Krieg (und Frieden) und Schuld (und Sühne)

von Elisabeth Maier

Karlsruhe, 7. Juni 2015. Das schreckliche Gesicht des Kriegs in Georgien offenbaren fünf Frauen in Data Tavadzes Euripides-Inszenierung "Die Troerinnen". Starr blicken die Akteurinnen ins Leere. Sie erzählen vom Tod ihrer Männer und Söhne. Flüsterstimmen versickern in der Klangwüste. "Jetzt lebe ich im Frieden", sagt der 26-jährige Regisseur später. "Aber wenn wir uns in Georgien nicht an den Krieg erinnern, geht es wieder los." Tavadzes radikales Theater gegen den Krieg offenbart eine starke Regie-Handschrift. Die Nachfrage beim Karlsruher Publikum des Festivals "Premières" war so groß, dass spontan eine dritte Vorstellung ins Programm geschoben wurde.

Eröffnung mit Camus: "Das Missverständnis" von Nikolaus Habjan

Zehn junge Regisseure aus Europa zeigten Arbeiten bei der zehnten Ausgabe der "Premières", der Schwerpunkt lag auf ästhetischen Grenzgängen. Auf Anstoß der Dramaturgin und Kritikerin Barbara Engelhardt haben 2005 zunächst die Strasbourger Häuser Théâtre National und Le Maillon an einem Strang gezogen, um Regietalenten eine Plattform zu bieten. Wegen knapper Mittel stand das Festival auf der Kippe, bevor 2013 das Staatstheater Karlsruhe mit einstieg; seitdem findet "Premières" im jährlichen Wechsel in Strasbourg und Karlsruhe statt. Und hinterlässt, nebenbei gesagt, auch im regulären Karlsruher Spielplan Spuren: Csaba Polgàr, Premières-Gast 2013, wird in der kommenden Spielzeit "Hamlet" in Karlsruhe inszenieren. Der Österreicher Nikolaus Habjan, dessen Grazer Inszenierung von Albert Camus' Heimkehrer-Drama "Das Missverständnis" das diesjährige Festival eröffnete, kommt 2016 als Regisseur für Falk Richters "Small Town Boy".

Missverstaendnis 560 LupiSpuma uCamus mit Puppen: "Das Missverständnis" © Lupi Spuma

In "Das Missverständnis" agieren die Schauspieler mit lebensgroßen Puppen, die Mutter und Schwester des Protagonisten verkörpern, der seine Wurzeln sucht. Sobald er ihnen begegnet, wird er selbst zur reinen Figur. Einsamkeit und Kälte, aber auch eine tiefe Zerbrechlichkeit strahlen Habjans Puppen aus. Die Frauen wollen aus dem Gefängnis ihres Lebens ausbrechen, das sich in einem düsteren Hotel abspielt. So töten sie den Heimkehrer, um an sein Geld zu kommen. Dass er ihr verlorener Sohn war, bemerken sie erst danach. Klug spielt der Regisseur und Puppenspieler mit der Reibung der Formen. Wenn den Menschen die Worte fehlen, artikulieren die Figuren ihre Gefühle als endlose stumme Schreie, die im dunklen Angstraum verhallen. Mit großem Respekt vor dem Text, den Camus 1943 im von den Nazis besetzten Paris schrieb, erschafft Habjan ein zeitloses Universum.

Krimi-Stimmung vs. Komplexität: "Timon/Titus" von David Czesienski

Der politische Bezug von Shakespeares Dramen "Timon von Athen" und "Titus Andronicus" reizt den Berliner Regisseur David Czesienski in seiner Inszenierung "Timon / Titus" zusammen mit dem Collectif OS'O aus Bordeaux. Er verknüpft das Familiensaga-Motiv um das Erbe eines toten Vaters mit den Theorien des amerikanischen Ethnologen David Graeber, der über Schuld und die Schuldenkrise forscht. Die Schauspieler machen den Kampf der Geschwister zu einem Krimi, was mitreißend ist, dem Regie-Motiv der komplexen Aktualisierung aber zuwider läuft. Die politische Debatte wird verwischt.

Titus 560 PierrePlanchenault uSchuld und Schulden mit Shakespeare und Graeber: "Timon/Titus". © Pierre Planchenault

Die niederländische Regisseurin Emke Idema macht die Zuschauer im Bühnenexperiment "Rule" selbst zu Akteuren, die gemeinsam ihre Position finden sollen. Als Moderatorin gibt sie die Regeln vor. Im Verhalten des Publikums spürt sie kulturelle Unterschiede auf. Markus und Markus interpretieren Ibsens "Gespenster" neu, indem sie eine schwerstkranke Frau auf dem Weg zur Sterbehilfe begleiten. Ihre Gratwanderung zwischen dokumentarischer Recherche und Poesie (hier die Nachtkritik von der Schweizer Premiere) ist stark. Filmfantasien im Stil Andrej Tarkowskis stehen im Mittelpunkt von Anja Tillbergs opulenter Produktion "Pourquoi Ève". In das Leben eines Eigenbrötlers, der hinter einer Glasscheibe lebt, platzt eine Frau, die seine Denkmuster hinterfragt. Erwartungen und Sehweisen des Publikums werden lustvoll auf den Kopf gestellt. Tillbergs Tasten nach ästhetischen Formen ist in ihrer ersten Regiearbeit nicht ausgereift. Die Produktion weckt trotzdem Neugier auf mehr – so wie das ganze, vom Karlsruher Publikum gut angenommene Festival.

 

Die Troerinnen
nach Motiven von Euripides
Regie: Data Tavadze, Bühne und Kostüme: Maya Sakhitkhusisvili, Musik: Nika Pasuri, Dramaturgie: Davit Gabunia.
Mit: Nato Kakhidze, Ekatarina Kalatozishvili, Magda Lebanidze, Salome Maisashvili, Ketevan Shatirishvili.
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten

Das Missverständnis
von Albert Camus
Regie: Nikolaus Habjan, Bühne: Jakob Brossmann, Kostüme: Denise Heschl, Dramaturgie: Heike Müller-Merten.
Mit: Nikolaus Habjan, Florian Köhler, Seyneb Saleh.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten

Timon/Titus
nach Motiven von William Shakespeare
Regie: David Czesienski, Bühne und Kostüme: Lucie Hannequin, Musik: Maxence Van De Velde, Dramaturgie: Alda Breitag.
Mit: Roxane Brumachon, Bess Davies, Mathiez Erhard, Baptiste Girard, Lucie Hannequin, Marion Lambert, Tom Linton.
Dauer: 2 Stunden 20 Minuten

www.festivalpremieres.eu
 

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Kommentare  
Premières, Karlsruhe: kontroverser
(...) Lauter Behauptungen und Aufzählungen, (...) . Das Festival war sehr viel interessanter und auch kontroverser als es sich hier liest.

(Liebe/r Hildegard, was war denn kontrovers? Ergänzen Sie doch den Bericht um die Beschreibung Ihres anderen Erlebnisses. MfG, die Redaktion)
Premières, Karlsruhe: Highlight
Die in der Kritik auch erwähnte Inszenierung von Markus&Markus, "Ibsen:Gespenster" war das absolut tollste, mutigste und inhaltlich interessanteste, was ich die letzten paar Theaterjahre sehen durfte. Danke dafür!
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