Presseschau vom 20. Juni 2015 – Der Deutschlandfunk über den Wandel der europäischen Theaterlandschaft

Gefangene der Gegenwart

Gefangene der Gegenwart

20. Juni 2015. Im Deutschlandfunk setzt sich Eberhard Spreng mit dem Wandel der Theaterlandschaft in Europa weg von festen Ensembles hin zu Produktions- und Kooperationshäusern auseinander. "Zugunsten von Cross-Media-Formaten, vorzugsweise von Tanz und Performance. Hier entscheiden nun in der Regel nicht mehr die Dramaturgie und Intendanz autonom über Stücke, Spielzeitthemen, über Bühnenbilder und Raumkonzepte. Stattdessen wird sich ein Verbund aus Koproduzenten und gegebenenfalls öffentlichen Förderinstitutionen im Voraus über die Projekte einigen – auf der Basis von Projektbeschreibungen auf Papier."

Als Beispiel dient vor allem Frankreich, wo einzig die Comédie Française noch über ein festes Ensemble verfüge. Immer mehr Theater verwandelten sich in Kulturhäuser, in Eventbühnen, "mit Angeboten unter anderem für Randgruppen aus sozialen Brennpunkten". Die Bühne werde "zum eiligen Reparaturbetrieb für die Versäumnisse der Sozial- und Stadtpolitik". Auch in Deutschland forderten "immer mehr klamme Bürgermeister als Gegenleistung für ihre Kulturausgaben sofortige sozialpolitische Effekte ohne gedankliche Fundierung". Auch Chris Dercon und die Berliner Kulturpolitik "werden noch zu beweisen haben, dass die geplante Volksbühnen-Bespielung eines Hangars im ehemaligen Flughafen Tempelhof etwas anderes ist als die kulturelle Aufhübschung in der Brache einer gescheiterten Stadtplanung".

Während Ulrich Khuon, Intendant des Berliner Deutschen Theaters, den Paradigmenwechsel in einer wachsenden Skepsis der Gesellschaft gegenüber der Empathie und einer daraus folgenden Legitimationskrise der schauspielerischen Repräsentation sehe, nenne der französische Regisseur und Schauspieler Jean-Pierre Vincent die zeitgenössischen Kulturmoden "Aktualismus": "Der metaphysische Beitrag des Theaters interessiert nicht mehr. Die emanzipatorische Chance auf das 'radikal Andere', das Abwesende und Unsichtbare als Denk- oder Wahrnehmungsfiguren verschwindet. Aus den herrschenden Verhältnissen kann nun nicht mehr ausgebrochen werden. Wir alle werden sowohl in der neoliberalen Welt der Waren als auch in der Welt der theatralen Zeichen zu Gefangenen der Gegenwart."

(geka)

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