Presseschau vom 24. bis 29. April 2015 – Chris Dercon spricht mit den Medien über seine Pläne für die Volksbühne

Ein Moderator der Veränderung

Ein Moderator der Veränderung

29. April 2015. Im Monopol-Magazin (24.4.2015) interviewt Holger Liebs, in der Süddeutschen Zeitung (25.4.2015) Jörg Häntzschel, im Berliner Tagesspiegel (26.4.2015) Rüdiger Schaper, im Deutschlandradio (25.4.2015) Susanne Burkhardt und in der Zeit Peter Kümmel den designierten Intendanten Chris Dercon über seine Pläne für die Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz.

Die Gründe für den Weggang aus London

London sei eine "schwierige Stadt". Berlin seit zwar auch nicht einfach, aber "hier" könne man "vorausblicken". Man habe eine Chance "mitzumischen und nachzudenken darüber, was eine
Stadt braucht, die sich sozial derart schnell entwickelt". Die Kultur sei ein wichtiger "Wirtschaftsfaktor" in Berlin. Er wolle aus London, von der Bildenden Kunst und der Tate Modern fort gehen, weil die Volksbühne einzigartig sei und sich die anderen Künste immer mehr zur darstellenden Kunst hin entwickelten. Aber Museen besäßen keine Struktur, das "Live-Element einzubinden". Die meisten Besucher der Tate Modern kämen nach eigenem Bekunden der Begegnung wegen. Die Museen von heute seien wie Theaterräume. Das Theater sei ein Begegnungsort, wo "Menschen etwas für Menschen tun. Eine offene Situation. Wir können das Theater noch offener machen, indem wir andere Disziplinen zulassen." Er bekomme jetzt die Möglichkeit, weiterzuentwickeln, was er im Münchner Haus der Kunst angefangen habe – "aber mit einem Stab von Handwerkern und anderen Spezialisten". Außerdem wolle er zurück zu seinen "Wurzeln, Tanz und Theater".

Die Kunst sei heute völlig durchökonomisiert. Er sei sehr daran interessiert, ein Gegengewicht zu entwickeln. "Ich komme nicht aus der bildenden Kunst, um das Theater zu retten. Das Theater muss nicht gerettet werden. Aber vielleicht muss die bildende Kunst ein bisschen geheilt werden." Und – von wegen des "Neoliberalismus", der ihm nachgesagt worden sei: Es sei vergessen worden, dass er "einer der ersten war", der über prekäre Situationen im Kunstbetrieb, über Prekariat, Selbstausbeutung und neue Arbeitsverhältnisse geredet habe. An der Tate habe er immer wieder für bessere Gehälter seiner Leute gestritten. "Ich sage immer wieder, dass Enthusiasmus eine Form von Ausbeutung ist."

Leitungsteam, Ensemble, Repertoire

Seine Leute würden ein Teambilden. Mette Ingvartsen sei darin für neue Choreografie und Performance zuständig, Susanne Kennedy für das Theater, Boris Charmatz repräsentiere den Tanz. Charmatz, Ingvartsen und Kennedy würden auch inszenieren. Bei Romuald Karmakar denke man an Film, dabei sei er ein "Pionier des dokumentarischen Theaters". Mit Alexander Kluge solle es eine konzeptuelle Zusammenarbeit geben.

Dercon unterstreicht, er sei ein Mann des Ensemblees. auch in London arbeite er mit einem Team. "Ich kann nicht mit freien Kuratoren arbeiten. Das liegt mir nicht." Ausgangspunkt an der Volksbühne sei für ihn "ein Ensemble aus Schauspielern und Tänzern. Das Herzstück werden Eigenproduktionen sein." Das Ensemble mache den Unterschied aus zwischen einer Manufaktur und einem Festival. Davon gäbe es genug. Er brauche Gastspiele, aber auch eine feste Basis. Er habe "höchsten Respekt für Kathrin Angerer, Sophie Rois, Jeanne Balibar, Martin Wuttke, Fabian Hinrichs und Bert Neumann". Die Aufführung der die mann von Herbert Fritsch sei eine "großartige Inszenierung", weil sie spannende Fragen stelle: "Was ist das, ein überforderter Zuschauer? Was ist ein unterforderter Zuschauer?" Er werde gern mit allen Mitarbeitern der Volksbühne Gespräche führen. Aber - irgendwo müsse man auch "einen Punkt setzen". "Man" könne nicht ewig irgendwo bleiben, man müsse nachdenken, "warum ist der Punkt jetzt wichtig". Und vielleicht könne "Herr Castorf" seine Arbeit in der Volksbühne fortsetzen.

Was die künstlerischen Protagonisten angeht, so Dercon, sei er nicht daran interessiert, nur "große Künstlernamen" auf die Bühne zu bringen. "Auch nicht daran, dass Helene Grimaud auf der Bühne Klavier spielt und ein Künstler macht eine Wasserinstallation dazu. Was mich interessiert, ist, Stücke für die Bühnen zu entwickeln in unterschiedlichen Dimensionen." Selbstverständlich werde es ein "Repertoire" geben. Die Dinge verschwänden so schnell. Wir würden von "Aktualität terrorisiert". Mit dem Repertoire habe "der Mensch über das gesamte Jahr die Chance, seinen eigenen Kalender zu machen".

Neue Räume, Theater und Netz, Finanzierung

Die Volksbühne habe immer auch die Stadt inszeniert. Die Arbeiten von Bert Neumann seien Beiträge gewesen für die äußere Architektur von Berlin. Das wolle er fortsetzen. Der Rosa-Luxemburg-Platz sei die letzte noch nicht gentrifizierte Insel in Mitte. Dort gebe es Möglichkeiten, mit dem Kino Babylon zu kooperieren. Der Prater solle als Spielstätte bleiben mit seinem "unglaublichen Biergarten". Und weil viele Künstler einen "narrative space" brauchten, käme der Hangar des Flughafen Tempelhof dazu, den man öffnen könne auf die riesige Wiese. Man könne also den Außenraum einbeziehen.

Neben den vier Spielstätten schwebt Dercon außerdem "ein Globaltheater fürs 21. Jahrhundert" vor, "in das Regisseure, Choreografen, Tänzer, Musiker eingeladen werden, für das Netz Formate zu entwickeln – für eine digitale Bühne". Youtube biete alte Theaterinszenierungen. Wer sich Peymanns "Publikumsbeschimpfung" von 1968 anschauen wolle, könne das dort finden. Er habe bereits an der Tate Modern mit dem Netz gearbeitet, jetzt würden er und sein Team Theater für das Netz entwickeln.

Um das Geld für die Bespielung des Hangar 5 in Tempelhof zu besorgen, werde er mit Sponsoren sprechen, die schon für die "Digitale Bühne" Interesse signalisiert hätten. Viele wollten in Berlin "dabei sein". Bildende Künstler, Filmemacher, alle drängten in die darstellende Kunst. Sie sei die Zukunft der Künste. Dafür brauche man die neuen Räumlichkeiten. Man sollte "Schritt für Schritt einen Mix von öffentlichen und privaten Mitteln anstreben". Der Staat habe "die Verpflichtung, Kultur zu präsentieren, aber es gibt auch andere Möglichkeiten". Auch sei über die nicht optimale Auslastung der Volksbühne und die Eintrittspreise zu reden. "Ich finde es wichtig, dass bestimmte Menschen gratis ins Theater kommen können, andere wiederum können mehr bezahlen." "Change Management" sei seine entscheidende Aufgabe.

Zur Diskussion um seine Person und die Zukunft der Berliner Theaterlandschaft

Die jetzige Diskussion findet Dercon nicht nur alt, sondern auch "total regressiv". "Ein Erwin Piscator würde sich im Grabe umdrehen." Zugleich sei sie aber auch "wunderbar". Denn: die Debatte drehe sich um "wesentliche Fragen": "Was ist das Theater der Zukunft? Was macht ein Ensemble aus?" Das sei natürlich keine neue Diskussion, sondern die alte, die sich seit etwa zehn Jahren wiederhole. Doch die "Fragen sind offenbar noch nicht hinreichend beantwortet".

Antje Vollmer habe schon 2004 einen interessanten Text über "Die Zukunft der Berliner Theater.
Konkurrenz oder Reform? Event oder Ensemble?"
  herausgegeben . Alles, was er gehört habe in den letzten Monaten, habe er schon bei Vollmer gelesne. Das höre man auch in Belgien, in den Niederlanden, sogar in Frankreich.

"Seltsam" sei allerdings, dass in Berlin zwar alle von "der Zukunft und dem Neuen" redeten, die Diskussionen um das Theater jedoch "oftmals retrospektiv" seien. Frank Castorf und Bert Neumann machten an der Volksbühne "seit zwanzig Jahren multimediales Theater", verbänden "unterschiedliche Kunstformen" und jetzt komme er, "und plötzlich soll das nicht mehr gelten, werden wieder die alten Terrains abgesteckt". Leider aber sei das normal "für die so genannte horizontale Linke". Revolutionäre bekämen oft Probleme mit Veränderungen. Er fühle sich aber gar nicht als Revolutionär, sondern "als Moderator der Veränderung". "Wenn man an seine eigene Kunst glaubt, muss man auch loslassen und den Stab weitergeben können." Er glaube auch nicht an "Genialität" bei Künstlern. Genialität, das ist "eine Art Atavismus". Ich "arbeite gern im Kollektiv, es geht darum, gemeinsam etwas zu erreichen".

Sein "Credo" sei "nicht Abgrenzung, sondern Kooperation" und Austausch. Er habe schon mit Annemie Vanackere, der Chefin des HAU, mit Thomas Oberender, dem Intendanten der Berliner Festspiele, und Matthias von Hartz von "Foreign Affairs" gesprochen, um zu schauen, was man "miteinander machen" könne.

(mw / jnm)

 

Hier ein Kommentar zu Chris Dercons Ernennung von Christian Rakow sowie eine Polemik von Matthias Weigel wider die Ensembletheater-Nostalgie.

Alle wichtigen Meldungen, Interviews und Pressestimmen zur Diskussion um die Berliner Kulturpolitik, die Zukunft der Berliner Volksbühne, die Nachfolge Frank Castorfs und die Personalie Chris Dercon finden sich in unserer Chronik zum Berliner Theaterstreit.

mehr medienschauen