Mörder aus Versehn

von Charles Linsmayer

Solothurn, 2. November 2014. Gut, dass es, Irrtum vorbehalten, keine Familie Schiller mehr gibt, die eine Plagiatsklage gegen den holländischen Autor Ad de Bont erheben könnte. Verse wie die folgenden unterscheiden sich nämlich nur in Nuancen von den vergleichbaren in "Wilhelm Tell": "Durch diese dunkle Strasse muss er kommen, / Es führt kein andrer Weg zu seinem Haus. / Vollenden will ich’s, die Gelegenheit ist günstig." Nicht plagiatsverdächtig aber wären dann die anschliessenden Zeilen: "Hier befreie ich die Welt / von einem Ungeheuer, einem Schwein." Und zu Gunsten des Holländers spräche auch die Tatsache, dass statt des Apfels "eine blöde Apfelsine" vom Kopf des Knaben geschossen wird.

De Bonts Schiller-Bearbeitung, ein Auftragswerk der Schillertage Mannheim 2013, verpflanzt die Tellsgeschichte in den arabischen Frühling und heisst nach dem Kairoer Platz darum auch "Tahrir". Das Stück wurde in Mannheim genau zwei Wochen vor jenem 3. Juli 2013 uraufgeführt, an dem das Militär Mohammed Mursi absetzte und das vorläufige Ende des Frühlings einläutete. Nun zeigt es Katharina Rupp in Solothurn mit einem neuen Schluss, der im Februar 2014 spielt und Sätze enthält wie "Wir sind noch weit entfernt von unsrem Ziel" und "Gemeinsam mit den Toten säumen wir / den Weg, der irgendwann sein Ziel erreicht."

Der Held bringt's nicht mehr
"Tahrir" ist wie de Bonts 2009 ebenfalls in Solothurn aufgeführte "Odyssee" eine Mischung aus Prosa und Blankversen, unterscheidet sich von jener Produktion jedoch dadurch, dass die poetischen Verballhornungen diesmal nicht der ironisch-witzigen Evokation einer antiken Geschichte, sondern einer todernsten Angelegenheit gelten, die in de Bonts Deutung ganz offenbar keinerlei Humor oder Ironie verträgt. Wenn der Tyrannenmörder Omar statt des Tyrannen einen zufälligen Passanten erschiesst – "Ich wollte eine Heldentat vollbringen / Und wurde nur ein Mörder aus Versehn" – wird außerdem deutlich, dass im Zeitalter der Facebook-und Twitter-Revolution der klassische Held à la Wilhelm Tell ausgespielt hat.

tahrir1 560 iliamess uIm Auge der Revolution © Ilja Mess

Dass es Katharina Rupp gelingt, die problematische Vorlage erfolgreich und einigermassen überzeugend über die Runde zu bringen, hängt ganz wesentlich damit zusammen, dass sie sich einen Geschichtsstrang, den der Kairoer Familie Abdel Baset, konzentriert und die fünf Rollen mit Spielern besetzt hat, die den Blankversen alles Pathetische und damit einen guten Teil der unfreiwilligen Komik zu nehmen und zwischen individuellen Schicksalen und Verkündern von Ideen und Haltungen eine gute Balance einzuhalten vermögen. Gesangseinlagen sorgen für lokal-ägyptisches Flair, das dunkel gehaltene Bühnenbild reduziert den Tahrir-Platz auf eine kleine runde Arena.

Vom Polizist zum Revolutionär
Es wird viel gesprochen in diesem Lehrstück über eine gescheiterte Revolution, aber die verschiedenen Haltungen sind glaubwürdig auf die Protagonisten verteilt. Masha Karell spielt eine an Medea erinnernde Clan-Mutter, die sich um ihre Söhne sorgt, welche ganz verschieden auf die Unterdrückung des Mubarak-Regimes reagieren. Hazem, verkörpert von Josef Mohamed, ist Pazifist im Sinne Gandhis und glaubt an den gewaltlosen Widerstand: "Wir müssen mutig unsre Angst durchbrechen,/ Denn unsre Furcht ist ihre stärkste Waffe." Der von Robert Baranowski eindrücklich gespielte zweite Bruder, Omar, zieht einen Bürgerkrieg dem "Sklavenleben" vor und will wie Tell aktiv um die Freiheit kämpfen. Eine differenziertere Haltung nimmt die Tochter Israa ein, die von Atina Tabé mit schöner Leichtigkeit gespielt wird und als Frau eines Polizisten jeglicher Schwarzweissmalerei abhold ist. Jan-Philip Walter Heinzel, der auch dem brutalen Kommandanten zu imponierenden Auftritten verhilft, verkörpert diesen Polizisten, der von allen Figuren die deutlichste Wandlung durchmacht, indem er sich vom Anhänger des Regimes zum engagierten Revolutionär entwickelt.

Ob der mit Tablets und Smartphones ausgerüsteten ägyptischen Protestbewegung tatsächlich mit Schillerschen Blankversen beizukommen ist, beantwortet Katharina Rupps Solothurner Inszenierung nicht endgültig, zu diffus und gewöhnungsbedürftig ist das sprachliche Konglomerat, das die Mischung erzeugt. Was die Solothurner Inszenierung aber zeigt, ist die Tatsache, dass sich der Arabische Frühling von 2010/11 genauso für die Bühne adaptieren lässt wie die Ermordung Julius Cäsars, der Prozess gegen Jeanne d'Arc oder eben der Tyrannenmord von Wilhelm Tell. 

Tahrir
von Ad de Bont
Deutsch von Barbara Buri
Schweizer Erstaufführung
Inszenierung: Katharina Rupp, Bühne und Kostüme: Karin Fritz, Musik: Olivier Truan, Dramaturgie: Adrian Flückiger.
Mit: Masha Karell, Josef Mohamed, Robert Baranowski, Atina Tabé, Jan-Philip Walter Heinzel.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.tobs.ch

                                                                                                  

Kritikenrundschau

De Bonts "Tahrir"-Drama "ist kein Meisterwerk; zu angestrengt muss er Schillers Vorlage ins moderne Ägypten hinüberstemmen, zu krampfhaft die Sagenmotive der aktuellen Zeitgeschichte aufpfropfen", findet Andreas Klaeui in der Neuen Zürcher Zeitung (4.11.2014) Mit ihrer "spannungsvollen, lebendigen, durchaus auch humorvollen, aber nie auftrumpfenden Regie" habe Rupp dem Text einen großen Dienst erwiesen. "Mit solcher Zurückhaltung kann sie den hochfahrenden (um nicht zu sagen pompösen) Passagen des Texts die Spitze brechen, ohne gleichwohl die Konflikte zu verkleinern. Sie bleiben unaufgelöst, und das Solothurner Ensemble führt sie uns sehr direkt vor Augen, mit packender Unmittelbarkeit."

In der Argauer Zeitung (4.11.2014) schreibt Angelica Schorre: "Die Zitate aus 'Wilhelm Tell', die Sprache Schillers in ihrer Rhythmik und Metrik, werden in 'Tahrir' bewundernswert unpathetisch und beinahe unauffällig eingesetzt, spannen den Bogen zwischen
Apfel- und Orangenschuss, von Tyrannenmord und gescheitertem Mordversuch." Sie lobt "das schnörkellose, intensive Spiel des Ensembles" und schließt: "Die Realität ist zweieinhalb Flugstunden entfernt."

Angetan ist auch Simone Tanner im Bieler Tagblatt (4.11.2014): De Bont gebe der Revolution ein Gesicht. "Die Verquickung der Blankverse mit der Sprache der Facebook-Generation gelingt in Rupps Inszenierung, zumal die Schauspieler nicht in Pathos verfallen und das spartanisch eingerichtete Bühnenbild dem gehobenen Sprachstil einen klaren Kontrapunkt entgegensetzt."

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