Kein Land in Sicht!

von Verena Großkreutz

Stuttgart, 13. November 2014. Sie machen lange Gesichter, schauen melancholisch aus den eng zusammenstehenden Knopfaugen, unter denen übergroße Nasen prangen: Diese Masken sind Markenzeichen der "Familie Flöz". Die internationale Theatergruppe, die 1996 von Hajo Schüler und Michael Vogel gegründet wurde und in Berlin ansässig ist, ist als Pantomimen- und Maskentheater groß geworden – mit skurrilem, bisweilen rabenschwarzem Humor. Fast immer laufen ihre Stücke, ob sie nun "Ristorante Immortale", "Infinita" oder "Hotel Paradiso" heißen, non-verbal ab. Weswegen Familie Flöz mit jeder ihrer Produktionen im Grunde genommen jahrelang durch die Welt ziehen kann. So ist sie zu internationalem Ruhm gelangt.

Eines ihrer Stammspielhäuser ist das Stuttgarter Theaterhaus am Pragsattel. Hier hatte jetzt die neueste, sechste Produktion der Truppe Uraufführung. "Haydi!" heißt sie, was anklingen will an Johanna Spyris Bergromantikprosa "Heidi", gleichzeitig aber auch ein türkisches Wort ist für "Ei, der Daus" oder "Los, los, nur zu". Und überhaupt hat sich die Familie Flöz in ihrem neuesten Stück ein großes Thema vorgenommen: die Flüchtlingsproblematik!

haydi2 560 gianni betucci uFlüchtlingspuppen-Schicksal am Grenzzaun: mit Björn Leese, Hajo Schüler
(hinter der Puppe) und Andrés Angulo © Gianni Betucci

Tatsächlich trägt das diesmal dreiköpfige Flöz-Ensemble für "Haydi!" keine Masken. Zu Beginn zwei Grenzbeamte, die rumblödeln à la Laurel und Hardy: Finger-Wegzaubern oder Eiche im Sturm spielen. Kicherkicher. Flacher Slapstick, 10 Minuten lang. Dann, Achtung, jetzt wird's politisch: Ein Kind mit Rucksack – eine Puppe mit bekannt Flöz-melancholischem Gesicht, von drei Spielern geführt – liegt auf dem Bühnenboden, erschöpft, sendet einen müden Blick in die Menge, dann fährt seine Seele gen Himmel. Dazu melancholische Musik. Dann Schnitt.

Ein Video-Film im Hintergrund erzählt die dazugehörige Story im Rückblick: Die verstorbene Kindspuppe jetzt mit Eltern und müdem Opa auf karger, einsamer Berghütte. Flöz-Maskenträger inmitten einer animierten, nonverbalen Graphic Novel: Nichts zu essen, Eltern gehen los, in eine ungewisse Zukunft. Überwinden Berge ins Nirgendwo. Das Mädel muss bei Opa bleiben. Opa stirbt aber. So geht auch das Mädel los. Hämmert erschöpft gegen verschlossene Eisentüren. Stirbt vor den Stacheldrahtzäunen. Wird entsorgt. Zurück bleibt auf hartem Beton ihr roter Schal, den ein empfindsamer Mitarbeiter der Grenzpolizei aufsammelt und in einen Aktenordner heftet. Die blasse Geschichte wird langatmig in Brocken erzählt und mit melancholischer Musik unterlegt. (Diese eigentlich fantastisch doppelbödige Begräbniskapellen-Musik der Osttiroler Musicbanda Franui, die viel Mahler und Schubert verarbeitet, wird leider in den sentimentalen Abgrund mitgerissen.)

Plattester Beamtenwitz

Die real-theatrale Aktion dazwischen spielt in Büroräumen, die durch Geräuschkulissen – ohrenbetäubender Hubschraubereinsatz, gewaltige Schnee- oder Regenstürme – in die militärische Einöde einer hoffnungslos verriegelten Grenzstation verortet werden. Das gelingt durchaus eindrücklich, doch sobald der Sturm vorbei ist, herrscht plattester Beamtenwitz: Niemand arbeitet. Die Akte – rotes Halstuch als roter Faden – wird hin- und hergeschoben, bis sie im Schredder landet.

haydi1 560 gianni betucci uAmtsschimmel an der Grenzstation: mit Hajo Schüler und Björn Leese © Gianni Betucci

Die französische Bürostute (Andrés Angulo) interessiert sich vor allem für die Weihnachtsglitzergirlande. Der buchstabenmäßig für die Akte Zuständige (Hajo Schüler) hat nicht nur mit einem gediegenen Party-Kater zu kämpfen. Der unvermeidliche Bürotrottel (Björn Leese) kommuniziert am direktesten mit der nicht ganz mundfaulen Kopiermaschine. Der in der Hierarchie fast ganz oben Stehende (Schüler) bewundert erwartungsgemäß am meisten sein eigenes Konterfei mit Anglertrophäe. Nur besagten empfindsamen Beamten (Angulo) berührt das Schicksal des toten Mädchens. Er streitet mit den Kollegen, legt weiße Blumen an die Stelle, wo sie starb, hat Albträume und verwandelt sich am Ende selbst in sie. Die Puppe wird lebendig – Finale. Familie Flöz ganz maskenlos und sehr verbal: Witzig, dass jeder und jede im Büro eine andere Sprache spricht: Französisch, Holländisch, Deutsch, Schwizerdütsch, Dänisch.

Alles gut und schön. Bloß: der überbordende, aber vorhersehbare Slapstick, der die Bürosphäre prägt, mordet alle Ernsthaftigkeit. Und die sentimental erzählte Flüchtlingsgeschichte verkümmert zum Intermezzo. Grenz-Büro und Flüchtlingsrealität bleiben zwei völlig disparate Ebenen. Als sei das eine auf das andere nachträglich draufgepfropft worden. Familie Flöz traut sich nicht, beides zusammenzubringen. Aber welch tragikomisches, groteskes Potenzial lauert im Zusammentreffen dieser beiden Sphären?


Haydi!
von Familie Flöz
Uraufführung
Regie: Michael Vogel, Dramaturgie: Michael Moritz, Musik: Franui, Sounddesign: Dirk Schröder, Lichtgestaltung/Video: Reinhard Hubert, Kostüme: Ottavia Trama, Bühnenbild: Markus Johannes Nikolaus Trapp, Animation: Andreas Dihm, Masken/Puppen: Hajo Schüler, Frisuren/ Bärte: Franziska Becker.
Mit: Andrés Angulo, Björn Leese, Hajo Schüler.
Dauer: 1 Stunde, 30 Minuten, keine Pause

www.floez.net
www.theaterhaus.de



Kritikenrundschau

Familie Flöz habe "ein modernes Märchen" geschaffen, schreibt Adrienne Braun in der Stuttgarter Zeitung (15.11.2014), "eine Migrationsgeschichte, die die verschiedenen Welten drastisch kontrastiert: hier die saturierten Amtsschimmel, die sich gegenseitig das Leben zur Hölle machen, dort die von Armut gezeichneten Menschen, deren Leben die wahre Hölle ist." Dabei brilliere die Gruppe vor allem durch ihr gewohnt "clowneskes Spiel" und eine "fast archaische Komik"; "Schau- und Figurenspiel vermischen sich raffiniert mit Zeichentrick, dramatischer Sound schafft Atmosphäre." Dennoch "ließe sich aus diesen innovativen Ansätzen mehr herausholen. Neben dramaturgischen Unschärfen" setze der Abend "auf pathetische, arg zugespitzte Szenen".

"In einem gnadenlosen Spiel" führe Familie Flöz "ihre Sicht auf eine geteilte Menschheit vor: Hier die Besitzstandswahrer, dort die Heimatlosen", schreibt Susanne Benda in den Stuttgarter Nachrichten (15.11.2014). "Menschen der reichen Welt, so die Botschaft des Stücks, verbringen ihre Lebenszeit mit inszenierter Langeweile oder damit, sich Hierarchien unterzuordnen oder auf der Karriereleiter nach oben zu schleimen. Not, wirkliche Not ist bei den anderen." Mit ihrem Stück würde die "Ausnahmetruppe" Familie Flöz "die Herzen der Zuschauer im Sturm erobern".

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