Das Haus der Wassa Schelesnowa - Das Nö Theater setzt bei Gorkis Familienunternehmensstück in der Kölner Orangerie auf psychologisierendes Schauspielertheater
Flechtfrisuren und Folklore
von Dorothea Marcus
Köln, 25. März 2015. In der zersplitterten freien Theaterszene von Köln kämpfen rund 60 Theaterhäuser und freie Gruppen um wenige Fördergelder (rund 1,8 Millionen Euro) – gemessen an der Stadtfläche ist die Theaterdichte in Deutschland wohl selten so hoch. Seit einigen Wochen ist der Kampf besonders hart: Da vier Theaterhäuser aus der immerhin etwas Planungssicherheit verleihenden vierjährigen Konzeptionsförderung herauszufallen drohten, wurde von der Politik verlangt, eine Lösung zu finden. Der Kölner Kulturverwaltung fiel aber leider aus lauter Geldmangel nur ein, etwa die Gastspielförderung fast ganz zu streichen und den Projekttopf der freien Gruppen empfindlich zu beschneiden. Eine dramatische Umschichtung fand also statt: von freien, ganz im luftleeren Raum agierenden Gruppen zugunsten der sich nahezu als kleine Stadttheater gebärdenden Kölner Mini-Keller-Theater – nicht gerade zum Wohl der Szene, die in Köln an performativen Impulsen ohnehin schon nicht eben reich ist.
Einige der interessantesten Gruppen ging in der Projektförderung dann auch ganz leer aus, zum Beispiel das Nö Theater von Janosch Roloff. Regisseur und Schauspieler Roloff fällt in der Kölner Szene seit rund fünf Jahren durch politisch scharfe und aufwändig recherchierte Arbeiten auf. 2010 untersuchte er in "Der Vorgang Oury Jalloh" mit Hilfe von Gerichtsakten und Zeugenprotokollen den Feuertod des Asylbewerbers Jalloh in einer Dessauer Arrestzelle. 2012 inszenierte er im mehrfach preisgekrönten Stück "V wie Verfassungsschutz" eine grelle Kritik an der von V-Leuten durchsetzten Institution nach den NSU-Morden – und jüngst befragte er in Gipfelstürmer zum bevorstehenden G7-Gipfel die eigenen politisch noch verbleibenen Ideale.
Psychologische Feinzeichnung
Umso erstaunlicher ist es, dass Roloff seine – nun vor allem durch Crowdfunding finanzierte – Inszenierung von Maxim Gorkis "Das Haus der Wassa Schelesnowa" als museale Stadttheaterimitation anlegt. Freundlicher könnte man sagen: als psychologisierendes Schauspielertheater. Das gelingt zwar ganz gut, hat mit vielen Pausen und Stille einen guten Rhythmus, wirkt bei einem am Diskurstheater geschulten Regisseur aber dennoch seltsam anachronistisch. Dabei wäre es spannend gewesen, das Stück auf den Zusammenhang von Kapitalismus und Revolution zu befragen. In Gorkis zweiter Fassung von 1935 verteidigt die Kapitalistin Wassa Schelesnowa ihr Familienunternehmen gnadenlos gegen ihre revolutionär gesinnte Schwiegertochter Rahel und enthält ihr den Sohn vor, den sie als Kronprinzen sieht.
In der Kölner Orangerie ist liebevoll ein russischer Salon bis hin zu silbernen Teetassen, Gebäck, Antik-Möbeln und Perserteppichen gestaltet, die Familienmitglieder darin sind dekoratives Tableau. Man langweilt sich gepflegt und melancholisch wie bei Tschechow, spielt Schach oder bettet sich auf der Chaiselongue, bis herrisch Wassa Schelesnowa hereinrauscht und die lethargische Familie elektrisiert. Mit dunkel-kasachischem Akzent spielt Irina Miller, die auch Co-Regie führt, die Rolle der rücksichtslosen Patriarchin, die mit Geld jedes Malheur reparieren will – selbst die Anklage gegen ihren Mann wegen Pädophilie. Zum Glück ist er bald um die Ecke gebracht.
Heimlich SM-Spielchen
Auch ihre Töchter in schönen Kleidern und mit noch schöneren Flechtfrisuren sind psychologisch fein gezeichnet: Ludmilla (Mona Mucke) liebt naiv-eskapistisch Blumen und will meist mit ihrer Mutter kuscheln, von der sie stets abgewiesen wird. Natalja (Lucia Schulz) ertränkt ihre Rebellion und Sehnsucht nach einem anderen Leben immer häufiger im Alkohol. Etwas deplatziert rehäugig steht das Dienstmädchen Lisa (Jule Schacht) in der Gegend herum, wenn sie sich nicht vom alkoholisierten Onkel (Philipp Sebastian) an die Brust greifen lässt. Asta Nechajute schlurft als Wassas alternde und ergebene Tochter Anna am Gehstock durch den Salon, lässt sich manchmal aber auch im Hintergrund von Alexej Pitijorkin (Felix Höfner) mit verbundenen Augen an den Stuhl fesseln, um heimlichen SM-Spielchen zu fröhnen.
Beiläufig ist so mancher Abgrund in die Familienstudie gearbeitet. Die rebellische Rahel (Paula Donner) dringt schließlich als aufrechte, schmale und glühende Sozialistin in die verrohten Verhältnisse, steht aber für eine Revolutionärin letztlich recht machtlos im Raum. Das alles ist meist sehr gut gespielt, aber auch nicht mehr. Wenn etwa in Wassas Abwesenheit so richtig gefeiert wird, dabei aber nur russische Traditionstänze und ein paar alkoholselige Pirouetten herauskommen, schrammt man an sinnentleerter Folklore entlang. Russische Orgien stellt man sich heute doch anders vor.
Schließlich stirbt Wassa in den Armen ihrer Tochter und die Familie plündert hemmungslos ihre Schubladen. Unkraut vergeht nicht, heute wie damals. Auf die Frage jedoch, warum er dieses Stück inszeniert, bleibt Roloff die Antwort schuldig.
Das Haus der Wassa Schelesnowa
nach Maxim Gorki
Regie: Janosch Roloff und Irina Miller, Dramaturgie: Christiane Bruhn, Technik: Marek Mauel, Maske: Bianca Yennifer Wellnitz.
Mit: Irina Miller, Matthias van den Berg, Philipp Sebastian, Lucia Schulz, Mona Mucke, Paula Donner, Asta Nechajute, Janosch Roloff, Jule Schacht, Felix Höfner
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause
www.noetheater.de
www.orangerie-theater.de
In der Kölner Rundschau (27.3.2015) berichtet Brigitte Schmitz-Kunkel von einer "bestechend schönen Inszenierung". "Dank sanft historisierender Requisiten und Kostüme taucht man gleich ein in die Welt des russischen Großbürgertums zu vorrevolutionärer Zeit." In dem großartig choreographierten Höhepunkt steigere sich eine fröhliche Tanzgesellschaft in eine Spirale aus Gier und Gewalt.
Im Kölner Stadtanzeiger (27.3.2015) schreibt Christian Bos, "das Nö Theater wagt und gewinnt; selbst wer den Abend eher als Handwerksübung nimmt, wird (...) von diesen anderthalb Stunden nahezu altmeisterlichen Einfühlungstheaters mitgerissen." "Schon erstaunlich, wie das nö theater hier bar jeder Förderung höchsten Ansprüchen genügt. Oder sind die nur bildungsbürgerliche Altlasten? Und der Abend ein Fall von Retro-Theater? Nennen wir es ein Experiment. Und zwar ein gelungenes."
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Als Besucher der Aufführung lese ich die „Nachtkritik“ mit großem Befremden. Ohne auf den langen ersten Teil über die Situation der Kölner freien Bühnen, an die ich während des Stückes keinen Moment zu denken die Zeit noch den Kopf dazu gehabt hätte, einzugehen, möchte ich folgende Anmerkungen machen:
• Dass der Regisseur Janosch Roloff am Diskurstheater geschult sei – in dem ausschließlichen Sinne, wie das hier wohl gemeint ist - kann ich in Kenntnis seiner bisherigen breit angelegten Laufbahn nicht nachvollziehen. Interessant wäre, ihn selbst zu dieser Behauptung zu befragen – was ich sicher noch tun werde. Und selbst wenn die Verfasserin seine Laufbahn so sieht: Warum reagiert sie fast enttäuscht, um nicht zu sagen beleidigt, auf seine von ihr so interpretierte Entwicklung („anachronistisch“)? Warum erkennt sie nicht das in dieser Entwicklung liegende Potenzial?
• Bei der Aussage „Dabei wäre es spannend gewesen, das Stück auf den Zusammenhang von Kapitalismus und Revolution zu befragen“ frage ich mich, ab welchem frühem Zeitpunkt während der Vorstellung die Verfasserin mental abwesend war – spätestens mit dem Auftreten der Schwiegertochter war dieser Zusammenhang auf der Bühne präsent, zum Teil dominant.
Mit großer Verwunderung lese ich die Behauptung, dass Irina „Müller“ mit „dunkel-kasachischem Akzent“ spreche. In jeder schriftlichen Verlautbarung des Namens der Co-Regisseurin und Hauptdarstellerin wird sie als Irina Miller aufgeführt. Kann ich von einer Kritikerin erwarten, dass sie der ganz elementaren Kompetenz des lexikographischen Lesens, vulgo Buchstabierens, mächtig ist? Interessant auch die Qualifizierung ihrer Aussprache als „dunkel-kasachischen Akzent“. Kann sie diesen möglicherweise von dem „hell-kasachischen Akzent“ unterscheiden? Oder gibt es gar 50 Shades of Kasachian accents? Zur Information: Irina Miller kommt zwar aus Kasachstan, spricht aber nicht und hat auch nie kasachisch gesprochen, sondern ist mit Russisch groß geworden. Woher ich das weiß? Einfach fragen! Miteinander Reden hilft ungemein.
• Die Behauptung „Asta Nechajute schlurft als Wassas alternde und ergebene Tochter Anna…“ lässt mich abermals an der mentalen Situation der Kritikerin zweifeln: Sowohl aus dem Programmheft (Lesevermögen vorausgesetzt) als auch aus dem Spielverlauf (Sehen- und Hörenkönnen vorausgesetzt) geht klar hervor, dass Wassa nur 2 - in Worten: zwei – Töchter hat. Dass man das devote und servile Auftreten der Hausdienerin Anna (Asta Nechajute) und das verwöhnte Auftreten der Töchter nicht auseinanderhalten kann, ist ein für mich nicht nachvollziehbarer mentaler Vorgang.
• Interessant noch der Satz „Russische Orgien stellt man sich heute doch anders vor“. Wer ist „man“? Meint die Kritikerin mit „man“ sich selbst? Wenn ja, dann bin ich froh, ihre Vorstellung russischer Orgien nicht zu kennen und möchte sie auch nicht auf der Bühne realisiert sehen.
(Hinweis: Es gab beides, Müller und Miller im Text, was wir jetzt korrigiert haben. Die nachtkritik-Redaktion/sik)
Nach allem habe ich als Otto unter den Normalverbrauchern der Kölner Theaterlandschaft meinen Besuch der Inszenierung genossen und mich insbesondere an die gesehenen jungen, überaus engagierten Theatertalenten des Nö-Theaters ein weiteres Mal außerordentlich erfreut.
Das Theater in Köln hat in meinen Augen Zukunft und ein Garant dafür ist für mich vor allem auch der Regisseur Janosch Roloff.
Ich freue mich auf mehr ...