Platz für Gedächtnislücken

von Theresa Luise Gindlstrasser

Wien, 18. April 2015. Lenglumé wacht auf, und kennt sich nicht aus. Die Hose? "Nanu, ich bin ja drin." Dass er sich aus dem Haus geschlichen, auf dem Ehemaligenfest seines Internats teilgenommen und sich dort vor dem Salat im Alkohol verloren hat, das tröpfelt ihm nach und nach ins Bewusstsein hinein. Trotzdem: "Eine Gedächtnislücke! Immer ist da diese Lücke!" Die scheint sich zu füllen, wenn ihm mehr und mehr Details des versoffenen Abends aufstoßen. Aha, der Mann im Bett, das ist Mistingue, der ist ein Ehemaliger auch, gut, und der Schirm, der ist wohl verloren, und ach so, gestern wurde ein Kohlenmädchen ermordet, deswegen diese kohlenschwarzen Hosentaschen, was? Und also beginnt die groteske Vertuschungskomödie "Die Affäre Rue de Lourcine" von Eugène Labiche.

Nicholas Ofczarek und Michael Maertens stolpern mit zerzaustem Haar durch den Salon. Die Hemden hängen aus den Hosen, alles Denken ist schwer. Obschon sie doch nur Wasser trinken wollen gegen den Brand, um langsam langsam in die Welt wieder zurückzufinden, müssen sie Indizien vernichten, Zeugen zum Schweigen bringen. Da bleibt keine Zeit, die eigene Lücke zu befragen. Da muss gehandelt werden. Aber langsam langsam.

Logik verschiedener Welten

Währenddessen läuft die Welt der Nüchternen auch so vor sich hin. Um einiges schneller zwar, aber nicht minder wirr betreiben Potard (Peter Matić), der Vetter von Lenglumé, Justin (Markus Meyer), sein Bediensteter und Norine (Maria Happel), seine Frau, ihre Alltagsgeschichten. Niemand hört, was die anderen sagen, alle sprechen nur ihren eigenen Charakter aus, sprechen die Sätze aus, als wären es Zitate, als gäb es kein Empfinden, und dauernd meint irgendwer, dass wer anderer was weiß, was der aber nicht weiß. So geht es hin und her, bis sich am Ende heraus stellt, dass die Zeitungsmeldung, die vom Mord berichtete, ja zwei Wochen schon alt gewesen war.

Affaire2 560 ReinhardWerner uLeere Flaschen und andere Spuren der Nacht: Nicholas Ofczarek als Lenglumé in der
"Affäre Rue de Lourcine" © Reinhard Werner

Die Lücke wurde also nicht gefüllt. Bleibt Lücke, lässt sich nicht füllen. Und wenn doch, dann mit dieser Geschichte und mit jeder anderen auch. Das wäre doch das Wesen des Rausches, der Ekstase, des Unbewussten und aus dem Gedächtnis Ausgeschlossenen. Eben weil alles miteinander verschwimmt, halten sich auch die Ereignisse in keiner Identität. "Ein Krügerl, a Glaserl, a Stamperl, a Tröpferl", das alles steht in gleichmöglicher Verwandtschaft zueinander. Dass auch die Welt der Nüchternen nur scheinbar einer anderen Logik folgt, das weiß die Inszenierung von Barbara Frey aus dem Text herauszustülpen.

Spiel mit dem Unbewussten

Musikalisch liegt über allem ein Schleier, der nach Spieluhr und verschlafenem Akkordeon klingt. Langsam, langsam und sehr entrückt singen die Charaktere ihre Lieder. "Wir waschen uns die Hände rein. Dann können wir ganz sicher sein, dass die Spur gelöscht ist." Auch das Bühnenbild (Bettina Meyer) verhält sich wie im Traum, widerspricht und löscht sich selber aus.

Sechs Türen führen vom Salon nach hinten. Der ist rot tapeziert, in der Mitte ein Tisch, links viele Müllsäcke, viel weggeschmissen-ausgeschlossener Kram. Von oben ein Luster, der trägt neben Glühbirnen auch Totenköpfe. Das Motiv des Unbewussten und Ausgeschlossenen wiederholt sich. Irgendwann wird die Tür am rechten Rand geöffnet. Dahinter türmen sich die Totenköpfe auf. Und schnell wieder zu. Die anderen Türen führen nach oben irgendwo anders hin, zu einem Waschbecken, ins Schlafgemach oder zeigen einen Schrank voller Bücher und Ordner und einen anderen üppig voll mit Alkohol.

Schlecht geträumt

Aber die Inhalte wechseln und plötzlich befindet sich der Alkohol nicht mehr links außen, sondern in der Mitte rechts. Wenn kurz vor Ende suggeriert wird, Lenglumé hätte alles bloß geträumt und sich wieder an den Türen versucht, dann entbergen die bloß noch leeres Schwarz. "Immer ist da diese Lücke!" Eigentlich tragisch. Da wird nach einer Erklärung, nach einer wirklichen Aufklärung gesucht und dann könnte es das und das und aber auch gar nichts sein. Die Lücke bleibt. In der Rue de Lourcine ist das aber komisch oder komödiantisch. Wenn Sie so wollen.

 

Die Affäre Rue de Lourcine
von Eugène Labiche, erweiterte Neufassung von Elfriede Jelinek
Regie: Barbara Frey, Bühnenbild: Bettina Meyer, Kostüme: Esther Geremus, Licht: Friedrich Rom, Musik: Tommy Hojsa, Dramaturgie: Amely Joana Haag.
Mit: Nicholas Ofczarek, Michael Maertens, Peter Matić, Markus Meyer, Maria Happel.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.burgtheater.at

 

 
Kritikenrundschau

"Es herrscht faszinierende Froststarre in Barbara Freys Labiche-Inszenierung", lobt Ronald Pohl im Standard (20.4.2015). Sie "kümmert sich um die Gesetze des Vaudeville-Schwanks genau gar nicht", Gelächter sei "im Keim erstickt". Stattdessen interessiere Frey "und ihre wundervollen Schauspieler" die "Begehung einer Traumlandschaft, zu der das Wachbewusstsein normalerweise keinen Zutritt findet". Fazit: "Höllenspaß ist das keiner, eher ein Rendezvous mit dem Nichts. Doch manchmal ist so etwas heilsam."

Barbara Frey habe "die Chose raffiniert geradlinig inszeniert, in einem für solche Einakter untypisch gedrosselten Tempo. Aber es wirkt." So schreibt Norbert Mayer in der Presse (20.4.2015). "Fünf komödiantische Meister des Burgtheaters haben dabei ihre Stärken ausgelebt – ein einfaches Erfolgsrezept, das auf Monate für ein volles Haus sorgen dürfte. Selten sah man Zuseher so entspannt und dennoch aufmerksam wie am Samstag."

Barbara Freys Inszenierung schlage ein "sehr gemäßigtes Tempo an" und verweigere "die komödientypische Tür-auf-Tür-zu-Dramaturgie", berichtet Wolfgang Kralicek in der Süddeutschen Zeitung (20.4.2015) und lässt dabei nicht so recht erkennen, ob er das alles für vergnüglich oder verzichtbar hält.

Die Bühnendekoration aus "blanken Knochen und Schädeln" wird für Martin Lhotzky von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (20.4.2015) besonders einschlägig: "In diese Richtung bewegt sich die ganze Inszenierung. Eine im Kern banale Verwechslungskomödie reicht wohl nicht mehr aus, um der Spießbürgergesellschaft die garstige Fratze der Doppelmoral herunterzureißen." Der Schluss, der für den Protagonisten Lenglumé scheinbar alles wieder auf Anfang stelle, offenbare ihm hinter der Tür zum Schlafzimmer "nichts als gähnende, schwarze Leere". Aber: "Diese letzte Wendung der Inszenierung ins Abgründige, Spukhafte aber vermag das Stück nicht mehr mitzutragen."

In dieser Inszenierung "droht kein schenkelklopfender Humor", vielmehr "eiskalte Ironie" (schon wegen der Jelinek-Übersetzung), so berichtet Barbara Villiger Heilig für die Neue Zürcher Zeitung (20.4.2015). Die Protagonisten Ofczarek und Maertens "führen in symmetrischen Verrenkungen den hilflos-clownesken Pas de deux eines kopulierenden Doppelwesens aus, körperlich und geistig." Die Akteure erhalten höchstes Lob: "Wenn bei Samuel Beckett, den das gloriose Schauspielerduo natürlich mitdenkt, Unglück komisch ist, ist bei seinem russischen Kollegen das Absurde tragisch – und einsam wie Monsieur Lenglumé. Ihm spendiert Nicholas Ofczarek, nebst dem existenziellen Albtraum, eine überragende Statur."

 

Kommentare  
Affäre Rue de Lourcine, Wien: völlig sinnlos fürs Burgtheater
Ein viertklassiges Stück, gerade einmal für Schülertheater geeignet, mit einer einzigen, sehr matten Pointe, völlig sinnlos für das Burgtheater, dessen Bühne auch nur zu einem Zehntel genützt wird, anscheinend nur als Tantiemen-Cashcow für Jelinek angesetzt. Die Inszenierung: gefühlte vier Stunden der ewig gleiche Betrunkenen-Slapstick diesmal in Zeitlupe. Ofczarek kann anscheinend seit seinem traurigen Absturz ins Unterschichtenfernsehen nichts anderes mehr. Maertens verwaschener Singsang wie immer. Matic, Meyer, Happel in Fünfminutenrollen genial verschwendet.
Affäre Rue de Lourcine, Wien: Zeitlupenlangsamkeit
Wie sagt der Wiener bzw. der Österreicher gern öfter mal: mei is des faaaad ! Und eigentlich kann man sich bei dieser Inszenierung an Kritik alles ersparen und kann mit zwei Worten sagen, wie das Ganze war: unendlich FAD !
Den Stücken von Feydeau und Labiche kommt man nur mit Tempo, Esprit, Witz und Charme bei. Und das alles fehlte diesem Abend. Er war unendlich trostlos, lähmend-gähnend laaaangweilig. Ein Regisseur hat NICHTS, aber auch GAR NICHTS kapiert, wenn er einen Feydeau oder Labiche in einschläfernder, sich dahinschleppenden Zeitlupenlangsamkeit herunterspielen läßt. Chargenhaftes, ewig besoffenes Rumtorkeln auf der Bühne ist das Armutszeignis der Einfallslosigkeit der Regisseurin Barbara Frey, die selbst den drei stichwortgebenden Randfiguren nur armseliges Rumhampeln gestattet. Diese Aufführung ist an Dürftigkeit kaum zu unterbieten. Man kann dem Burgtheater nur anraten, so etwas am besten wieder gleich vom Spielplan zu eliminieren. Schlimmer geht's (fast) nimmer. Und auch den Herren Ofczarek und Maertens - eigentlich hervorragende Schauspieler - kann man allmählich irgendwann nicht mehr zuschauen, mit welch einheitlichem Gehabe sie inzwischen nahezu jede Rolle gleich "gestalten".
Affäre Rue de Lourcine, Wien: eingebildete Klugheit
Dass hinter der Amnesie natürlich nichts lauert, aber von den Hauptfiguren alles befürchtet wird, ja, darum dreht sich der Text. Also eine bescheidene Erkenntnis.
Aber es könnte ja Spass machen, oder, es sollte Spass machen bei der Rettung aus eingebildetem Verbrechertum zuzuschauen.
Tut es aber in dieser Zeitlupenveranstalltung nicht!
Dauernd will mir die Inszenierung erklären, was wir Menschen uns doch alles Grauenvolles in uns hineinphantasieren.
Ja! Wie gesagt davon handelt das STÜCK ja eh! Wir sind ja nicht deppert!
Hier ist eingebildete Klugheit am Werk.
Langweilen sollte man aber wirklich nicht.
Affäre Rue de Lourcine, Wien: so gelacht
Ich habe schon lange nicht mehr so gelacht im Theater! Grossartige Schauspieler, grossartige Regie!Chapeau!
Affäre Rue de Lourcine, Wien: in Versalien
GING MIR AUCH SO.WÜRDE ES ABER EHER SCHMUNZELN NENNEN: DAS ZEIT LÄSST FÜR DIE WAHRNEHMUNG DER STÖRUNGEN IM BETRIEBSSYSTEM DIESER ANGEBLICH BESSEREN GESELLSCHAFT: FREY HAT IN DEM STÜCK MIT IHRER BÜHNENBILDNERIN DIE ABSURDEN ABGRÜNDE HINTER DEM SELBSTGERECHTEN JUSTE MILIEU SICHTBAR GEMACHT: DIE IN IHRER MECHANIK TRANSPARENTEN ZEITLUPENSLAPSTICKS ENTWICKLEN SICH AUF EINEM SUBTIL GEWEBTEN KLANGTEPPICH; UND DAS EINGESTREUTE MELANCHOLISCHE VOLKSLIED-GUT VERLEIHT DEM GEPLAPPER DER HOHLKÖPFE EINE SPUR EMOTIONALER TIEFE: GELUNGEN!
Affäre Rue de Lourcine, Wien: Lachen der Gattin
Zu #4
Hier ein kurzes Zitat aus der Merker Kritik (http://www.der-neue-merker.eu/sprechtheater):
"Tatsächlich hat nur Maertens-Gattin Mavie Hörbiger den Zuschauerraum andauernd mit herausforderndem Lachen erfüllt, ohne allerdings das Publikum mitreißen zu können, das Gebotene so lustig zu finden wie sie…"

Tja, was soll man davon halten, lieber Michael?
Affäre Rue de Lourcine, Wien: witzig
Toller Abend eben im Burgtheater. Ofczarek und Maertens große Klasse. Extrem witzig.
Affäre Rue de Lourcine, Wien: unwürdig
Komme gerade aus dem Burgtheater, kann Kommentator #1 nur beipflichten. Selten so ein dürftiges Stück in einer derart dürftigen Inszenierung gesehen. Eines Burgtheaters definitiv nicht würdig.
Affäre Rue de Lourcine, Wien: gut und interessant
Der Abend hat insgesamt Freude gemacht. Eine Freude Ofczarek und Maertens dabei zuzuschauen, wie der Restalkohol dafür sorgt, dass Körper, Geist und Sprechapparat noch nicht wieder funktionieren. Die Geschichte entwickelt sich wie sie im Stück steht, die Verlangsamung der beiden ist nur konsequent, sofern man auf Restalkohohl setzt. 2/3 des Stück war ich damit gut unterhalten, dann hatte sich dieses Mittel für mich verbraucht. Die anderen drei Figuren blieben ein wenig lieblos eindimensional. Das war nicht schlimm, aber verschenkt, wenn man das Stück kennt. Ich bin anderer Meinung als einige meiner Vorschreiber, man kann das Stück selbstverständlich auch langsam und ohne lauten Klamauk spielen. Man muss doch ein Stück heute nicht mehr vom Blatt spielen. Das Bühnenbild fand ich prima, die Müllsäcke, den Keller und die wechselnden Hintergründe der Türen schöne Ideen, die jedoch das Stück nicht wesentlich beeinflusst haben. Für mich ein guter und interessanter Abend.
Die Affäre Rue de Lourcine, Wien: viel zu leise
Gut gespielt, wenn denn so gewollt!? Sehr karges Bühnenbild, passte sich dem Gesamtbild aber an. Schlimm war nur, dass wir kaum etwas richtig verstanden haben. Es wurde viel zu leise und auch sehr undeutlich gesprochen!! Schade, wir haben mehr erwartet.
Affäre Rue de Lourcine, Wien: mit dem Schlaf gerungen
Lähmend, aber vielleicht gehe ich nochmals hin und gib dem Ganzen eine zweite Chance. Oder ich lese es im französischen Original. Jedenfalls habe ich heute sehr mit dem Schlaf gerungen.
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