Notwendig – für wen?

24. März 2017. "Erinnerung kann lebendiger sein als das, was wir neu erleben", erklärt Serge Dorny im Interview mit Eleonore Büning in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) seine Idee für das "Festival Memoires" in Lyon, wo Dorny drei legendäre Inszenierungen von Heiner Müller, Ruth Berghaus und Klaus Michael Grüber rekonstruieren ließ.

"Ich finde, das liegt bedenklich auf der Retro-Schiene, es scheint perfekt zu passen in eine Zeit, in der man in ganz Europa überall rückwärts geht. (…) Wir drehen uns um, wie Orfeo, und gucken nach hinten", kommentiert Fragerin Büning. In den siebziger Jahren hätten sich die Künstler noch gefragt: "Was gibt es Neues? Wo geht das hin?" Heute werde zitiert oder kopiert, recycelt, gecovert. Also, an Dorny: "Hat sich die Idee des Fortschritts so verdünnisiert?"

"Altes zu recyceln ist das eine, dies zu institutionalisieren, scheint mir völlig unmöglich. Ich würde behaupten, auch kein anderer Intendant wird das tun wollen. Ein Opernhaus ist kein Museum", entgegnet Dorny und führt zur Verteidigung der Inszenierungs-Rekonstruktion (die ja auch Chris Dercon für die Volksbühne angekündigt hat, Anm. d. Red.) aus: "Es gab und gibt offenbar 'landmarks' im Regietheater, bestimmte Aufführungen mit Referenzcharakter, die die ästhetische Erfahrung einer ganzen Generation geprägt haben." Es gebe einen objektiven Kern, warum es dazu kam, dass diese 'Landmarks' Geschichte gemacht hätten. "Und dieser Kern interessiert mich, den müssen wir analysieren."

Kunst vs. akademischer Service

Das Gedächtnis einer Gesellschaft stoße alle paar Dekaden wieder an Grenzen, "das hängt offensichtlich von Generationenwechseln ab. Schauen Sie sich, zum Beispiel, die Zeitsprünge an von 1933 zurück auf 1870, dann zurück auf Napoleon und auf die Französische Revolution: Wie in regelmäßigen Wellen gab es immer wieder einen heftigen Anfall von Nationalismus." Und seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs seien gerade wieder siebzig Jahre herum, insofern sei das Thema "Memoire" heute "ungeheuer aktuell".

Bei manchen neuen Opern-Inszenierungen denke er, "dass es kein Wissen mehr davon gibt, was früher einmal essentiell wichtig gewesen war, nämlich dass jedes Kunstwerk, auch das ephemere, auf eine aktuelle Notwendigkeit reagiert", so Dorny. "Aber wenn ich mich heute umschaue, dann sehe ich doch sehr vieles, was absolut nicht notwendig ist. Vielleicht ist es notwendig für das Ego des Regisseurs. Aber jedenfalls nicht für das Publikum, nicht für die Gesellschaft."

In ihrer Besprechung des Festivals bilanziert Eleonore Büning das Festival in der FAZ (24.3.2016): "War früher alles besser? Nein, das kann und darf nicht sein. Und doch: So ist es. Aber wieso?" Ihre Vermutung – Berghaus, die Tänzerin und Choreographin, Müller, der Dichter, hätten sich selbst das Gesamtkunstwerk Oper erklärt, "als Künstler". Heute sei Regieführen ein "akademischer Serviceberuf. Man studiert Opernregie und liefert anschließend, wenn es gutgeht, eine Seminararbeit ab."

(sd)

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