Uiuiui, der traut sich was

von André Mumot

Berlin, 27. Mai 2015. Man hat es ja schon bekanntgegeben. Im Voraus. Damit bloß keiner überrascht ist, wenn's bei Johann Kresniks erster Berliner Anarchosause seit seiner Villa Verdi von 2013 ordentlich zur Sache geht und man womöglich doch mal weggucken muss. "Die Vorstellung ist für Zuschauer unter 18 Jahren nicht geeignet", hat die Volksbühne wissen lassen. Also wundert man sich nicht, fragt sich höchstens nach einer Weile, ob diese Vorstellung überhaupt für Zuschauer geeignet ist und wenn ja, für welche. Für solche, die sich gern ins Fäustchen lachen und "Höhöhö, das ist jetzt aber ganz schön gewagt" sagen vielleicht. Oder für solche, die sich mit Freuden schockieren lassen und anschließend feststellen, dass sie dringend ihr vom "Konsumfaschismus" korrumpiertes Leben über den Haufen werfen und vielleicht lieber was mit Tanz machen sollten.

Als man dann aber den Jesus am Kreuz reinträgt und ihm der falsche Pimmel abgeschnitten wird, als ihm ein bisschen Kunstblut runterrinnt am weißen Lendenschurz und die Folterer sich die Stückchen genüsslich in den Mund schieben, da geht ein erstes kopfschüttelndes Auflachen durch die Reihen. Weil diese Szene nicht im geringsten schockierend, sondern schlicht albern ist und aus dem tiefsten Winkel des allerverstaubtesten Bürgerschrecktheaters rausgekramt wurde. Genauso wie sämtliche Gummidildos, mit denen an diesem Abend gewedelt und vergewaltigt wird. Auch künstlicher Urin schießt aus den biegsamen Dingern, sodass der Abgeordnete, der Richter, der Bankier, der Bischof und der Offizier die arme Sopranistin (Sarah Behrendt) kompetent anpinkeln können, während sie tapfer versucht, ein Lied zu singen.

Hamburger auf nackter Haut

Der alte Haudegen unter den Querulanten-Choreografen hat Pasolinis de-Sade-Bearbeitung der "120 Tage von Sodom" aus dem faschistischen Kriegsitalien in unsere Gegenwart versetzt, in der die Menschheit von den Bösewichtern des Kapitalismus gegängelt wird. Um das zu versinnbildlichen, hat Hyperrealist Gottfried Helnwein seinem langjährigen künstlerischen Weggefährten Kresnik einen Bühnenraum gebaut, der mit Abstand das Beeindruckendste an der ganzen Arbeit ist: eine gigantische Regalrückwand, bestückt mit einem endlosen Vorrat gängiger Produkte, Dosen, Flaschen, Paketen, bunt beschriftet mit Markennamen wie "Prozac", "Ritalin", "Goldman Sachs" oder "Drones".

Vor dieser einschüchternden Kulisse quält sich ein mit Kot und Blut besudeltes Tanzensemble in bisweilen erstaunlich konventionellen Ausdruckschoreografien, würgt und leidet und lässt sich von den dekadenten Libertins befingern, beißen, abknallen, vor allem aber mit jeder Menge Dirty Talk anplärren. Von Kopf bis Fuß schwarz bemalte nackte "Schergen" (ach je!) tragen die Opfer der Orgien rein und raus, und zwischen ihnen stolziert, ohne mit der Wimper zu zucken, eine hoheitsvolle Ilse Ritter und spricht die kapitalismuskritischen Phrasen aus Christoph Klimkes sogenanntem "Libretto" mit bewundernswerter Überzeugtheit. Doch was soll das retten, wenn die wollüstigen Quäler im nächsten Moment eine nackte Frau vor sich aufbahren, die garniert ist mit allerlei Hamburgern, die die Herren dann gierig verschlingen? Was angeblich kritisiert werden soll, wird ungebrochen wiederholt, sodass die ausgestellte Geilheit sich zugleich als Symptom einer notgeilen, geistig erschreckend stumpfen Inszenierung offenbart.

120 Tage 560 Thomas Aurin hIm Hintergrund werden Hamburger von nackter Haut geklaubt, im Vordergrund stricken Inka Löwendorf und Ilse Ritter an US- und Deutschland-Flaggen – im Konsumfaschismus-Bühnenbild von Gottfried Helnwein. © Thomas Aurin

Es wäre in jedem Fall ärgerlich, umso ärgerlicher aber ist diese künstlerische Unartikuliertheit, da sie sich an einem Film orientiert, der bis heute kaum auszuhalten ist in seiner kalten, abstoßenden und zugleich formvollendet disziplinierten Trostlosigkeit. Die Lust am Quälen, die Lust an der Vergewaltigung und am Töten schildert Pasolini 1975 noch in traumatisierender Sachlichkeit als fortdauernden Teil menschlicher Existenz und schlägt auf implizite Weise den Bogen vom biblischen Sodom, übers Ancien Régime bis in den Faschismus und die Gegenwart der 70er Jahre. Doch wo der Filmemacher jede Ablenkungsmöglichkeit, jede dramaturgische Entlastung verwehrt, setzt Kresnik auf willkürliche Pauschal-Randale.

"Heute ist die Politik ein einziger Supermarkt"

Auch bei ihm kann einem bisweilen übel werden, wenn die von den Autoritäten gefangenen Tänzerinnen und Tänzer mit frisch geschissenen (Fake-)Exkrementen gefüttert werden. Doch dann äußern die Sadisten auch schon wieder unsäglich schlichte Plattheiten wie: "Heute ist die Politik ein einziger Supermarkt" oder "So haben wir sie erzogen: Nichts im Kopf außer Geld, fressen, vögeln und Facebook". Oder "Wir Politiker würden gerne Leichen schänden".

Ein kleines, bandagiertes Mädchen (scheinbar direkt einem von Helnweins charakteristischen Kinder-Gemälden entsprungen) singt "Die Gedanken sind frei", Sarah Behrendt trägt zwischendurch auch mal eine Burka, und die Herren schneiden einer Schwangeren eine blutüberströmte Babypuppe aus dem Bauch, die sie erst zerhacken und dann auf einem echten Grill braten und – natürlich – verspeisen. Drittklassige, unfreiwillig komische Splatterelemente, die das genaue Gegenteil bewirken von Pasolinis gnadenlos nüchterner Körperlichkeit: Hier ist alles Peinlichkeit und Popanz, schrilles, pubertäres Rumgezetere, auf das man blickt wie durch einen Zeittunnel. Ja, es gab wohl mal eine Epoche (mehrere Jahrzehnte ist es her), in der solch ein Attitüdentheater tatsächlich angebracht und befreiend war. Heute, wo Blutrünstigkeiten aller Art (reale und fiktive) unentwegt zugänglich, wo Abstumpfung und Reizüberflutung an der Tagesordnung sind, wirkt diese Sex- und Gewalt-Exploitation jedoch auf geradezu erbärmliche Weise hilflos und unangemessen.

Dabei genügt ein Blick auf die Fotos der grinsenden, folternden Soldaten, die in Abu-Ghraib entstanden sind, um festzustellen, dass Pasolinis Fiktionen von der Realität immer wieder perfekt imitiert werden, dass sie bleibender Teil unseres Alltags sind. Bei Kresnik aber verkommen alle Bezüge bloß zur zynischen, gedanklich ungeordneten Effekthascherei. Was eine Verstörung sein könnte, vielleicht sogar eine Tortur, ist am Ende eben doch nicht mehr als ein frech versauter Altherrenwitz. "Uiuiui, der traut sich was", denkt dann wohl der eine oder die andere. Und klatscht. Und jubelt. Und freut sich, dass es ja doch gar nicht so eklig war in Sodom. Und eigentlich ganz lustig.

 

Die 120 Tage von Sodom
nach Marquis de Sade und Pier Paolo Pasolini
Regie: Johann Kresnik, Libretto: Christoph Klimke, Bühne und Kostüm: Gottfried Helnwein, Musik: Ali Helnwein, Choreografie: Ismael Ivo, Johann Kresnik, Licht: Torsten König, Dramaturgie: Sabine Zielke, Christoph Klimke.
Mit: Sarah Behrendt, Hannes Fischer, Inka Löwendorf, Roland Renner, Ilse Ritter, Enrico Spohn, Helmut Zhuber, Juan Corres Benito, Andrew Pan, Ismael Ivo, Valentina Schisa, Sylvana Seddig, Sara Simeoni, Osvaldo Ventriglia, Elisabetta Violante, Yoshiko Waki, Günter Cornett, Helmut Gerlach, Wagner Peixoto Cordeiro, Arnd Raeder, Christian Schlemmer, Leandro Tamos, Katia Fellin, Paula Knüpling, Ruby Mai Obermann, Estefania Rodriguez, Nathalie Seiß, Marlon Weber, David Eger, Lukas Steltner, Lucia Itxaso Kühlmorgen Unzalu, Aldana Ximena Palacin Gonzáles.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.volksbühne-berlin.de

 

Kritikenrundschau

Kresnik verstärke den Aspekt der totalen Kommerzialisierung sämtlicher Lebensbereiche, so Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (29.5.2015). Bald seien die Figuren auf der Bühne eine "dreck- und blutverschmierte Masse aus Entwürdigung und Elend, Schmerz und Schmach". Kresnik arrangiere sie in barbarischen Sequenzen der Auslöschung, in harten Formationen gebrochener Individualität, in sich windenden Knäueln. Aber "das Übermaß an nackten, geschundenen Körpern in immer neuen Höllenkreisen stumpft schließlich mehr ab, als dass es erschüttert". Bei all dem Blut wirke die Inszenierung rasch seltsam blutleer. Fazit: "Die unendliche Wut über die globalen Missverhältnisse ist dennoch beeindruckend. Kresnik fügt sich nicht ins System ein, er will es erledigen. Dass er dabei scheitern muss, weiß er natürlich. Dass Kresnik darüber keineswegs resigniert, verdient trotz der weidlich ausgekosteten Schockästhetik höchsten Respekt."

"Johann Kresnik hat das Erwartete getan und auch wieder nicht. Er hat versucht sich selbst zu überbieten und eine Riesenschweinerei angerichtet", so Michaela Schlagenwerth in der Berliner Zeitung (29.5.2015). "Die unteren Chargen müssen alle weitgehend nackt und blutbeschmiert über die Bühne rutschen, derweil die wichtigeren Darsteller ihre Sachen meistenteils anbehalten dürfen." Nein, man schaue nicht gern zu, auch wenn es teilweise etwas von einem grotesken Splatter habe. "Zum großen Finale wird Katastrophe auf Katastrophe geschichtet. Geschändete Puppenleichen fallen aus dem Schnürboden, Porträts von Karl Marx, Che Guevara, Rosa Luxemburg und Pasolini werden zerhackt", Kresnik mache sein Ding und lasse sich nicht beirren. 

"Ein irrer Tanz der Konsumopfer: Herren in Anzügen, Frauen in Schulmädchenuniformen, jugendliche Punks - einfach jeder scheint von Gangnam Style und berauschendem Warenterror angesteckt", wäre es doch bei diesen ersten fünf Minuten geblieben", so Elisabeth Nehring im DLF Kultur heute (28.5.2015). In denen bringe Regisseur Johann Kresnik sein Thema wirksamer und beeindruckender auf den Punkt, als in den folgenden eineinhalb Stunden. "Johann Kresnik geht es scheinbar wirklich um Gesellschafts- und Zivilisationskritik; doch seine Haudegen-Mentalität kennt weder dramaturgische Entwicklung noch thematische Tiefe oder gar irgendeine Art von Erkenntnisvermittlung und so gehen wir angesichts dieser an unfreiwillige Persiflage grenzenden Verbrechen und Leiden vollkommen ungerührt aus der Vorstellung."

"Kresniks Bühnenorgie wirkt nicht anstößig, sondern nur abgeschmackt", schreibt Sandra Luzina im Tagesspiegel (30.5.2015). "Kresniks Weltsicht ist überaus schlicht: Die Jungen sind verblödet, die Alten sind versaut." Der Regisseur und Choreograph "verrührt auf peinigende Weise abgelutschte Brachial-Ästhetik und altlinke Agitation."

 

mehr nachtkritiken