnell, witzig, tagesaktuell! – So aber, mit dieser speziellen Internet-Konkurrenz, muss sich auch die Print-Kolumne ändern. Und die war in früheren Zeiten bedeutend bildungsbasierter und weltmännischer(gern auch –fraulicher), als heutige Kolumnen das sind! Physiker und namhafte Wissenschaftler z.B. konnten hinreißende sowohl allgemein verständliche wie hochgradig Bildung bereichernde Kolumnen schreiben! (Hofstadter beispielsweise für „Science“) – Freilich, als der Buchmarkt die allgemein verständlichen hochgradig Wahrnehmung und Sinne bereichernden Bücher anfing durch Kolumnen in Buchform zu ersetzen, wurden solche Kolumnen in Printmedien zunehmend überflüssig… Ein schönes Beispiel für ein Wideraufleben geben Berliner Morgenpost und Hamburger Abendblatt. Mit der Deutschstunden-Kolumne von Peter Schmachthagen – eine Empfehlung für jeden Kritiker, der zwecks Erhalt und Schärfung seiner Sprachwerkzeuge Kolumnen schreiben möchte… Auch eine Empfehlung für unsere jungen Dramatikerinnen und Dramatiker übrigens.
Was zu wünschen wäre: dass die Artikel besser schneller und besser korrigiert würden. Vielleicht als Anregung: ab und an, bei Artikeln, in denen sehr viel korrigiert werden muss, einen Korrektur-Verlauf, vielleicht in Kolumnen-Form öffentlich machen...
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