Pionier Geist (Appell / Anrufung / Absturz) - Im Berliner HAU sucht die Performancegruppe Skills nach dem Pionier
Kunst oder Kunscht
von Matthias Weigel
Berlin, 19. Februar 2015. Lässt Sie diese Frage auch kaum mehr schlafen: in welcher Weise sich die Figur des Pioniers eigentlich für eine künstlerische Subjektivität nutzbar machen lässt? Ja, der gute alte Pionier, in der DDR, im Militär, in der Wut-Rede von Christian Lindner, der Erfinder, Wegbereiter. Und neuerdings eben auch Performance-Ermöglicher – wenn er sich denn nutzbar machen lässt!
Mal eben kurz ausflippen
Am Berliner HAU haben sich Camilla Fehér und Sylvi Kretzschmar (u.a. Schwabinggrad Ballett) zum zweiten Mal zusammengetan, unter ihrem Duo-Namen "Skills". Die Choreografinnen, Tänzerinnen, (Elektro-)Musikerinnen haben diesmal den politischen Aktivismus beiseite gelassen und sich ganz der Kunst verschrieben.
Bei "Kunst" ploppen ja gleich ein paar Grundrezepte auf. Abstrakt bleiben, nur andeuten. Geräusche. Ganz Altes und ganz Neues zusammentun. Materialien finden. Materialien anhäufen. Chaos. Jedenfalls ein bisschen. Ausflippen. Jedenfalls kurz. Und sehr wichtig: Momente aushalten. Atmosphäre.
Jemand hat für sowas mal den Begriff "Kunscht" geprägt. Man könnte einem alten Sprichwort folgend auch von "Wunst" sprechen. Oder von Rezept-Kunst. Aber was macht Kunst eigentlich zu Kunscht? Der Pionier? Oder erst wenn er sich nicht nutzbar machen lässt, der Wicht?
Elektromusik-Instrumente, ein Cembalo, weiße Plane, Bambus-Skulpturen bilden das Bühnenbild der gut einstündigen Performance "Pionier Geist". Die zwei Akteurinnen, frisch frisiert mit rotem Lippenstift und Jumpsuit, erzeugen elektrische Klänge und Cembalo-Zupfer. Sie knäulen einen Mount Everest aus weißer Plane zusammen und winken mit Fahnen, sie rammen ihre Fahnen bei der Mondlandung in den Boden, sie versuchen damit als Flugpioniere abzuheben.
Keine Skrupel vor dem Pionier
Soweit ein paar Bilder, die ich erkennen konnte. Die weiße Papierplane wird weiterhin zerrissen, verteilt, verwischt werden. Es wird auch hineingehüpft werden im Verlauf des Abends, mit schüttelnder, wilder Mähne; besagte Lindner-Rede fragmentiert eingespielt werden.
Und dann beschleicht einen dieser Gedanke, dass es da zuerst eine Vorstellung davon gegeben haben muss, was Kunst sei. Das sind dann meist oben genannte Grundrezepte. Die Kunscht-Rezepte. Und danach kam dann die Anwendung auf ein Objekt, das es irgendwie noch braucht. Und da hat die geisteswissenschaftlich-choreographische Performance bekanntlich keine Skrupel, auch nicht vor dem Pionier. Und dann wird halt der Pionier verkunschtet. Wenn er sich nutzbar machen lässt.
Pardon, also das Programmheft-Zitat heißt im Ganzen: "In welcher Weise lässt sich der Pionier für eine künstlerische Subjektivität nutzbar machen, die genau diese gesellschaftlichen Normen überschreitet?" (Mit den "Normen" dürfte der im Satz zuvor erwähnte neoliberale, flexible und netzwerkende Erneuerer gemeint sein, aber ganz sicher bin ich mir nicht.) Also, ich habe es so verstanden: Inwiefern kann man als Künstler, der die Norm überschreitet, indem er keinen Marktwert erzeugt, aus dem Pionier Wert schlagen?
So lyrikmäßig
Die einfache Antwort wäre: Indem man damit eine Förderung beim Hauptstadtkulturfonds und der Hamburger Kulturbehörde beantragt. Die ausführliche Antwort müsste von den Künstlern selbst kommen, inwiefern sie jetzt dem Pionier (-Geist) näher gekommen sind, in der Recherche, bei den Proben. Aber, ja, wahrscheinlich stellen auch die abstrakten, bildlichen Assoziationen zu Pionieren einen Wert dar: wie unscharfe Fotos, so lyrikmäßig. Unscharfe Pionier-Lyrik quasi.
Die Frage kann also schlussendlich nur halb beantwortet werden. Einmal ja, eimal wahrscheinlich ja, einmal vielleicht. Das ist jetzt bestimmt enttäuschend für Sie – und den Pionier. Aber so ist das eben bei solchen Rezenschionen. Ich hoffe, Sie können von nun an trotzdem wieder schlafen.
Pionier Geist (Appell / Anrufung / Absturz)
Konzept, Choreografie, Musik, Performance: Skills, Dramaturgie: Christoph Gurk, Soundtechnik und musikalische Mitarbeit: Peta Devlin.
Mit: Camilla Fehér und Sylvi Kretzschmar.
Dauer: 1 Stunde 10 Minuten, keine Pause
www.hebbel-am-ufer.de
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