Wir vom Stamme Kains

von Sascha Westphal

Düsseldorf, 12. April 1015. Am Ende von Charles Baudelaires "Abel et Caïn", das Teil dieses wild wuchernden Abends ist, liegt alle Hoffnung auf dem Stamme Kains. Der gezeichnete Brudermörder und seine Nachkommen sind die, die vielleicht noch etwas verändern könnten, von denen einmal der ersehnte Aufruhr ausgehen könnte: "Kains Stamm, zum Himmel steige und auf die Erde schleudre Gott!"

Die Mörder und Krieger, die Baudelaire rauschhaft besingt, gibt es natürlich immer noch. Aber sie sind nicht die einzigen im Stamme Kains, des Stadtgründers und Namensinspirators der aus Bochum stammenden Off-Truppe kainkollektiv. Auch die Künstler sind seine Nachfahren, auf ewig von Unruhe erfüllt. Etwas treibt sie an, die Welt zu erkunden statt zu verweilen. Die Hoffnung, die Wirklichkeit zu überwinden, das Verlorene zurückzugewinnen, ist ihr ständiger Begleiter.

Einmal durch die Hölle bitte

Zwölf Musiker*innen und Performer*innen, Schauspieler*innen und Tänzer*innen hat das kainkollektiv in "Aus aktuellem Anlass" eingeladen, ihre ganz eigenen, persönlichen Antworten auf die brennenden Fragen unserer Zeit zu finden. Wenn das Paradies nun einmal verwirkt ist, dann bleibt den Menschen nichts anderes, als die Hölle und das Fegefeuer zu durchschreiten. Also wird das Publikum im ersten Teil der Installationsperformance auf einen Trip durch die Räume des FFT Juta geschickt, die eine der zwei Spielstätten des Düsseldorfer Forum Freies Theater. Auf den Spuren von Dantes "Göttlicher Komödie" geht es durch die "Hölle" (die Blackbox), das Fegefeuer (den Saal) und das "verlorene Paradies" (die Probebühne). An jedem dieser drei Orte zwischen Vision und Wirklichkeit haben jeweils vier der Mitstreiter*innen von Fabian Lettow und Miriam Schmuck, Köpfe des kainkollektivs, ihr Lager aufgeschlagen. Dort führen sie ihre Soli auf, die aus privaten Recherchen im Düsseldorfer Stadtraum heraus entstanden sind. Sie alle haben dabei ihre Themen und Obsessionen, ihre "aktuellen Anlässe" verfolgt.

In diesen Miniaturen treten Privates und Öffentliches, Eigenes und Fremdes auf verschiedene Weise in einen Dialog. Zwölf Kunst-Werke, von denen die Zuschauer*innen allerdings jeweils nur vier erleben. Ein Zettel im Programmheft entscheidet darüber, wer welche Performances zu sehen bekommt. Es gibt eine blaue, eine grüne und eine rosa Tour durch Dantes Welten, die alle dort enden, wo sie begannen. Es sind Reisen im Kreis – der Einzelne kommt immer an dem Ort an, an dem er schon einmal war. Aber vor dieser Erkenntnis, auf die dann der zweite Teil des Abends reagiert, stehen erst einmal vier wundersame und wundervolle Begegnungen.

AusAktuellemAnlass1 560 Stephan Glagla uSo sieht es aus, wenn das kainkollektiv auf Paradiessuche geht: "Aus aktuellem Anlass"
© Stephan Glagla

Wie beim Turmbau zu Babel

So führt die rosa Tour, auf die ich geschickt wurde, zunächst zu Bianca Künzel, die hinter einem weißen Vorhang steht, auf den Videobilder von der Fahrt eines Containerschiffs den Rhein entlang projiziert werden. Reflexionen über die Bedeutung der Schifffahrt für den Menschen und seine Kultur wechseln sich mit dem Lamento einer Künstlerin, der es nicht gelingt, ein großes Projekt zu realisieren. Auf diese Selbstbefragung, die zugleich ein sehr präzises Porträt einer uns ständig überfordernden Zeit abgibt, folgt ein archaischer Ritus: Der kamerunische Schauspieler und Tänzer David Guy Kono vollführt noch einmal das Reinigungsritual, dass er zuvor schon auf der Düsseldorfer Königsallee, dem Edelshopping-Boulevard der Stadt, zelebriert hat. Die Videobilder dieses Happenings im öffentlichen Raum werden von Konos Live-Performance in der "Hölle" überlagert. Das Theater übermalt die Wirklichkeit und schafft Bedeutungsfreiräume – natürlich geht es um Geld, um Luxus und Konsum, aber zugleich kann jeder das Ritual mit seinen eigenen Vorstellungen füllen.

Im "verlorenen Paradies" treffen wir dann auf den Countertenor Michael Taylor, der von der Bewunderung für den Verweigerer Achill, der nicht mit nach Troja ziehen wollte, erzählt und die Arie "Alto Giove" aus Nicola Porporas Oper "Polifemo" singt. Die transzendente Schönheit der Musik trifft auf die Realität einer Welt im Kriegszustand, Erlösung und Verdammnis sind untrennbar ineinander verschlungen. Und so geht es zurück ins "Fegefeuer", wo der Videokünstler Jan Ehlen für alle kocht: die Molekularküche als moderne Alchemie.

Auf die Erkundungstour des Publikums folgt dann im zweiten Teil eine Reise des Kollektivs. Alle zwölf Perfomer*innen kommen im "Fegefeuer" zusammen. Zunächst als einzeln vor sich hin Agierende: Jeder macht sein Ding, und man weiß gar nicht, wohin schauen. Die Reizüberflutung der Welt gerinnt zum Happening – so muss es beim Turmbau zu Babel gewesen sein. Doch dann finden die Zwölf zusammen, und jeder stellt seine Materialien den anderen mit zur Verfügung. Man geht über Holzbretter, balanciert auf Ästen und formt eine Gemeinschaft. Aus der Unruhe aller wird Zusammenspiel. Tanz und Erzählung, Gesangs- und Kochkunst ergänzen sich. Und immer wieder geht es um Kain. Sein Stamm besinnt sich auf seine Anfänge, seinen Ursprung. Selbst wenn das Paradies verloren bleibt, in den Himmel steigen ist auch eine Möglichkeit.

 

Aus aktuellem Anlass
von kainkollektiv (Fabian Lettow / Miriam Schmuck)
Konzept und Inszenierung: Fabian Lettow / Miriam Schmuck, Ausstattung: Alexandra Tivig, Video: Jan Ehlen, Sound: Rasmus Nordholt-Frieling, Produktionsleitung: Kirsten Möller.
Mit: Vanessa Chartrand-Rodrigue, Antoine Effroy, Jan Ehlen, Catherine Jodoin, David Guy Kono, Bianca Künzel, Carsten Langer, Florian Lauss, Rasmus Nordholt-Frieling, Kerstin Pohle, Michael Taylor, Ina Sladić.
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause

www.kainkollektiv.de
www.forum-freies-theater.de

 

Kritikenrundschau

Oft herrsche eine Art kritischer Larmoyanz, die auch die Grenzen des unfreiwillig Komischen streife, so Thomas Hag in der Rheinischen Post (13.4.2015). Nach der Pause werde der Abend auch nicht plausibler. Fazit: "Auf der Suche nach dem Paradies ist der moderne Mensch, sprich Künstler, mittlerweile so verwirrt, dass er es nicht einmal mehr erkennt, wenn er es findet."

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