Der große Aufsauger

von Matthias Weigel

Berlin, 29. November 2014. Habe ich geschlafen? War ich wirklich im Theater? War überhaupt irgendwas? Dieser "Baal" am Deutschen Theater in der Regie von Stefan Pucher irritiert auf sehr besondere Weise: in zwei endlosen Stunden wird da ein einziges Vakuum erschaffen, dass man sich über die Leere nur wundert.

Wie konnte das geschehen? Bertolt Brechts x-mal umgeschriebene Gegenposition zum Expressionismus handelt vom großen Fressen, Ficken und Morden des Dichters Baal – in verschiedensten Variationen. Könnte also eine sinnliche Angelegenheit werden, möchte man meinen. Aber man kann auch Positionswechseltheater mit Joker-Grinse-Schminke und einer umständlichen Dreh-Kanzel-Brücken-Konstruktion auf der Bühne daraus zaubern. Ja, man kann sogar Baal gelegentlich an einen Esstisch setzen und einen Schluck aus einer Flasche Wein nehmen lassen. Das wäre dann nur noch zu toppen, indem Baal die zweite Hälfte im Gorilla-Kostüm spielt – dieses Tier, das alte!baal1 560 arnodeclair h"Baal" im Deutschen Theater: Tabea Bettin, Anita Vulesica, Christoph Franken
© Arno Declair

Haltungslos auf totem Gaul

Das alles geschieht in kalter Künstlichkeit und Distanz auf allen Ebenen. Grelle, clowneske Kostüme, Kulissenrumgeschiebe, Text ins Publikum, Live-Musik. Ein paar Videos, die Kollegen wollen ja beschäftigt werden. Ansonsten heißt die Devise: Rauf auf den toten Gaul und reiten, reiten, reiten!

Dass Baal reihenweise Frauen manipuliert, ausspannt und flachlegt, passiert hier halt so. Da muss auch keine Position zu so einem Stück eingenommen werden. Einmal, das ist dann wohl krass gemeint, darf Christoph Frankens Baal auch blank ziehen und seinem früheren Gönner den Allerwertesten hinhalten, während er ein Gedichtchen trällert. Doch auch diese Szene wird sofort vom vernichtenden Vakuum verschluckt, das weder Inhalt, ästhetische Setzung, Spiel oder Bilder übrig lässt.

Leider kann an dieser Stelle nicht mal der beliebte Service erbracht werden, aus dem Programmheft das Inszenierungskonzept wiederzugeben: Vakuum! Vielleicht war es das: Baal, das Monster-Ego, der große Aufsauger – er bringt sogar ganze Theaterabende zum Verschwinden.

 

Baal
von Bertolt Brecht
Regie: Stefan Pucher, Bühne: Barbara Ehnes, Kostüme: Annabelle Witt, Musik: Christopher Uhe, Video: Chris Kondek, Phillip Hohenwarter, Dramaturgie: Claus Caesar.
Mit: Christoph Franken, Anita Vulesica, Daniel Hoevels, Tabea Bettin, Felix Knopp, Michael Mühlhaus.
Dauer: 1 Stunde, 50 Minuten, keine Pause

www.deutschestheater.de

 

Mehr: War die letzte Stefan-Pucher-Inszenierung auch schon so? Charles Manson: Summer of Hate im September diesen Jahres am Thalia Theater Hamburg besprach Jens Fischer. Und wie war es zuletzt am Deutschen Theater? Wir besprachen Die Frau vom Meer, inszeniert von Stephan Kimmig, und besprachen Woyzeck, inszeniert von Sebastian Hartmann.   

 

Kritikenrundschau

In der Süddeutschen Zeitung (1.12.2014) schreibt Mounia Meiborg, Pucher mache Baal  zum Regisseur im eigenen Stück – "und nutzt den Anlass, um über die Künstlichkeit des Theaters nachzudenken". Pucher fahre einiges auf, was die Theatergeschichte zu bieten habe: "Commedia dell’Arte, Pariser Vaudeville, Cabaret, dazu in den Videobildern von Chris Kondek expressionistischen Stummfilm und ein bisschen Splatter." Doch Christoph Frankens Baal bleibe harmlos, und wenn er stirbt, habe man das Gefühl, dass es hier gar nicht um ihn gehe. "Sondern um eine Theater-Show, die sich selbst genug ist."

Die Inszenierung widerstehe der Versuchung des expressionistischen Überagierens, schreibt Katrin Bettina Müller in der taz (1.12.2014). "Ihre Stilisierungen sind viel kälter und zeitgemäßer." "Brechts Baal ist ein Popstar avant la lettre, der das Böse begeht, weil das ihm huldigende Publikum es ihm so leicht macht. Sie begehren das Genie, für das andere Gesetze gelten, und also gibt er es." Die Inszenierung sei weniger auf einen historischen Horizont zugeschnitten, sondern versuche das Drama des Künstlers, der sich vergeblich seine eigenen Maßstäbe suchen will und letztendlich daran zugrunde geht, zu verallgemeinern.

Rüdiger Schaper schreibt im Tagesspiegel (1.12.2014), dieser Baal habe seine wilde Zeit längst hinter sich, kenne nur noch Posen. "Jeder hergelaufene Rapper haut mehr Ekel, Wut und Menschenverachtendes raus als Baal, Berlin, im Dezember 2014." In den besten Momenten käme ein "Lulu"-Gefühl (Wedekind) auf, doch der Abend tue insgesamt nicht weh. "Aber es tut weh, ein Stück wie 'Baal' in historische Ferne gerückt zu sehen. Weit weg."

"Endlich mal ein angemessen hässlicher Baal", beginnt Harald Jähner in der Berliner Zeitung (1.12.2014) seine Kritik, habe Brecht Baal doch auch als einen "aufgedunsenen Kosmos" beschrieben – vom nackten Christoph Franken zeigt sich Jähner ausführlich schockiert. Wer die Geschichte nicht kenne, habe von der Inszenierung nicht viel, "die skandalträchtige Story von der ruchlosen Gier ist komplett dekonstruiert". Wenn sich Baal am Ende vom Tier(kostüm) in "einen von uns" im schwarzen Dreiteiler verwandle, sei es eine ästhetische Versöhnung – "und noch der gelungenste Teil des Abends".

"In seiner Inszenierung lasse Stefan Pucher diesen Baal als asozialen Nachwuchskünstler auf der Suche nach immer neuen Inspirationen vor allem brüllen, bis der Schweiß aus jeder Pore bricht", schreibt Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (3.12.2014), als wolle man ihm einen fetten Regie-Strich durch die schwerenöterische Genie-Rechnung machen. Und der "Schauspieler Christoph Franken schenkt sich nichts – und uns leider auch nicht". Für Baals Poesie und Präpotenz habe er nur einen einzigen Ton zur Verfügung, klingt stets gereizt, angespannt, gepresst. Der matte Gag am Ende scheine auch nur purer Regie-Verlegenheit zu entspringen, "wie überhaupt die gesamte Inszenierung: zu wenig für 'Baal', für Brecht – und für einen Pucher eigentlich auch".

 

Kommentare  
Baal, DT Berlin: schwarzes Loch
Großartig wie virtuos Christoph Franken mit dem Brecht-Text umgeht, - eindrucksvolle Leistung. Aber ansonsten scheint es als würde diese Inszenierung von einem schwarzen Loch angezogen und auch darin zu verschwinden. Da kann ich Matthias Weigel nur zustimmen. Ein Theaterabend wird von einem schwarzen Loch angezogen und verschwindet darin. Und wäre da nicht Christoph Franken hätte ich am liebsten die Kammerspiele schon nach einer Viertelstunde verlassen. Schon da setzten Fluchtgedanken und Absetzbewegungen ein. Vielleicht ist der Brecht-Text doch zu sperrig, gab es doch am DT bereits vor Jahren schon mal eine Inszenierung (von Christoph Mehler) mit einem ebenfalls beeindruckenden Hauptdarsteller (Mirco Kreibich, heute am Thalia und gerade mit "Romeo und Julia" bei 3SAT zu sehen gewesen) - aber auch damals war das Ziel der Inszenierung nicht ganz klar, das Umf eld schwach ins Bild gerückt. Aber damals immer doch ein Theaterabend, der keine Fluchtgedanken auslöste.
Baal, Berlin: Zerrissener Abend ohne Handschrift
Das war dann doch die schlechteste Brliner Inszenierung des Jahres. Man geht nicht. Ich gehe nicht, weil ich Respekt vor den Schauspielern habe. Doch ich hätte es am liebsten getan. Schade um Franken. Ich hätte ihm eine gfoße Rolle und einen bleibenden Auftritt gewünscht. Doch nicht diese Peinlichkeit. Nein, man muss nicht jeden Jungschauspieler nackt sehen. Das ging dann wirklich sehr daneben. Dennoch bleibt zumindest an dieser Stelle Respekt.
Nicht aber vor dem Regisseur, ein langweiliger, zerrissener Abend ohne Handschrift. Wenn wenigstens eine Lüsternheit oder ein Weltekel beschworen würde. Nein hier passiert nichts, was bleibt. Warum hat Pucher sich an dieses Stück gewagt? Was wollte er?
Das alles passt leider zur Dürftigkeit am DT und zur Theaterlosigkeit dieser Stadt. Einziges Theaterflimmern kommt noch vom Gorki und aus der Volksbühne. Der Rest bleit Schweigen. Und das hat wohl auch schon das BE verstanden. Gähnende Langeweile auf den Bühnen. Shit!
Baal, Berlin: Da muss niemand Angst haben
Wer miterleben durfte, wie das Energiebündel Mirco Kreibich am selben Ort im Frühjahr 2009 über die Bühne sprang, hüpfte und tobte, als Baal an seine Grenzen ging, der wird enttäuscht sein von diesem müden Einerlei, das Christoph Franken in der Titelrolle und seine vier Kollegen fünf Jahre später in den Kammerspielen des Deutschen Theaters anbieten.

Wer die Chance hatte, Rainer Werner Fassbinder in einer seiner ersten Kinorollen in einer Schlöndorff-Verfilmung, die nach langem Rechtsstreit restauriert und in diesem Jahr auf der Berlinale wiederaufgeführt wurde, als schwer erträgliches, narzisstisches Ekel und als kettenrauchenden, menschenverschlingenden Baal zu erleben, der wird sich die Augen reiben, wie handzahm Christoph Franken in seinem Comedia dell´Arte -Kostüm daherkommt. Der Tenor der Feuilleton-Rezensionen ist einhellig: Vor diesem Baal muss niemand Angst haben.

Nach der bei der Kritik einhellig durchgefallenen "Die Frau vom Meer"-Premiere von Stefan Kimmig konnte auch diese Inszenierung nicht überzeugen.

Kompletter Text: http://e-politik.de/kulturblog/archives/1676-christoph-franken-kann-sich-als-baal-nicht-mit-mirco-kreibich-und-rainer-werner-fassbinder-messen.html
Baal, DT Berlin: richtig toll
Ich fand's toll!!! Aber richtig toll!
Baal, DT Berlin: nicht toll
Ich fand's nicht toll. Aber so was von richtig nicht toll.
Baal, Berlin: Abscheu, nicht Angst
@ e-politik: Vor Baal hat ja auch niemand Angst, und das lag auch nicht in der Absicht Brechts, sondern vielmehr ABSCHEU, EKEL.
Baal, Berlin: Baal als Ekelpaket
Manchmal ärgert man sich über seine Pauschalurteile, schnell geschrieben. Je weiter der Abend entrückt, um so mehr sehe ich auch seine positiven Seiten.
Muss Baal nicht so ein Ekel sein, kann er nicht so auftreten, so sein, wie ihn Christoph Franken zeichnet?
Wenn ich anfange über diesen Abend intensiv nachzudenken, muss ich dieses Urteil "schlechteste Inszenierung" zurücknehmen. Entschuldigung.
Baal, Berlin: Künstleregos?
"Brechts Baal ist ein Popstar avant la lettre, der das Böse begeht, weil das ihm huldigende Publikum es ihm so leicht macht. Sie begehren das Genie, für das andere Gesetze gelten, und also gibt er es." Geniekult ist out. Und warum sollten für so jemanden andere Gesetze gelten? Künstler-Egos sind nicht besser oder mehr Wert als ich und du. Entschuldigung, liebe Redaktion, ich kann mich nicht zurückhalten bei sowas.
Baal, Berlin: das Nichts inszeniert
Natürlich ist die Ebene des Theatralischen, des Spiels, des Voyeurismus auch des Publikums bei Brecht vorhanden, wie das Programmheft mit einiger Penetranz klar zu machen versucht. Bei Pucher ist sie alles, was übrig bleibt. Der Materialeinsatz ist hoch, die Virtuosität der Rollenwechsel durchaus beeindruckend, und doch lässt das alles vollkommen kalt. Weil es nichts zu sagen hat. Selbst die Mittäterschaft des sensationsgeilen Gaffers – also des Publikums – die Pucher auf recht plakative Weise thematisiert, wird wegpoliert, wir dürfen uns einigermaßen unberührt zurücklehnen und auf das ende dieser langen knapp zwei Stunden warten. Pucher hat alles, was an Menschheitsanklage und vernichtende Gesellschaftsanalyse gemahnen könnte, gestrichen und kann nicht verbergen, dass das, was übrig bleibt, nicht mehr ist als eine bunte Hülle ohne jeden Kern. Vielleicht hätte Samuel Beckett, der Clownsversteher und Sucher nach der dramatischen Leere, seine Freude an diesem Abend gehabt. Denn eines ist Stefan Pucher gelungen: das Nichts zu inszenieren. Glückwunsch.

Komplette Kritik: https://stagescreen.wordpress.com/2015/01/20/dirigent-des-nichts/
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