Eine Erlösung

von Julia Stephan

Zürich, 27. September 2014. Als Martin Heckmanns' Boulevardstück "Ein Teil der Gans" 2007 am Deutschen Theater in Berlin zur Uraufführung kam, zerrupfte Kritiker Wolfgang Behrens ungerührt dessen witzlose Umsetzung. Nur das Stück selbst verschonte er damals: "Ja, Martin Heckmanns hat ein Boulevardstück geschrieben. Aber aufgeführt wurde es noch nicht", schrieb er, und machte Regisseur Philipp Preuss für die Pleite verantwortlich.

Pärchen-Schlacht

Seither ist der "Gans" noch einige Mal der Hals umgedreht worden. Dass der Ton dieser Pärchen-Schlacht à la Yasmina Reza so oft verfehlt wird, ist deshalb unverständlich, weil die Konstellationen darin dankbarer nicht sein könnten: Das Mittelstandspärchen Bettina und Victor lädt am Martinstag ein anderes Paar zum Essen ein. Die arbeitslose Gastgeberin will durch diese bürgerliche Geste den Job als Empfangsdame ergattern, den ihr Hotelier Amin, eine flüchtige Jogging-Bekanntschaft, in Aussicht gestellt hat. Alsbald indes gerät der nach strengem Protokoll geplante Abend – Soufflé, Ente, Obstsalat – auf die schiefe Bahn. In den vordergründig harmlosen Smalltalk mischen sich kommunikative Totalschäden, peinliche Sprech-Pannen, mit offenem Revers geführte Zickenkriege und absurde Störfälle, an denen auch ein fremder Mann Schuld ist, der wegen einer Autopanne bei Victor und Bettina angeklopft hat, und nun als fünftes Rad am Wagen das Paar-Gleichgewicht aus dem Lot bringt.

einteildergans 2 560 caspar urban weber uHeut' lad' ich - au weia - mir Gäste ein: Amin (Martin Butzke), Bettina (Anna Grisebach),
Victor (Simon Brusis) und Tara (Janet Rothe).  © Caspar Urban Weber

Auftritt: die Heckmanns-Spezialistin

Dass sieben Jahren nach der Uraufführung die Basler Regisseurin Simone Blattner die "Gans" neu auftischt, hebt die Hoffnungen auf ein Essen in der Liga Gault Millau. Denn die Heckmanns-Expertin hat schon einige Stücke des Erfolgsdramatikers Heckmanns gut angerichtet, zwei davon – die Uraufführungen von "Schiess doch, Kaufhaus!" und "Kränk" – gewannen den Publikumspreis bei den Mülheimer Theatertagen, "Zukunft für immer" wurde 2010 zu den Autorentheatertagen nach Berlin eingeladen.

Vielleicht, so hofft man, erlöst die "Gans" als Eröffnung der zweiten Saison des Direktorenteams Peter Kastenmüller / Peter Fiedler endlich das gebeutelte Zürcher Neumarkt-Theater, das wegen Besucherrückgangs und ernüchterter Kritiker seinen Ruf in der Zürcher Theaterszene zu verlieren droht. Denn das Neumarkt-Konzept, die Inszenierungen einer Saison zu mehreren Oberthemen zusammenzufassen und – begleitet von allerlei schriftlichen Theorie-Ergüssen – in das Korsett eines Einheitsbühnenbildes zu zwängen, hat bislang niemanden so recht überzeugt.

Schauspieler- und Sprachfest

Allen widrigen Umständen zum Trotz: Blattner wird der "Gans" nicht nur in Teilen gerecht, sondern ganz. So was Gutes hat man im Neumarkt-Theater lange nicht mehr gesehen. Das teilverspiegelte Einheitsbühnenbild mit Designerlampe und Ledersofa ist nebensächlich. Requisiten gibt's sowieso kaum – die würden nur ablenken vom Wesentlichen, der Sprache. Blattner packt Heckmanns beim Wort, lauscht in die Sollbruchstellen dieser Komödie hinein, sogar die klimatische Kälte des Abends, welche die durch Vorurteile und Ängsten unterkühlte Stimmung zwischen den Beteiligten noch verstärkt, dringt bei Blattner rein sprachlich vermittelt in die Wohnung ein – als bedrohliches Zischeln derjenigen, die im Warmen sitzen und vor dem offenen Fenster mit den Gliedern schlottern.

Die Zahl der Smalltalk-Programme, die Simon Brusis (Victor), Anna Grisebach (Bettina), Martin Butzke (Amin), Janet Rothe (Tara) und Maximilian Kraus (Max) in einer guten Stunde abspulen, ist beachtlich, wie Blattner diese subtil überlagert, ist es noch mehr. Hier sitzt keine Tischrunde, hier sind alle in Bewegung, wechseln innere und äussere Positionen und Haltungen im Sekundentakt. Da wird eine Boshaftigkeit liebevoll hingehaucht und im nächsten Moment eine Liebenswürdigkeit zur boshaften Stolperfalle. Jeder spielt hier mindestens zwei Rollen: Bettina – Hochsteckfrisur, weiße Sonntagsbluse (Kostüme: Sabin Fleck) – ist mit ihrer atemlosen Agitiertheit Furie und hilfloses Opfer in einem – und der Alptraum jedes Mannes.

einteildergans1 280 caspar urban weber uVegan und gefährlich: Maximilian Kraus
als ungebetener Gast, hinten als Bettina
Anna Grisebach  © Caspar Urban Weber
Ihr Lebenspartner Victor humpelt als willenloser Waschlappen zwischen seiner kontrollsüchtigen Freundin und den nicht ganz pflegeleichten Gästen hin und her. Allein sein flexibles Weltbild rettet ihn vor mancher Konfrontation. Während Hotelier Amin, selbstbewusster Geschäftsmann mit Solariumbräune im Gesicht, wahlweise den Lehrmeister, Kunstkritiker oder Macho gibt, ist seine grell geschminkte Frau Tara, die sich im späteren Abend als Escort-Dame entpuppen wird, die Wildkatze, die den Gastgeber mit obszönen Hüftschwüngen aus dem Konzept bringt, sich zu Tisch aber auf die Stimme der Vernunft beruft. Der ungebetene Gast Max bleibt ebenso ungreifbar. Zum Schluss zum Mörder geworden, plädiert er für eine vegane Lebensführung, und ist auch sonst der liebenswürdigste Charakter dieser Runde.

Was für ein Abend

Für die Neumarkt-Inszenierung hat Martin Heckmanns einen neuen Schluss geschrieben. Ihm ist dabei nicht derselbe Fehler unterlaufen wie Elfriede Jelinek, die Anfang des Jahres für das Schauspielhaus Zürich ihr Stück "Über Tiere" mit Besonderheiten des Zürcher Rotlichtmilieus (Sexboxen!) aktualisierte. Auch wenn "Ein Teil der Gans im Haus der Lüge" – Ibsens "Wildente" mag für den neuen Titelzusatz Pate gestanden haben – geradezu prädestiniert wäre, den helvetischen Dichtestress und die Überfremdungspanik nochmals aufzukochen, tut Heckmanns das höchstens subtil und mit der ihm eigenen Ironie. Neu ist ein längerer Abschnitt, in dem Amin nach Offenlegung seiner wahren Absichten in prophetischer Haltung mit Zitaten aus Hölderlins Patmos-Hymne um sich wirft. Hatte Amins Auftritt als Bürgerschreck bei Bettina und Victor in der ersten Fassung noch ein Quäntchen Verstörung provoziert, sehen sie in der neuen Fassung darin nur noch gutes Entertainment, das ihren langweiligen Mittelstandsfeierabend belebt. Oder wie es Bettina schön zusammenfasst: "Ach Gott, was für ein Abend!"

 

Ein Teil der Gans im Haus der Lüge
(Neubearbeitung von "Ein Teil der Gans")
von Martin Heckmanns
Regie: Simone Blattner, Bühne: Nadia Fistarol, Kostüme: Sabin Fleck, Dramaturgie: Inga Schonlau. Mit: Simon Brusis, Martin Butzke, Anna Grisebach, Maximilian Kraus, Janet Rothe.
Dauer: 1 Stunde, 15 Minuten, keine Pause

www.theaterneumarkt.ch

 

Mehr zu Simone Blattners Martin Heckmanns-Inszenierungen: Vor fünf Jahren inszenierte die Basler Regisseurin Zukunft für immer in Dresden.


Kritikenrundschau

Von einem "im Neumarkt überfälligen Ereignis" schreibt auch Claudio Steiger in der Neuen Zürcher Zeitung (online am 28.9.2014) und erzählt das Stück nach, um zu der abschließenden Wertung zu kommen: "In seiner berechneten Eskalation den Beziehungsstücken Yasmina Rezas nicht unähnlich, setzt der Abend trotzdem ganz eigene, abgründige Akzente."

"Das ist klassische und erstklassige Klipp-Klapp-Komödie, die freilich immer schneller und irrer rattert", schreibt Alexandra Kedves im Zürcher Tagesanzeiger (29.9.2014). Dass das "so locker vom Hocker daherkommt", sei  das Verdienst der Basler Regisseurin – "Simone Blattner hat ein Händchen fürs Leichtfüssige und Schwerhirnige." Mit diesem Abend sei das Theater Neumarkt zu Hochform aufgelaufen.

Kommentare  
Ein Teil der Gans, Zürich: wahnwitzig gespenstisch
Zu ergänzen wäre noch, dass der schweren Monolog am Ende schon deshalb eine andere Welt eröffnet, weil Martin Butzke ihn so wahnwitzig gespenstisch zu spielen vermag. Großartiger Abend!
Ein Teil der Gans, Zürich: Anregung
Vielleicht eine Anregung, dass in den Dramaturgien nicht ausschließlich die Stücke des Jahres gelesen werden, sondern auch Texte revidiert werden könnten, die in der UA-Inszenierung versaut wurden. Das gibt Credit-Points.
Ein Teil der Gans, Zürich: Hinweis
Siehe auch die ausführliche Kritik von Alexandra Kedves im Zürcher Tagesanzeiger:
http://www.tagesanzeiger.ch/kultur/theater/Haetten-Sie-den-reingelassen/story/22567433

(Lieber Rudi, die Kritik ist auch in die Kritikenrundschau zum Abend aufgenommen. Grüsse aus der Redaktion, Esther Slevogt)
Ein Teil der Gans, Zürich: na endlich!
Wurde auch Zeit nach den vielen kraftlosen Projekten am Neumarkt, endlich ein Abend mit Wumms! Und plötzlich sieht man, wie virtuos die Schauspieler des Hauses sein können. Weiter so!
Ein Teil der Gans, Zürich: Achtung!
Inzwischen ist die Inszenierung - aus dem Stand! - auf Platz vier der "nachtkritik charts" gelandet - toll! Schade, dass sich die bundesrepublikanische Presse überhaupt nicht dafür interessiert!

ACHTUNG, liebe Spielplanmacher an deutschsprachigen Theatern: Martin Heckmanns hat den Schluss des Stücks umgeschrieben. Sicher auch einer Gründe für den Erfolg in Zürich. Warum nicht an eine Nachinszenierung denken?
Kommentar schreiben