Mit Wellenschlag und Pipapo

von Marcus Hladek

Marburg, 18. April 2015. Na also, geht doch: völlige Dunkelheit im Theater. Ohne Restglimmen verdeckter Notausgangsleuchten am Bühnenrand, ohne vergessene LED-Lämpchen an der Hinterseite von Scheinwerfern. Dass sich das oft gegebene, nie gehaltene Versprechen völligen Dunkels eben doch verwirklichen lässt, wenn, dank kleiner Zuschauerzahl, Sicherheits-Vorschriften ausnahmsweise ausgehebelt sind, ist die erste Erfahrung mit der jüngsten Produktion der Marburger Reihe "Theater in der Finsternis".

Phantomschmerz des Auges?

Die bringt jeden Frühling am Spielort Historischer Schwanhof eine neue Variante lichtlosen Theaters zur Aufführung. Ob Shakespeares "Sturm" mit salziger Brise oder ob Gegenwartsdrama, stets steckt hinter der Sachlage "lichtlos" (vor Zifferblättern, Mobiltelefonen & Co. wird beim Eintreten gewarnt) die Hoffnung, dass die Ausschaltung des Primärsinns die andern entfesselt, so dass Traumbilder, die Logik des Unbewussten, besser zum Tragen kommen. Mancher erkennt wohl, dass Auge und Gehirn im Dunkel immer noch Lichteffekte produzieren (können). Phantomschmerz des Auges? Oder wir merken, dass die angesprochene Deprivation (Beraubung) ums Licht weniger verändert als erhofft, falls man an Ken Russells Film Gothic und also Experimente mit dem Schweben in der Deprivationskammer dachte. Durch die Pforten der Wahrnehmung zu gehen, zeitigt nicht automatisch mystische Folgen.

Sturz ins Ohr 280 Liquid Penguin Ensemble u Katharina Bihler und Stefan Scheib  beim Töne-Sammeln  © Liquid Penguin Ensemble

Experten fürs Hörorgan

Katharina Bihler und Stefan Scheib (Regie) haben seit Gründung ihres Liquid Penguin Ensemble (1997 in Saarbrücken) wichtige Radio- und Hörspiel-Preise eingeheimst und das Spiel an den Grenzen der Genres (Hörspiel, Klangkunst, Neue Musik, Performance, neue Medien) experimentell erprobt. Hier beginnen sie mit dem menschlichen Embryo in intrauteriner Schwebe, vulgo: im Mutterbauch als unser aller Deprivationskammer, wo alles Klang ist und zum Bild wird.

Vom glucksenden Urvertrauen zwischen Verdauungsgeräusch, Herzschlag und Stimmmelodien stößt das Regieduo zur wissenschaftlichen Expedition des 18. Jahrhunderts von Russland nach Alaska vor, dann ins imaginierte Marburger Anatomische Institut zur Zeit des Friedrich Matthias Claudius. Der Nachfahre Matthias Claudius' (unfehlbar erklingt das Abendlied) war im 19. Jahrhundert Experte fürs Hörorgan und bekam den Schädel der acht Meter langen Stellerschen Riesenseekuh auf den Tisch, worauf er sich laut "Sturz ins Ohr" ausmalte, was jenes Tier im letzten Moment des Lebens gehört haben mochte. Ob es am Stand der Härchen ablesbar wäre?

Entdeckt wurde die Kaltwasser-Seekuh, die ihre Entdeckung als Spezies nur um wenige Jahre überlebte, 1741 vom Forscher in russischen Diensten Georg Wilhelm Steller (einer Hauptfigur), als er mit Vitus Berings Expedition in Alaska überwintern musste. Den langen und gewundenen, aber kurzweiligen Weg aus dem Uterus zum Tisch des Anatomen, literarisch wohl auch im Zug der jüngsten Humboldt-Begeisterung, markieren sieben Übungen und wunderschöne Klang-Bilder wie das von der doppelten Klangwelt Alaskas: einmal wie von Steller vernommen (artikuliert, mit Wellenschlag und Pipapo), ein andermal wie mutmaßlich von der Seekuh gehört (dumpf, unterseeisch).

Wirkende Suggestionen

Der Eintritt der Zuschauer vom Hof in den Spielraum und ins Dunkle wird gleich einem Rückweg in den Mutterschoß sanft begleitet, um nach einer Stunde, im Nachbeben sitzend und wieder Vertrauen in die Augen fassend, in die nächtliche Welt zurückgeboren zu werden. Vier Schauspieler (Julia Glasewald, Alexander Peiler/Thomas Huth, Daniel Sempf, Oda Zuschneid) bewegen sich dazwischen rund um uns (auf Sitzwürfeln in der Mitte) und sagen Text auf. Weitere Stimmen und Geräusche kommen aus der Tonanlage, die maßvoll mit Stereo- und Quadrophonie spielt, dazu Klingeln mit Triangeln, um uns "einzunorden", also in je anderer Himmelsrichtung auf fantasierte Wege durch Marburg (Busfahrt, Straßenlärm) und die Welt, über die Berge und in Meerestiefen zu senden. Eingebaut ist auch ein Running Gag, wenn drei Akteure sehr nasal die eingangs, nach den physikalischen Grundlagen der weitergeleiteten Erschütterung, beschriebenen Hörknöchelchen ("Hammer!" – "Amboss"...) aufzählen.

Das Raffinement im Umgang mit Raum, Klang und Innenraum ist groß, die Mittel moderat. Erstaunlich, wie stark im Dunkeln Suggestionen wirken: der Mythos der großohrigen Hör-Muse Auris oder das legendäre Wachsen der Hörhärchen aus dem Innenohr in die weite Welt. Jene "Übungen" erweisen sich als harmlos: Man ist gebeten, auf Tierstimmen (Vogelzwitschern, Zikaden, Insekten-Geräusche im Urwald) der Tonspur zu achten und eine zu imitieren, oder darf ein Liedchen summen. Sterntaucher und Unterwasserweiden senden uns hör-weise unter die Sterne und in klingende Stillen von Petersburg zu den Seychellen, aber auch in Urgroßvaters Granathagel im Ersten Weltkrieg und die porösen Hohlräume, die er in ihm hinterließ. Schönes Experiment.

 

Sturz ins Ohr – Übungsstunde in Lichtdeprivation
von Liquid Penguin Ensemble für das Theater in der Finsternis
Uraufführung
Text und Regie: Katharina Bihler, Sounddesign und Regie: Stefan Scheib, Dramaturgie: Simon Meienreis, Ton: Carsten Wackernagel.
Mit: Julia Glasewald, Alexander Peiler/Thomas Huth, Daniel Sempf, Oda Zuschneid
Dauer: 1 Stunde, keine Pause

www.liquidpenguin.deliquidpenguin.de
www.theater-marburg.de

 

Kritikenrundschau

Von einer ebenso kurzweiligen wie aufregenden und angenehmen Zeittreise schreibt Jouka Röhm in der Oberhessischen Presse (21.4.2015). "Die Schauspieler zeigen dabei eine enorme Vielfalt", und bilden Röhm zufolge einen ständig sich bewegenden Kompass für das zeitweise blinde Publikum.

Das kurzweilige und mit interessanten Fakten gespickte Stück sei "eine übderraschend farbige Symphonie in tiefster Schwärze", so Jonas Neureither auf Marburg-News.de (21.4.2015). Die plötzliche Sensibilisierung des Gehörs lasse jedes Geräusch zur Ganzkörpererfahrung werden.

 

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