Presseschau vom 23. September 2014 – Frank Castorf über die Lauheit von Berlin und die Zukunft der Volksbühne mit oder ohne ihn
Der Anti-Veganer
Der Anti-Veganer
23. September 2014. Der Berliner Tagesspiegel (23.9.2014) rollt Frank Castorf, dessen Vertrag an der Volksbühne 2016 ausläuft, den roten Teppich für ein paar markige Sprüche aus. Ob ihm sein Nachfolger jetzt schon leid tue, fragt ihn etwa Peter Laudenbach im Interview. "Es gibt natürlich immer viele Agenten der Mittelmäßigkeit", antwortet Castorf und bezichtigt diese des Epigonentums: "Vieles von dem, was wir gemacht haben, ist verwässert und zum Allgemeingut geworden. Jeder setzt sich aus vorhandenen Stil-Bausteinen etwas zusammen und ist der Meinung, er sei selber Künstler." Das "Bewusstsein von Qualität" gehe dabei völlig verloren.
Rammstein-Tagträumer
Den zurückgetretenen Klaus Wowereit würde er schon vermissen, "seine Lust am Leben, den Sinn für Humor, auch die Penetranz. (...) Vielleicht mag er privat lieber Boulevardtheater, aber er hat verstanden, dass die Volksbühne etwas Besonderes ist." Für den neuen Kulturstaatssekretär Tim Renner hat er weniger gute Worte übrig. Lediglich "die Nicht-Vision zu verwalten", sei "auf Dauer ein bisschen wenig, und freundliche Besitzstandswahrung als Ersatz von Kulturpolitik nicht sehr aufregend". Renners Ideen, Rammstein in die Volksbühne zu holen, sind für Castorf bloß "die Tagträume eines Musikmanagers. Keiner, der heute solche Entscheidungen trifft, ist noch im Amt, wenn man irgendwann die Folgen seiner Entscheidungen bemerkt."
Wie ein Auftragskiller
Sich selbst hingegen sieht Castorf durchaus noch längerfristig im Amt, auch wenn er mal vom Aufhören gesprochen hat. "Aber das Schöne ist, dass man sich bei mir auf nichts verlassen kann. Ich mache vieles nicht aus einer Überlegung heraus, sondern aus Intuition." Aber klar, irgendwann sei immer Schluss. Und dann wär's "schön, wenn an der Volksbühne etwas entstehen würde, worüber ich mich freuen kann und das stärker ist als ich". Was das Haus ausmache, sei "die Autonomie, nicht nur künstlerisch, auch in der Eigenverantwortung der Werkstätten zum Beispiel. Es gibt ein großes Zusammengehörigkeitsgefühl". Früher habe Piscator hier "linksradikales Theater" gemacht. Diese Geschichte dürfe "man nicht einfach auslöschen, wie man die Geschichte des Brecht-Theaters am Berliner Ensemble ausgelöscht hat." Das Haus verlange "architektonisch eine andere Kraft, hier kann man kein bürgerliches Kammertheater machen. Hier muss man besondere Signale senden, um zu zeigen, dass man lebt." Um den Regisseur Castorf muss man sich jedenfalls so oder so keine Sorgen machen: "Ich habe woanders genug Regie-Angebote." "Man ist dann wie ein Auftragskiller." Übrigens, "das Schlimmste", was er sich vorstellen könne, sei die Übernahme des Burgtheaters: "Als müsste man ständig in einer Operette mitspielen, furchtbar."
Allet lau in Berlin
Ein bisschen Geläster über den Prenzl'berg und dessen Bewohner darf natürlich nicht fehlen: "Am liebsten hätten sie veganes Theater." Berlin werde allmählich "wie überall", "etwa so aufregend wie die Innenstadt von Stuttgart oder Frankfurt". Heute, wo man nicht mehr aus Schlesien, Polen oder der Türkei zuwandert, sondern aus Spanien oder Schwaben, fühlt sich Castorf an Dostojewskijs Bibel-Zitat erinnert: "'Dass du doch heiß oder kalt wärest, aber du bist lau.' Lau heißt heute cool. Es ist bequem geworden, hier anarchistisch zu sein." Er inszeniere deshalb Céline oder Malaparte, "keine guten Demokraten". Es müsse schließlich "Auditorien geben, die sich der Selbstgefährdung widmen." "Man muss manchmal wie ein Kind reagieren, weil diese Gesellschaft so pädagogisch daherkommt und einem dauernd erklärt, wie man möglichst friedlich leben kann. Das ist eine schöne Illusion, aber es ist unmenschlich, wenn man weiß, was in dieser Welt passiert. Rumänen oder Bulgaren klauen das Smartphone meiner Freundin nicht, weil sie Apple toll finden, sondern weil sie Hunger haben."
(ape)
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Es geht eben nicht um diese ewige Toleranz liebe Inga. Die Welt ist so und was kann ich da gegen setzen. Die Welt ist aus den Fugen und wir fressen vegan. Was willst du dagegen tun? Tolerant sein? Ich bin es auch und verachte mich dafür. Zumindest habe ich mein Alibi, ich gehe in die Volksbühne und erlebe diese Castorfabende und sie holen mich immer wieder ein und zurück in den Alltag. Sie sind schwer verdaulic keine Schwafelei, wie Sie es meinen. Wann haben Sie zum letzten Mal einen Castorfabend wahrgenommen?
Ich weiß, die Welt ist weiß, aber ich sehe lieber schwarz und darum treibt es mich immer wieder in die Volksbühne. Und wenn ich der letzte Besucher wäre...
Er hat Schlingensief an die Volksbühne geholt, Marthaler, Kresnik, Bert Neumann, Pollesch, Gob Squad, Fritsch inszenieren lassen, Hegemann und Lilienthal etabliert, wunderbare Schauspielerinnen und Schauspieler aufgebaut... Unter dem Strich trotz mancher Durststrecken also alles andere als epigonal.
Und jetzt kommen die Jungen und er findet sie epigonal. Ich frage mich, wieso sich dieser Generationenkonflikt immer wieder wiederholt. Wieso wird man aus Erfahrung nicht klug?
Das ist eine Frage, auf die mich intelligente Antworten interessieren würden.
es gibt immer mehr sägen als stühle. nicht jeder möchte aber ewig sägen und nicht jeder kann/darf/will/möchte/sollte ewig sitzen. aber rumstehen ist auch keine alternative.
Wenn man sich seine Arbeit von weiter weg anschaut, gewinnt man den Eindruck, dass Castorf dem deutschsprachigen Regietheater etwas ganz besonderes geschenkt hat. Er hat dem Theater als Regisseur aus meiner Sicht das Dramaturgenregietheater geschenkt. Er hat auf seinen – in der DDR durchaus sehr mutigen - frühen Studienarbeiten zu Artaud stets weiter aufbauend, diese Theatersicht-Schablone kontinuierlich auf den russischen Realismus in der Literatur gelegt bis hin zu seinen jüngsten Arbeiten in Bayreuth. Und ich halte es für eine unglaublich starke dramaturgische Leistung, in Wien RichIII und Hans Henny Jahnn zusammenzubringen in die viehische, kreatürliche Parallele.
Jetzt bin ich sogar so weit, dass ich mir gern das erste Mal in meinem Leben eine Inszenierung von ihm ansehen würde. Der Kartoffelsalat ist überwunden und er sollte sich nichts daraus machen, wenn die Jüngeren mit den denselben Zutaten proben. Jede Geschichte eines jeden Faches ist die Geschichte von Leuten, die ihr eigenes Epigonentum zu überwinden suchen…
zuerst kommt das Fressen, wusste schon Brecht. Und das sexuelle ist eh eine Urkraft.
Aber darum geht es wirklich nicht. Oder doch? Die Welt ist aus den Fugen (IS, Ebola, Ukraine, Snowden, die kleinen Katastrophen nimmt man gar nicht mehr wahr) aber uns interessiert es eigentlich gar nicht, so lange es uns gut geht, fressen wir vegan.
So sieht dann auch das gute Theater aus. Klasse, aber weich gespült. Ich danke Castorf, dass er gegen den Strom schwimmt. Wenn auch seine Worte leiser geworden sind.
Ich empfinde es als unreflektiert, davon zu sprechen, dass wir, "solange es uns gut geht, vegan fressen". Was heisst denn das jetzt genau? Lassen Sie einen Menschen doch vegan essen, wenn er es sich leisten kann. Manche Menschen essen auch zwangsläufig vegan, also das, was sich an Bäumen und Sträuchern noch anfinden lässt - siehe auch in Regionen des kapitalistisch ausgebeuteten Kontinents Afrika. Es geht also wirklich nicht um individuelle Essgewohnheiten, sondern um die Massenproduktion von Nahrungsmitteln, um das Thema europäische Agrarsubventionen usw. Das meinte ich. Und auch, wer in europäischen Breiten wenig Geld hat, muss sich nicht immer nur zwangsläufig von massenproduziertem und damit billigem Fleisch ernähren.
Und der Sex als Urkraft? Sie haben die Tendenz, Dinge zu mythologisieren, oder?
Castorf spricht von "veganem Theater" und nicht von Essgewohnheiten. Er meint damit wahrscheinlich ein risikoloses Theater. Kann er auch gern machen, solange das alles im Bereich der Kunst verbleibt. Artaud spricht das aus, was Castorf wohl meint. Es geht aber eben um Metaphern. Wer die folgenden Zitate wörtlich nimmt bzw. in Alltags- und nicht Bühnenhandlung umgesetzt sieht oder sehen will, der hat es nicht verstanden:
"Wenn das Theater wie die Träume blutrünstig und unmenschlich ist, so nur deshalb, um sehr viel mehr noch als dies, in uns die Vorstellung eines ewigen Konfliktes und eines Krampfes zum Ausdruck zu bringen und zu verankern, in denen das Leben in jedem Augenblick durchgehauen wird, in dem sich alles Geschaffene gegen unsern Stand als erschaffene Wesen erhebt und auflehnt, so deshalb, um auf konkrete und aktuelle Weise die metaphysischen Ideen einiger Sagen zu verewigen, deren Entsetzlichkeit und Wucht ihren Ursprung und Inhalt in wesentlichen Grundzügen zur Genüge veranschaulichen."
"Zu Unrecht wird dem Wort Grausamkeit ein Sinn blutiger Unerbittlichkeit, willkürlicher und unbeteiligter Untersuchung körperlichen Leidens beigefügt. […] Grausamkeit ist in der Tat nicht gleichbedeutend mit vergoßnem Blut, mit Märtyrerfleisch und gekreuzigtem Feind. […] In der Grausamkeit, die begangen wird, herrscht etwas wie höherer Determinismus, dem auch der folternde Henker unterworfen ist und den er, sollte der Fall eintreten, zu ertragen b e s t i m m t ist. Vor allem ist Grausamkeit luzid, sie ist eine Art unerbittliche Führung, eine Unterwerfung unter die Notwendigkeit. Keine Grausamkeit ohne Bewusstsein, ohne eine Art von angewandtem Bewusstsein. Das Bewusstsein verleiht der Ausübung eines jeden Lebensvorgangs seine Blutfarbe, seine grausame Nuance, ist doch das Leben eingestandenermaßen stets jemandes Tod."