Der Fremde auf meinem Berg

von Esther Boldt 

Mannheim, 6. März 2008. Schon immer haftete den Bergen Mythisches an. Sie verkünden den Rand der Zivilisation und einen unbeherrschbaren Rest Natur – und das in nächster Nähe. Hier kann ein Blick von einem Gipfel fremde Welten eröffnen und ein Wetterumschwung Leben kosten. Aus einer solchen Grenzsituation hat der 27-jährige Schweizer Autor Lorenz Langenegger ein Stück gemacht, "Nah und hoch hinaus".

Zwei Menschen verpassen sich knapp auf dem Weg zum Gipfel, ein Vater und seine Tochter. Schon immer haben sie sich verpasst, ganz früher, als er sie tagsüber der Arbeit wegen kaum mitbekam, sich aber nachts an ihr Bett schlich, um ihr beim Schlafen zu zuschauen. Doch sie schlief gar nicht, sie tat nur so, während sie sich fragte, was "der fremde Mann, der mein Vater war" da tat.

Vorsicht Erdrutsch!

Diese verpatzte Familienzusammenführung hat Christiane J. Schneider nun im Studio des Nationaltheaters Mannheim uraufgeführt. Am linken Rand der kleinen Bühne hängt ein überdimensionaler Eiszapfen von der Decke, zusammengesetzt aus lauter leeren Wasserflaschen: eine kühle Bedrohung in Plastik. Drei Holzstöße dienen wahlweise als Bank, Bett oder Theke, umgrenzt von rotem Absperrseil, als sei die Spielfläche durch Absturz oder Erdrutsch gefährdet.

Die Holzstöße markieren die Hütte, in der der Vater auf seine Tochter wartet und die Tochter auf ihren Vater. Allerdings zeitlich verschoben, das ist der dramatische Clou des Stückes und seine primäre Spannungsquelle: Der Vater hat seine Tochter gebeten, zu seinem 65. Geburtstag auf eine Berghütte zu kommen. Mit der etwas naiven Idee, die jahrelange Fremdheit durch einen gemeinsamen Gipfelsturm hinwegschaffen zu können. Doch sie hat seine Nachricht nicht gelesen. Er geht allein zum Gipfel und verschwindet. Als er nicht zurückkehrt, ruft der Hüttenbesitzer die Tochter an, die wiederum auf die Rückkehr des Vaters wartet. Beide Situationen laufen im Stück parallel, ständig wird hin und her gezappt, hier der Vater und der Besitzer der Hütte, der schlicht "Mann" heißt, dort der Mann und die wartende Tochter Alice, die als einzige im Dreiergespann einen Namen hat.

Plötzliches Bündnis

Zeitwechsel im Kammerspielformat sind ohnehin nicht leicht zu inszenieren und brauchen hohe Präzision. Die gelingt dem Trio aber nicht. Jacques Malans Vater schlägt der emotionalen Grenzsituation immer noch ein bisschen Pathos drauf. Isabelle Höpfner spielt die Alice mit Neigung zu nervtötenden hysterischen Aussetzern, und wenn sie, die Forscherin, von ihrer Arbeit spricht oder auch von Kindheitserinnerungen, starrt sie mit leerem, glasigem Blick in Richtung Publikum. Der Mann (Jens Atzorn) wird da schnell zur undankbaren Mittlerfigur, zum reinen Stichwortgeber, der den Redeschwällen des Vaters zuhört und der abwechselnd krampfhaft-beherrschten und kreischenden Alice zusieht. Als sich der Mann und Alice gen Ende umarmen, kommt das ganz plötzlich und muss wohl eine Verlegenheitsgeste ein.

Denn insgesamt passiert zwischen den Figuren nicht viel. Bei Langenegger nicht und nicht in Schneiders Inszenierung, in der das Trio seltsam isoliert voneinander im leeren Raum agiert. Zwar stattet der Autor sie mit allerlei drolligen Anekdoten aus, doch wird alles immer nur angerissen. So konnte der Vater nach der Scheidung nicht mehr schlafen, weil er seiner Tochter nicht mehr beim Schlafen zugucken konnte. Alice selbst hat sich in Afrika die Schlafkrankheit eingefangen, an deren Bekämpfung sie forscht. Diese Doppelungen häufen sich und sollen vermutlich für Dichte sorgen, stellen aber vielmehr motivische Armut her: Man hätte gern noch etwas mehr erfahren.

Denn natürlich haftet dieser innerfamiliären, elementaren Fremdheit etwas Zwingendes an, das aber nicht ausgeführt wird. So hat sich die Geschichte bald erschöpft, verliert auch das Zeitverschieben seinen Reiz, und Christiane J. Schneiders zaghaft-brave Regie hat dem nicht viel hinzuzufügen. Kein Gipfelsturm in Sicht.

 

Nah und hoch hinaus
von Lorenz Langenegger (UA)
Regie: Christiane J. Schneider, Bühne: Anke Niehammer, Kostüme: Janine Werthmann. Mit: Isabelle Höpfner, Jacques Malan, Jens Atzorn.

www.nationaltheater-mannheim.de


Mehr zu Christiane J. Schneider, deren Inszenierung von Lars von Triers Der Boss vom Ganzen im Oktober 2007 in Mannheim Premiere hatte.

 

Kritikenrundschau 

Lorenz Langenegger ist für Ralf-Carl Langhals (Mannheimer Morgen, 8.3.2008) "ein sprachbegabter junger Mann, konstruktions- und verschränkungsfreudig". Und die Inszenierung von Christiane J. Schneider ist ihm zufolge "sprachlich interessantes, aber verrätseltes Hörspieltheater". Mit "Ruhe" habe sie das Dreipersonenstück auf die Werkhausbühne gestellt. Das "Schrille" liege dieser Regisseurin nicht. "Aber bis es zum Showdown kommt, empfindet man selbst die Hysterieschwäche als wohltuende Lebendigkeit. Bis dahin warten wir."

In der Süddeutschen Zeitung (14.3.2008) bringt Jürgen Berger den Konflikt von "Nah und hoch hinaus" wie folgt auf den Punkt: "Bei Lorenz Langenegger ... brennt ein älterer Herr für eine junge Frau – das Ganze wirkt aber insofern tragisch, als er ihr Vater ist und schon mal eifersüchtig in das Hotelzimmer trampelt, wo sie gerade mit einem Kollegen im Bett ist." Jacques Malan könne durchaus vermitteln, "von welchen Verlustängsten so ein Vater geplagt sein kann. Den Schmerz des einsamen alten Mannes übersetzt er allerdings so pathetisch, dass man meint, er sei Mitglied der GDL und habe sich an harten Streiktagen das Gemüt erhitzt." Ähnliches lasse sich von Isabelle Höpfner sagen, "welche die sentimentale Hassliebe der Tochter eher dezent spielt. Dann wieder erlaubt sie sich derart hyperventilierende Hysterien, dass man ihr eine Regisseurin gewünscht hätte, die klare Grenzen setzt." Christiane J. Schneider aber arbeite zwar "handwerklich sauber, neigt jedoch gelegentlich dazu, Schauspieler sich selbst zu überlassen."

 
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