Hi-ho-he – Volksbühne!

von Nikolaus Merck

Berlin, 4. Dezember 2014. Was hätte man alles an diesem Geburtstag anfangen können. Erwin Piscator, Bert Brecht und Benno Besson hätten aus ihren Gräbern aufstehen und ein fetziges Rundtischgespräch über ein Episches Theater für das miese Volk hinlegen können, inszeniert von Frank Castorf und René Pollesch. Hans Albers hätte als Liliom von der Schaukel gesungen, darüber brummte der Spielzeughubschrauber, Henry Hübchen tanzte sein Kartoffelsalat-Ballett, Herbert Fritsch wäre mit der Boa Constrictor über die Bühne geflogen. Wir hätten auch im aufgelassenen Narva-Glühbirnen-Werk alle zusammen "Die Ausnahme und die Regel" probieren können, angeleitet von Benno Besson und Christoph Schlingensief mit einem Megaphon oder einfach die Bilder der vielen großen Toten betrachten und dazu mit Christoph Marthaler und dem Murx-Ensemble "Danke" singen können. Heiner Müller hätte an der Zigarre gezogen, und es wäre gut gewesen.

Stattdessen gab, wie zu erwarten, Jürgen Kuttner den Dampfplauderer. Vorher hatte der Chor der Werktätigen sehr witzig die deutsche, vom Vorabend des Atomkriegs handelnde Version von Barry McGuires "Eve of destruction" (1965) intoniert, auch eine vorsätzlich mies playbackisierte Deutsch-Version des "Sound of Silence" wurde zu Gehör gebracht. Das ging noch gut. Das Timing stimmte, die Sprüch' vom Kuttner zündeten und ein leibhaftiger Volvo töffelte über die Bühne. Danach jedoch begann eine Art animierter Videoschnipselabend zur Demonstration der hauseigenen Mittel.

ach du obermieses1 560 thomas aurin hKuttner (im Schatten) beschwört einen Geist © Thomas Aurin

Jürgen Kuttner ist knorke, solange er sich selbst in homöopathischen Dosen darbietet. Ein Regietitan ist er nicht. Kritisieren lässt sich sein Inszenieren trotzdem nicht, weil die Kritik eh an der Volksbühne schon immer vorweggenommen wird. Zu lang? He he he, darin besteht ja eben die Herausforderung. Zu unkonzentriert? Ho ho ho, wegknacken gehört bei uns doch dazu. Langweilig, nix Neues? Hi hi hi, da ham Se wohl nich' richtig hingesehen.
Gut.

Video- und andere Schnipsel
Also lernten wir, dass in der Volksbühne von je her zwei Linien miteinander gekämpft haben, die sozialdemokratische Volksbildung – Goethe für alle bei billigem Eintritt –, und die revolutionäre Fraktion personifiziert in der Linie Erwin Piscator (1924 bis 1927), Benno Besson (1969 bis 1977) und Frank Castorf (1992 bis in alle Ewigkeit), kurz PBC. Die Mittel der Castorf-Zeit demonstriert der Abend: Singen (Chor der Werktätigen), filmen (obwohl's das schon vor 90 Jahren gab und wir urst stolz drauf sind): Hier sind's unter anderem (s.u.) Videoschnipsel vom Kuttner, darunter eine japanische Sendung mit der Maus, die Volksbühne auf Japanisch buchstabiert und ein Ausschnitt einer Peking Oper der Mao Witwe Jiang Qing namens "Die List besiegt die Bataillone des weißen Tigers", ein Martial-Art-Kill-Bill-Kunststück avant lettre. Hohe Kunst kracht in Schwachsinn, wobei die historischen Ebenen miteinander verquirlt werden: Sophie Rois trägt Heiner Müllers letztes Werk "Mommsens Block" in kleinem Schwarzen vor, beständig unterbrochen vom 1972er Volksbühnen-Nachtportier Willi Sasoleit, der sich über späte Gäste in der Kantine beklagt, wegen denen er die Vopo habe rufen ..., aber bevor noch die Vopo ..., seien die Ruhestörer, nachdem er dreimal vom Genossen Karge niedergeschlagen... entwichen (nachzulesen unter "1972 – Brot und Spiele") sowie die Montage von Attraktion und Schrecken: Maximilian Brauer als Nazi-Volksbühnen-Intendant Eugen Klöpfer schwadroniert munter drauf los – "33 Minuten nach meiner Geburt habe ich die Geburt Christi nachgestellt" – und endet mit dem Hinweis, er käme gerade aus der Garderobe, in der sich 1941 der Schauspieler Joachim Gottschalk und seine Frau das Leben genommen hätten. Ein zweites Mal bleiben uns Lachen und Frohsinn im Hals drin stecken, wenn die fabelhafte Puppenmutter Suse Wächter ihre knuffige Hitler-Puppe Herbert Grönemeyer knödeln lässt. Hitler sympathisch? Muss man vielleicht nochmal drüber nachdenken.

Wie Prometheus zu Castorf geführt hat
Es sind diese Momente, in denen wir Zuschauer, die wir an diesem Abend als das Volk (aus Volks-bühne) agieren, in unserer Verführbarkeit uns selbst vor Augen geführt werden. Ansonsten sprechen wir als Chor gemeinsam mit Margarita Breitkreiz Heiner Müllers "Herzstück", werfen mit Schaumgummi-Ziegelsteinen und erfahren zuletzt am eigenen Leib, wie an der Volksbühne die Live-Videos hergestellt werden; indem unter Mithilfe der halben Zuschauerschaft in Windeseile auf der Bühne ein Film produziert wird, der eine Teleologie von Prometheus bis Frank Castorf ausbuchstabiert. Sehr nett.

Der Phantomschmerz an diesem Abend ist gewaltig. Am gewaltigsten wird er in dem Moment, in dem Henry Hübchen per Video in eine musikalische Nichtigkeit eingespielt wird. Da fallen einem die drei überlebenden Beatles ein, die 1995 den ermordeten John Lennon in ihr "Free as a bird" einmontierten. Man kann nur hoffen, dass die Geburtstagsfeier zum 50. Jahr von Frank Castorfs Intendanz in 2042 besser gelingen wird.

 

Ach, Volk, du obermieses
Eine Revue am Bülow-Wessel-Luxemburg-Platz
von Jürgen Kuttner und André Meier
Regie: Jürgen Kuttner, Konzeptionelle Mitarbeit: André Meier, Bühne: Nina Peller, Kostüme: Nina von Mechow, Licht: Johannes Zotz, Video: David Tschöpe, Dramaturgie: Sabine Zielke, André Meier.
Mit: Maximilian Brauer, Margarita Breitkreiz, Ursula Karusseit, Jürgen Kuttner, Hans-Jochen Menzel, Silvia Rieger, Sophie Rois, Mex Schlüpfer, Suse Wächter, Harald Warmbrunn, Chor der Werktätigen, Michael Letz und Band EMMA.
Dauer: circa 3 Stunden, je nachdem wie lange Jürgen Kuttner extemporiert

www.volksbuehne-berlin.de

 

In der Volksbühne waren wir in nachtkritischer Mission zuletzt zu Frank Castorfs Curzio Malaparte-Ausdehnung Kaputt, Christoph Marthalers Tessa Blomstedt gibt nicht auf und René Polleschs House for Sale.

 

Kritikenrundschau

"Es herrscht ein selbstironisch bissiger Ton an diesem launigen Abend." Man schont niemanden, am wenigsten sich selbst, schreibt Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (6.12.2014) über den "lässig intelligenten Anspielungsreigen auf das Nichttheatern und die Tücken und Fallen der Geschichtsschreibung". Weshalb aber das "K-Wort" für "Krise" und "Kartoffelsalat" etwas zu oft falle.

Suse Wächters Puppen: Max Reinhardt, Bertolt Brecht, Marilyn Monroe, Juri Gagarin, Adolf Hitler, "das sind schon prominente Gratulanten an einem Abend, der sich im typischen Volksbühnen-Tempo drei Stunden hinschleppt, um ebenso Volksbühnen-hinterhältig Attacken zu reiten", schreibt Rüdiger Schaper im Tagesspiegel (6.12.2014). Das schafft Kuttner allerdings mit seiner Berliner Klappe: "Es ist lustig, wenn es nicht langweilig ist." Es mache jedenfalls den Eingeweihten Spaß, wie er aus der jüngeren Volksbühnen-Geschichte die Verbindung von Kartoffelsalat und Krise herstellt, beides sehr haltbar.

Der Moderator Kuttner kommt in Rage und "von 'Volksbühne' auf 'Volksempfänger' und das Volks-Tablet der 'Bild'-Zeitung, was alles nicht besonders originell ist, aber doch kritisch reflektiert wirkt", so Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (6.12.2014). Derlei schätze man hier in der schon seit 1992 währenden Intendanz Frank Castorfs. Was auf den legendären Brettern freilich wirklich möglich sein kann, mache dann die großartige Sophie Rois im kleinen Schwarzen vor, die glasklar das Langgedicht "Mommsens Block" von Heiner Müller spricht. "Und plötzlich bekommt der überlange Abend seine Wahrheit und Pflicht: Die Kunst – und nicht der Ramsch dem Volke!"

Wehmütig wurde Katrin Bettina Müller von der taz (10.12.2014) zumute angesichts der diversen Feierlichkeiten zum 100. Jubiläum der Volksbühne. Und so auch in der Kuttner-Revue. Die besitze "viele schöne Episoden", erinnere aber auch daran, dass das was "mal widerspenstiges Potenzial" hatte, Castorfs Aufbruch 1992 etwa, als aus der "Ostsozialisation Kapital geschlagen wurde für einen kritischen Blick auf die tarnenden Kompromisse der Gegenwart", inzwischen "längst erstarrt" sei. Gesamteinschätzung: "Der Blick auf 100 Jahre Volksbühne hätte wahrlich andere Erkenntnisse zugelassen, als Castorf als den tragischen Vollender einer Epoche zu beschreiben."

Kommentare  
Ach, Volk..., Berlin: Lob des Kritikers
Und der Haifisch, hat keine Zähne.
Er sitzt im Theater und sieht auch nix mehr.
Ach bitte mach, daß ich nicht mehr gähne
wenn ich nächstens wieder ins Theater muss.

Doch es gibt zu meinemm Glücke
wenigstens noch Kritiker wie den Merck.
Der erschafft sogar aus 'ner Theatermücke
noch ein feines Kritikerwerk.
Ach, Volk..., Berlin: klingt wunderbar
[...]
'Hohe Kunst kracht in Schwachsinn'

Aber das ist doch wunderbar, lieber Nikolaus!
Genau so sollte es sein.
[...]
'Hitler sympathisch? Muss man vielleicht nochmal drüber nachdenken.'

Hm...das war den Mutterkreuzträgerinnen von DAMALS doch aber auch egal.
'Führer, ich will ein Rind von Dir'

Damit sollte man sich eben auch auseinandersetzen dürfen, dass es leiderleider diese unsägliche 'Sympathie' mal gegeben hat.
Sich heute hinstellen und so tun, als hätte man als VOLK damit nie etwas zu tun gehabt, das ist doch in Wahrheit widerlich!

Ich schaue mir das Spektakel dennoch morgen an.
Ach, Volk ..., Berlin: gemein
Precht, lass das Dichten sein,
es klingt so gemein....
Ach, Volk ..., Berlin: erstmal schreiben lernen
Erst mal richtig schreiben lernen. Und Englisch vom Deutschen unterscheiden. "In 2042", das ist englisch, "im Jahre 2042" - das ist Deutsch. Egal, was die Dampfschreiber in all den Blogs auch schreiben. Wer nicht schreiben kann, sollte es entweder lernen oder lassen
Ach, Volk ..., Berlin: Schreibverbot?
Ich persönlich habe nichts gegen richtiges Deutsch, nicht einmal etwas gegen schönes, aber ich habe etwas gegen Menschen (es sei denn, sie hießen Karl Kraus), die einen einzigen Fehler aufspießen und daraus Schreibverbote ableiten wollen, andere Qualitäten eines Textes dabei nicht zur Kenntnis nehmend. Macht die Verwendung des Anglizismus "in 1942" die Rezension von Nikolaus Merck zu einem Text, der besser nicht hätte geschrieben werden sollen? Das ist ein ganz und gar unsinniger Gedanke! Sehr geehrte(r) Hoka, ich weiß nicht ob man denken lernen kann, aber wenn man nicht denken möchte, dann sollte man es mit dem Schreiben vielleicht auch besser lassen.
Ach, Volk ..., Berlin: nochmal über Sprache
Sprache ist ihr - gottverdammter - Gebrauch. Wer nichtmal Wittgenstein gelesen hat, sollte sich nicht über Sprache auslassen, auch noch öffentlich im 21. Jahrhundert. Es ist wunderbar, dass Sprache ein Prozess ist, und auch das Englische als Schnittmenge des Deutschen, welches gar nicht existiert und nie existiert hat, wieder auf Selbiges zurückfällt. Sollte man begriffen haben, muss man aber nicht.
Ach, Volk..., Berlin: so viel Input
Was für eine schwierige Aufgabenstellung!
Selbst für einen Kulturwissenschaftler.

100 Jahre Schaffenszeit der Volksbühne, zum Mitnehmen. Immer als Bastard ihrer Zeit. Die verschiedenen Entwicklungslinien der Theaterkunst/Theatergeschichte andeuten und dann noch diese (Scheinehe) Volk-Bühne interpretieren...

Zu Recht schiebt sich die Bühne weit in den Raum und somit das Publikum an die Wand.
Hat sich doch seit jeher das Theater seine 'Spielräume' selbst geschaffen.
Streckt der fordernden Masse, frech ihre spitze, lüsterene, laute und klebrige Zunge entgegen.
Kein Theater der Lippenbekenntnisse.

Wunderbar, diese lieblose Glitzerglitterattacke.
Jahrmarktatmosphäre 2.0, 'fahrendes Volk' als leises Zitat an den Ursprung?

War abzusehen, dass einige mit so viel Input überfordert sein könnten.

Obwohl es ja eine Vorwarnung gab:

[...]

"Pünktlich zum 100. Geburtstag der Volksbühne unternimmt eine große bunte Jubiläumsshow den Versuch, dem irrlichternden Volk auf der langen Suche nach seiner Bühne zu folgen. Eine zackige Zeitreise im Zickzackkurs."

Sehr gelacht über das 'Tanztheater'. Erinnerungen an 'Schmidteinander'! :-)

Sauschwer muss diese Synchronschwerstarbeit für M. Breitkreiz gewesen sein (Greenbox).

Es war so vieles toll! Suse Wächter!!

Wir fanden es überhaupt nicht langatmig.

Das einzig Negative was auffällt ist...

Es existiert(e) wohl keine Frau, die dieses Haus prägt/geprägt hat, wie ihre männlichen Kollegen. Schade.
Ach, Volk..., Berlin: keine prägende Frau
Woran das wohl liegt, dass keine Frau dieses Haus geprägt hat?! Bei Kuttner dürfen Frauen ja auch nur mit Puppen spielen oder tanzen, am liebsten nach seiner Pfeife.
Ach, Volk …, Berlin: Rois und Angerer
... also wenn allein Rois und Angerer dieses Haus nicht geprägt haben, dann weiß ich auch nicht mehr weiter.
Ach, Volk …, Berlin: Castorf im Lindencenter?
Klar gab/gibt es viele taffe Frauen an der Volksbühne.
Ich sprach aber von der Intendanz!
Bei einer Frau wird eher nicht damit kokettiert, wenn sie 5 Kinder mit 7 Männern hat. Aber als Mann ist man dann eben der coole Künstler-Typ.

Zumal das langweiliger Privatscheiß ist.

Die Frauen, die 7 Kinder von 5 Männern haben, wohnen in Hohenschönhausen und heißen Shereen. Haben 30 kg Übergewicht, aufgeklebte Fingernägel, schlecht gefärbte Haare, Tattoos der Hells Angels, Jogginghose und halten Mommsen für ein Bier. Auch Volk.

Und ich kann mir das Urteil erlauben. Ich sehe das leider jeden Tag.
Warum gehen die feinen Theaterherren mit ihrem gesellschaftskritischen Theater nicht mal dahin, wo es wirklich weh tut? Frag ich mich manchmal.
Castorfinszenierung im Lindencenter, gesponsert by Howoge und von Discountern.
Das wär doch mal echte Volksbühne.
Ach, Volk ..., Berlin: bleibt Fragment
Die großen Konflikt- und Entwicklungslinien werden angerissen und spielerisch durchmessen – sehr schön auch die exemplarische Gegenüberstellung von „purem“ Theater und der multimedialen castorfschen Überforderungsmaschinerie – das Spannungsverhältnis von „Volk“ und „Bühne“ durchdekliniert, und das mit viel Selbstironie, einiger Spiellust und einer Prise Theateranarchie. Kuttner kalauert, was das Zeug hält und macht doch so manchen Bruch sichtbar, lässt die verschiedenen Kapitel der Haushistorie sich aneinander reiben und öffnet so den Blick für die Geschichte eines Theaters, die jene des Volks, das es einzuladen gegründet wurde, reflektiert, aufnimmt und wie im Brennglas verstärkt. Dabei bleibt der Revuecharakter immer vorhanden, wollen die Episoden nicht recht zueinander passen, ergeben die grellbunten Mosaiksteine kein harmonisches Ganzes. Die Auseinandersetzung bleibt Fragment und will das auch sein. Vielleicht ist dies kein ganz großer Theaterabend geworden, ein augenzwinkernd unterhaltsamer und zugleich zumindest augenblicksweise erhellender ist er allemal. Und einer, der zu diesem Haus passt, weil er dessen Geist atmet. Wie dieses will er nicht erwachsen sein. Unsympathisch macht ihn das nicht.

Komplette Kritik: http://stagescreen.wordpress.com/2014/12/19/volk-und-buhne/
Ach, Volk..., Berlin: schlechte Kunst dem Volke
Ich war als Kuttner-Fan leider Freitag drin und fand die Vorstellung so, dass man eigentlich nur alle vor dieser müden Laberei warnen kann.
Eine Revue ist es mitnichten, eher die ausgelutschte Massenreproduktion einer Erfolgsformel, die anno dazumal vielleicht mal "erfolgreich" war (Verweigerung von Schauspiel-Erwartungen mit schnodderigem Esprit, made in Germany). Den grau-bemühten "Fernseh-Galas", die sie, wenn ich richtig verstehe, zu parodieren vorgibt, sieht sie zum Verwechseln ähnlich.
Am Anfang sagt Kuttner, eine Guido-Knopp-Geschichtserzählung sei von ihm sicher nicht zu erwarten. Tut auch niemand. Wäre mir dann aber doch lieber gewesen als Kuttners Genknödel zu einem Thema, zu dem ihm hörbar nichts einfällt. Und zu dem ihm wohl auch die Kenntnisse fehlen. Dabei handelt es sich um ein spannendes Thema: Die Kunst dem Volke. Für das ihm wohl die Zeit fehlte...
Ach, Volk..., Berlin: Grandiose Website
Noch was.
Bei allem Castorf-Bashing: Die Volksbühne hat mit ihrem Web-Archiv eine der lesenswertesten Theaterwebsitesl, die ich kenne - ganz im Sinne des alten, sozialdemokratischen Volksbildungsgedanken, mit dem Shereen aus Hohenschönhausen natürlich nix anfangen kann. Sie liest lieber Schundpresse über Frauen mit 7 Kindern von 5 Vätern in den gehobenen Gehaltsklassen, denn schon immer war es, wie Marx sagte: Der Unterdrückte träumt vom Unterdrücken, nicht von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.

2. Sich über Klöpfers Rede lustig machen (wie Kuttner es tut), kann sich jeder selbst. Wäre es nicht angebracht, sie zu aktualisieren?

"Jenes Volkstheater, von dem wir träumten, das Theater der Freude, der Erholung und Entspannung... hat sich erfüllt. Das Theater der Snobs, der Literaten, der Cliquen, der politischen Hetze ist für immer untergegangen." Hören wir solche Sätze nicht noch heute immer wieder von "der Bevölkerung" zwischen Hohenschönhausen und Wilmersdorf, Flensburg und Konstanz? Werden sie nicht praktiziert von den wahren Volksbühnen der Gegenwart, den Stage Holdings, Dschungel-Camps und Metropolitan Operas?

"Wir, die wir diesem Theater der Volksgemeinschaft dienen dürfen, empfingen alles vom Führer, das Vertrauen, den Mut zum Beginn und nicht zuletzt das Wertvollste – das Volk, die Gemeinschaft der Deutschen. " - Preisfrage: Worin unterscheidet sich dieser Volks-Begriff von dem, den Pegida etc. vertreten?

Ach Volk, du obermieses...

(Alle Zitate aus der grandiosen Website: http://www.volksbuehne-berlin.de/deutsch/volksbuehne/texte/)
Ach, Volk, du obermieses, Berlin: Renner-Wut und Hoffen auf die Boa
Die von Nachtkritik ersehnte Boa constrictor fehlt leider immer noch in Jürgen Kuttners Volksbühnen-Geburtstags-Revue "Ach, Volk, du obermieses". Ansonsten hat der Abend seit der Premiere vor knapp fünf Monaten einige Häutungen hinter sich: gestern war schon nach etwas mehr als zwei Stunden Schluss, für Kuttner eine Kurzfassung und für Castorf-Verhältnisse eine Sprint-Strecke. Anscheinend hat der Conférencier einige seiner geliebten Videoschnipsel rausgeschmissen.

Der Anfang ist so, wie ihn auch die Premierenkritiken beschrieben: Zunächst darf Margarita Breitkreiz im Abendkleid eine deutsche Version von Sound of Silence trällern. Dann provoziert ein Chor das Publikum mit den Wiederholungsschleifen des Barry McGuire-Covers "Wir sind am Ende": “und ich saaage euch immer und immer und immer, doch ihr hört mir nicht zu… Schon morgen kann es geschehen, und wir sind am Ende.” So weit, so gut: bewährter Volksbühnen-Humor.

Dies ist der Moment, an dem auch Gastgeber Kuttner seine bis ungefähr Reihe 7 vergrößerte Bühne betritt. Er klärt uns auf, dass wir Anfang und Schluss der Revue bereits gesehen haben. Das sei ein besonderer Service für vielbeschäftigte Manager. Der Mittelteil folge nun. Vor allem nutzt er diesen Gag als Steilvorlage für eine Abrechnung mit seinem neuen Lieblingsgegner Tim Renner.

Wie ein roter Faden zieht sich die Wut auf die Entscheidung des Kulturstaatssekretärs, Castorf durch Dercon zu ersetzen, durch Kuttners ansonsten assoziativ mäandernde Moderationen. Selten bleibt es bei Anspielungen auf weiße Hemden, in den meisten Fällen nennt er ganz explizit Ross und Reiter. Amüsiertes Gelächter erntet das Ensemble, als sie eine Szene auf zwei Arten spielen: zuerst, wie Kuttner schwärmt, international kompatibel, von Argentinien über die Tate Modern bis Berlin universal einsetzbar, tänzerisch, auf der Höhe performativer Kunst. Und dann noch mal richtig, so wie wir hier das an der Volksbühne machen.

Der Geburtstagsrevue Reloaded geben diese Breitseiten gegen aktuelle kulturpolitische Entscheidungen die nötige Würze: ansonsten wären die Insider-Gags (Kartoffelsalat, Henry Hübchen im Wohnwagen, ein Heiner Müller-Monolog von Sophie Rois, der von Teilen des Publikums zu Kuttners Freude mit “Was sollte das denn?” quittiert wurde), Suse Wächters Hitler-Puppen und der große Auftritt von Freiburger Teenagern auf Klassenfahrt beim Live-Video-Dreh-Mitmach-Theater am Ende des Stückes doch etwas fad gewesen.

Wenn jetzt auch noch die ersehnte Boa constrictor aufgetrieben werden kann, wird es sich auch Christoph Marthaler nicht nehmen lassen, seinen "Murks den Europäer"-Chor wieder aus vollem Herzen "Danke!" singen zu lassen.

http://kulturblog.e-politik.de/archives/24982-juergen-kuttners-volksbuehnen-geburtstags-revue-ach-volk-du-obermieses-immer-noch-ohne-boa-constrictor-aber-mit-breitseiten-gegen-tim-renner.html
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