Vier Hasen am Grabe

von Ralf-Carl Langhals

Ludwigshafen am Rhein, 26. Februar 2015. Den Namen hat man schon mal gehört. Irgendwann, irgendwo. Aleksandra Zec – da war doch mal was. Namen sind Schall und Rauch, sagt der deutsche Volksmund und hat wie immer nur sehr bedingt Recht: Die serbische Schülerin Alksandra Zec hat während des kroatischen Unabhängigkeitskrieges miterlebt, wie ihr Vater 1991 von einer fünfköpfigen Miliz in Zagreb vor der eigenen Haustür erschossen wurde. Sie und ihre Mutter wurden daraufhin in die Berge verschleppt und als Zeuginnen ebenfalls erschossen, nur ein Bruder und eine Schwester, die sich versteckt hatten, überlebten.

Der kroatische Theatermacher Oliver Frljić, dessen Belgrader Theaterprojekt über die Ermordung des serbischen Ministerpräsidenten Zoran Đinđić im vergangenen Jahr bei der Wiesbadener Biennale "Neue Stücke aus Europa" für Aufsehen sorgte, hat auch nach 24 Jahren keine Angst vor Schall und Rauch. Im Gegenteil. Laut sind seine Anklagen in der Regel und verschleiern wenig; auch tun sie gar nicht erst so, als wollten sie persönliche Betroffenheit abstreiten. Dass hat dem längst international erfolgreichen Multitalent auch schon den Vorwurf historischer Ungenauigkeit eingebracht...

Wessen Realität ist das?
Der Abend in Ludwigshafen beginnt mit politisch unkorrekten Vorurteilen, Stammtischparolen, Hasstiraden – gegen Opfer, Täter, Serben, Kroaten und das Publikum: "Was wollen Sie heute Abend sehen? Wie sich die Wilden vom Balkan gegenseitig ermorden?" Stille. Sechs Schauspieler sitzen um einen Tisch, Schaufel, Spitzhacken und Erde sind ihre Requisiten (schlichte wie eindrucksvolle Bühne: Ljerka Hribar). Die Tiraden weichen der Poesie. Nahezu lyrisch zeichnet die Regie ein gemutmaßtes Bild vom letzten gemeinsamen Abend der Familie. Ein allerdings nur fast idyllisches Bild, denn zwischen Hausaufgabenkontrolle, Zähneputzen und der Ermahnung, jetzt endlich ins Bett zu gehen – unter die Frljic musikalisch Mozarts "Requiem" gelegt hat – spricht man (in Vorwegnahme der historischen Fakten) über die bevorstehende Ermordung. "Du weißt, dass ich auch sterben werde?", fragt die Mutter ihre Tochter, die mit ihr ermordet wurde. "Wir haben es nur geträumt!" sagt der Vater. Nach dem Warum fragt niemand. Mehrfach wird diese berührende wie absurde szenische Suche nach Normalität durch scharfe akustische Attacken zerschnitten: Die Realität bricht sich in Schreien, angstgeweiteten Augen und Leichenfotos Bahn.

aleksandrazec 560a xxx uGefolterte sprechen als Folterer © Petar Fabijan

Einen weiteren Kunstgriff leistet sich der Regisseur mit den historischen Fakten. Als Aleksandra und ihre Mutter geknebelt auf den Stühlen sitzen, stehen die Peiniger hinter ihnen, streichen ihnen übers Haar – und halten ihnen "ihren Text" hin: Opfer verlesen die Vernehmungsprotokolle der Mörder. Wessen Realität ist das eigentlich? Wer formuliert und wer schafft sie? Wo ist die Wahrheit zu suchen? Antworten kann freilich auch Oliver Frljić nicht geben, führt uns aber eindrücklich vor Augen, dass aufrichtiges Betroffenheitstheater, das auch auf der Hinterbühne des Theaters im Pfalzbau zugegebenermaßen nicht selten melodramatische Züge trägt, näher an der Realität sein kann als juristisch-historische Laubsägearbeiten aus Den Haag.

Widerstreben kann jeder
Sind Namen Schall und Rauch? Es macht einen betroffen, dass man den Namen Aleksandra Zec weniger als Bürgerkriegsopfer denn als pars pro toto eines absurden und international kritisch kommentierten Prozesses in Erinnerung hat. Den aber lässt Frljić – Teil seines genialischen Theaterplans – völlig außen vor. Sein Skandal bleibt nahe bei einem 12-jährigen Mädchen. So nahe wie die vier Hasen (vier gleichaltrige Mädchen mit Hasenmützen), die zuletzt an Aleksandras Grab kommen, um sie zu befragen, ob es ihr denn recht sei, dass man ein Theaterstück über sie gemacht habe. Sie verneint sophistisch: "Jedes Mal, wenn jemand meinen Namen nennt, ist es, als würde man mir erneut in den Kopf schießen." Dann macht Aleksandra den Mädchen den Prozess oder versucht viel mehr, einen Prozess in Gang zu bringen. Sie fragt nach Name, Hobby, Alter – und ganz allmählich nach den Möglichkeiten, wie so etwas zu vermeiden sei. Nicht jeder taugt zum Helden. Aber nachfragen, benennen, widerstreben, nicht wegschauen kann jeder. Das ist ebenso rührend naiv wie eben auch wahr.

Und damit, hohe Dramaturgie zum Auftakt eines Festival-Erstlings, schließt sich der Kreis des Eröffnungsabends von Intendant Tilman Gersch. Denn anderes hatte Publizistin Mely Kiyak in ihrer unprätentiösen und berührenden Eröffnungsrede auch nicht gesagt. In der Chemiestadt Ludwigshafen, wo Menschen aus 140 Nationen leben, hat die Suche nach einer "Offenen Welt" jetzt begonnen. Mit gut 40 Veranstaltungen zum Thema Fremdheit und Migration mit Blicken nach Serbien, Thailand, Kuba – oder auch in die Abgründe des Münchner NSU-Prozesses. Hinschauen hilft.

Aleksandra Zec
von Oliver Frljić
Regie, Musik: Oliver Frljić, Dramaturgie: Marin Blažević, Bühne: Ljerka Hribar, Kostüme: Sandra Dekanić.
Mit: Jelena Lopatić, Mirta Polanović, Tanja Smoje, Igor Kovač, Nikola Nedić , Jurica Marčec , Jana Mileusnić, Lucia Filičić, Nina Batinić,  Morana Mladić.
Dauer: eine Stunde, keine Pause

www.offenewelt.ludwigshafen.de
www.hkd-teatar.com

 

Kritikenrundschau

Oliver Frljic inszeniere sein Stück "mit einer emotionalenWucht, wie sie im deutschen Theater der Gegenwart ungewohnt ist", schreibt Hans-Ulrich Fechler in Die Rheinpfalz (28.2.2015). "Durch Blicke und direktes Ansprechen durch die Darsteller werden die Zuschauer in die Handlung hineingezogen, als wären sie Angeklagte vor einem Tribunal." Der Abend stelle die Todesangst einer Familie und ihre Ermordung nach mit Bildern, "wie sie das Fernsehen seinen Zuschauern nicht zumutet".

Kommentare  
Aleksandra Zec, Ludwigshafen: revisionistische Begrifflichkeit
"...kroatischen Unabhängigkeitskrieges... "
ich empfehle dem Autoren, derlei wertende und verklärende Begriffe in Anführungsstriche zu setzen, sollten sie dem Stück entnommen sein. Ist es hingegen seine persönliche Definition, dann bitte ich den zuständigen Editor hier einzugreifen, um revisionistische Begrifflichkeiten nicht salonfähig zu machen.
Kommentar schreiben