Die Verhässlichung des Menschen

von Falk Schreiber

Hamburg, 15. Juni 2015. Das Wetter, immerhin, ist ein Versprechen. "Nur in Hamburg kann man so mediterran leben, wie man in Hamburg leben kann", eröffnet Thalia-Intendant Joachim Lux das Körber Studio Junge Regie, was den eingeladenen Theaternachwuchs rhetorisch ein wenig verunglückt, aber nicht ohne Charme daran erinnern soll, dass dieses fünftägige Minifestival der deutschsprachigen Regieausbildungen vor allem ein Ort des Austauschs sein soll: Die warmen Abende in der Thalia-Außenstelle Gaußstraße laden dazu ein, zu trinken, zu diskutieren, zu feiern.

Eindruck machen

Allerdings sitzt der Zuschauerraum voller Scouts, Dramaturgen, Intendanten, da versuchen die eingeladenen Regiestudenten natürlich, zu glänzen, auf dass sie bestenfalls von der Hochschule weg engagiert werden. Immerhin erhielten den mit 10.000 Euro dotierten Festivalpreis während der vergangenen zwölf Ausgaben unter anderem David Bösch (2003), Julia Hölscher (2007) und Malte C. Lachmann (2012), es sind durchaus Karrieren, die bei diesem Festival begründet wurden. (Dass zuletzt eher postdramatisch-akademische Formate ausgezeichnet wurden, die im traditionellen Stadttheaterbetrieb wenig Chancen haben, ist kein Widerspruch: Es geht ja eigentlich nicht um die 10.000 Euro, es geht darum, Eindruck zu machen.)

Ulrike 560 Krafft Angerer u"Ulrike Maria Stuart", Regie Pia Richter, Otto-Falckenberg-Schule München  © Krafft Angerer 

Und Eindruck macht auf jeden Fall Pia Richter von der Münchner Otto-Falckenberg-Schule. Elfriede Jelineks "Ulrike Maria Stuart" ist bei ihr ein analytisches Spiel zwischen Kälte und Coolness, abgeklärt, reflektiert, mit einem individuellen Zugriff, der das bei Jelinek angelegte, in früheren Inszenierungen aber eher zweitrangige Mutterschaftsthema in den Mittelpunkt stellt. Eine kluge Inszenierung, passgenau für mittelgroße Studiobühnen, freilich auch eine Inszenierung, die Jelineks hochpolitisches RAF-Stück konsequent entpolitisiert.

Depression

Ironisch: Eine Arbeit wie "Ulrike Maria Stuart" erfüllt in ihrer handwerklichen Perfektion optimal die Anforderungen des Stadttheatersystems, während Annalena Maas' Inszenierung "Weiße Wüste", ebenfalls aus München (von der Bayerischen Theaterakademie August Everding), eben jenes Anforderungserfüllen thematisiert. Beziehungsweise die Folgen des ständigen Funktionierenmüssens: Burnout, Depression. Interessanterweise stellt Dramaturgin Antonia Tretter im Publikumsgespräch den statistisch signifikanten Anstieg von Depressionsfällen während der vergangenen 15 Jahre in direkten Bezug zu den Studienbedingungen: "Die Bolognareform sorgt für die Durchformung der Ausbildung nach den Forderungen der Leistungsgesellschaft." Doppelt ironisch: dass gerade "Weiße Wüste" mit genauer Figurenzeichnung und szenisch einleuchtendem Aufbau diesen Leistungsgedanken ebenfalls ganz gut verinnerlicht hat.

Poor 560 Krafft Angerer u"Stop being poor", Regie und Performance: Anders Firing Aardal, Matias Askvik, David Jensen, Marthe Sofie Løkeland Eide, Ylva Owren und Heiki Eero Riipinen, Theaterakademie Fredrikstad / Norwegen  © Krafft Angerer

Kontrastprogramm

Anders Firing Aardal, Matias Askvik, David Jensen, Marthe Sofie Løkeland Eide, Ylva Owren und Heiki Eero Riipinen liefern mit "Stop being poor" das Kontrastprogramm zur Marktförmigkeit. Das Regie/Performer-Team kommt als nicht-deutschsprachiger Gast von der Norwegischen Theaterakademie Fredrikstad und hat ein charmant-unfertiges Stück mitgebracht, das seine Zeit braucht, um in die Gänge zu kommen, um dann mit umso größerer Wucht ein Tableau der Verhässlichung des Menschen im Dienstleistungskapitalismus zu zeichnen. "Stop being poor" trägt mit forciertem Motivationstrainersprech (Don't be evil! Connecting people! Think big!) nicht über rund 70 Minuten, und doch (oder gerade deswegen?) schafft es das Sextett immer wieder, Selbstoptimierung und Karrieredenken in einen Abgrund kippen zu lassen, inklusive Drastik, Demütigung und aufs Reizendste eingesauter Bühne.

Hai im Stadttheater

Vielleicht hat man hier die Extrempositionen dieses Festivals abgesteckt. Auf der einen Seite stehen Arbeiten, die ganz klar auf einen Theatermarkt jenseits der freien Szene hin konzipiert sind: Sören Hornungs (Akademie für Darstellende Kunst Baden-Württemberg, Ludwigsburg) "Ein Volksfeind" etwa, mit von Herbert Fritsch abgegucktem expressiven Spiel, Publikumsansprache, Meta-Theater, Video und trotz alledem ehrfürchtiger Ibsen-Treue. Oder Matthias Ripperts "Der Volkshai" vom Wiener Max-Reinhardt-Seminar, der böse Zwilling von Hornungs "Volksfeind"-Inszenierung, der die Professionalisierung so weit treibt, dass er seine Abschlussarbeit als Koproduktion mit dem Theater Bonn erarbeitet hat, wo die Produktion seit Januar im Repertoire läuft (was durchaus die Frage nach der Vergleichbarkeit von "Der Volkshai" mit dem übrigen Feld aufwirft).

Societe002 560 krafft angerer u"Société des Amis – Tindermatch im Oderbruch", Regie: Jan Koslowski und Nele Stuhler,
Zürcher Hochschule der Künste  © Krafft Angerer

Und auf der anderen Seite stehen Arbeiten, die solcher (ganz und gar nicht verwerflichen) Anpassungsleistung fröhlich den Mittelfinger zeigen: "J.U.D.I.T.H." von und mit Marja Christians und Isabel Schwenk (Universität Hildesheim) etwa, das Friedrich Hebbels Drama postdramatisch befragt und in eine spielerisch-pornografische (aber leider auch etwas kalkuliert daherkommende) Performance kippen lässt. Oder "Société des Amis – Tindermatch im Oderbruch" von Jan Koslowski und Nele Stuhler (Zürcher Hochschule der Künste), das einen kindlich idealisierten Freundschaftsbegriff in einen Fünf-Freunde-Horror kippen lässt, Camp im doppelten Wortsinn.

"Spiel ______________________________________________________________________________ Räume"

Ein Motto hat die Festivalleitung im übrigen ebenfalls ausgegeben, welches freilich weitgehend ignoriert wird. Was vielleicht auch daran liegt, dass "Spiel-Räume" im Grunde alles oder nichts bedeuten kann. Wo das Motto aber ernst genommen wird, sind die Ergebnisse zumindest ... interessant (wobei "interessant" hier allerdings auch heißt: künstlerisch nicht immer überzeugend). Simon Möllendorfs (Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt) "2,7 D Wir gehen in die Berge um zu schweigen und zeichnen Karten um uns zu verirren" etwa ist ein hermetischer Abend, mehr Installation als Theater, quälend langsam. Eine Struktur wird aufgebaut, eine Struktur wird wieder abgebaut: "Gesten. Ohne Zweck" heißt es an einer Stelle. Stöhnen im Publikum. Oder "Flimmerskotom" von Gregor Glogowski, Alisa Hecke und Benjamin Hoesch (Institut für Angewandte Theaterwissenschaft Gießen), ausstattungsverliebter Technomummenschanz, dessen handwerkliche Perfektion darüber hinwegtäuscht, dass die Einladung dieser Produktion zu einem Junge-Regie-Festival ein schweres Missverständnis ist.

27D 560 Krafft Angerer u"2,7 D Wir gehen in die Berge um zu schweigen und zeichnen Karten um uns zu verirren", Regie: Simon Möllendorf, Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt  © Krafft Angerer

Nackt, jung und schön

"Ein schwacher Jahrgang!" wird in den Stückpausen gemunkelt, und tatsächlich fehlen ein wenig die Ausreißer, die Höhepunkte, aber auch die Trends, über die man sich ärgern kann. Pop als affirmative Strategie scheint jedenfalls vollkommen out. Live-Video ist nicht totzukriegen. Und es gibt im Vergleich zu den Vorjahren eine Tendenz zu mehr nackter Haut, allerdings geschlechterparitätisch gerecht verteilt und zudem reflektiert eingesetzt: "Zwei Personen", beschreiben sich Christians und Schwenk aus Hildesheim selbst, "gebildet, jung, schlank und weiß. Wir haben eine privilegierte Position im neoliberalen Geschlechterregime." Die Beiden wissen sehr gut, dass ihnen ihre Nacktperformance vor allem deswegen leicht fällt, weil sie ziemlich attraktiv sind, und sie wissen auch, dass das ein Problem ist.

Krachend

Aber sonst? Echte Aufreger? Der allzu unkritische Umgang mit Realismus in David Schnaegelbergers "Vor Sonnenaufgang" (Mozarteum Salzburg) vielleicht? Die beflissene Bravheit, die Inszenierungen wie "FaustIn and out" von Paulina Neukampf (Theaterakademie Hamburg) oder "Judith" von Tim Hebborn (Folkwang Universität der Künste Essen) prägt?

Woran man einen Juden erkennt 560 Krafft Angerer u"Woran man einen Juden erkennen kann", Noam Brusilovsky, Hochschule für Schauspielkunst
Ernst Busch Berlin  © Krafft Angerer

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Am Ende ist man schon froh über eine Arbeit wie Noam Brusilovskys "Woran man einen Juden erkennen kann" (Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch, Berlin), die ihre Heterogenität nicht in den Griff bekommt und das schwierige Thema Identität versus Stereotypen krachend gegen die Wand fährt. Weil da endlich einmal jemand gegen die Wand fährt, ohne gleich das (Regie-)Theater als Ganzes für obsolet zu erklären.

Preise

Der undotierte Publikumspreis bleibt in Hamburg und geht an "FaustIn and out" von Paulina Neukampf – kann man machen, hätte man aber auch anders vergeben können. Dass die 10.000 Euro Preisgeld am Ende an die norwegische Produktion "Stop being poor" gehen, kann hingegen auch als schallende Ohrfeige an die übrigen Teilnehmer interpretiert werden.

Preistraeger001 280 krafft angerer uPreis an das norwegische Performancekollektiv von "Stop being poor", hier mit Rita Thiele
© Krafft Angerer
Die Jury aus Peter Carp (Intendant Theater Oberhausen), Cornelia Fiedler (Journalistin, unter anderem für Nachtkritik), Rita Thiele (Chefdramaturgin Schauspielhaus Hamburg), Christoph Rodatz (Theaterwissenschaftler) und Roger Vontobel (Regisseur) spricht sich nach fünf kräftezehrenden Festivaltagen mit klarer Mehrheit für die inhaltlich wie formal radikalste Setzung des Festivals aus, das Stück, das, so Carp, von allen gezeigten Arbeiten am meisten State of the art gewesen sei. Thiele bemängelt die politische Harmlosigkeit mancher Produktionen, ein Befund, der für "Stop being poor" nicht gelte. Und Fiedler betont, dass die gezeigte neoliberale Arbeitswelt keine Welt sei, in der man die Schuld auf irgendeinen bösen Boss schieben könne: "Wir sind diejenigen, die diese Maschine am Laufen halten!" Ein kleiner Seitenhieb gegen die Teilnehmer, die das Festival mit marktgängigen Produktionen als Karriereturbo verstehen, dabei den Solidaritätsgedanken vernachlässigen und so die neoliberalen Arbeitsbedingungen auch in der Kunst durchsetzen. Immerhin, das von Intendant Lux in seiner Begrüßung beschworene schöne Wetter, das Schmiermittel fürs Feiern, Diskutieren und Solidarisieren, es hat auch nicht gehalten, ach.

 

Körber Studio Junge Regie 2015

www.thalia-theater.de
www.koerber-stiftung.de