Von Fluchten 

von Dorothea Marcus

Essen, 7. März 2008. Asylpolitik? Schon beim Wort schaltet man gerne auf inneren Durchzug. Dabei könnte jedes Flüchtlingsleben ein Roman sein und hat alles, was ein Drama braucht: existentielle Entscheidungen, die Suche nach Weiterentwicklung und Wiederkehr, schwere Lebensbrüche und manchmal erfüllte Träume. Eigentlich erstaunlich, dass Migrantenleben bisher so selten auf dem Theater behandelt wurden.

Zum Beispiel Eustache Nkerinka. Einst träumte er davon, Pastor zu werden, dann wurde er Diplomat in Ruanda. Mit dem lybischen Ex-Staatschef Ghaddafi hat er sich neunmal getroffen, dinierte aber auch mit Jimmy Carter und dem Diktator von Nairobi. Bis mehrere Mordversuche an ihm verübt und er zur Flucht gezwungen wurde, mit Hilfe von zwei deutschen Diplomaten.

Heute lebt er in Essen von Hartz IV, soviel hatte er früher jeden Tag zur Verfügung. Am liebsten hört der schwarze Mann mit dem runden Gesicht und der hellblauen Krawatte Haydn, Händel und Beethoven auf einem rosa Barocksofa.

Beschämende Nähe
Um ihn und sieben andere "Flüchtlingsexperten" geht es in dem ersten von drei "Stadtprojekten" am Schauspiel Essen. Im Stil von Rimini Protokoll hat die Kölner Regisseurin Mirjam Strunk Menschen auf die Bühne gestellt, die dem durchschnittlichen Theaterbesucher von fremden Welten aus Grenzzäunen, Asylanträgen und Flüchtlingswohnheimen erzählen; Welten, die beschämend nah an der eigenen Wirklichkeit liegen und gewissermaßen ihre Kehrseite sind.

Und so erzählt dieser Abend nicht nur von derlei trockenen Dinge wie Asylpolitik und europäischer Abschottung, sondern hinterfragt auf berührende Weise vermeintliche Selbstverständlichkeiten: die Gnade kohärenter Lebensläufe; den Preis, den Entscheidungen kosten; die keineswegs selbstverständliche Wohltat, die Familie im eigenen Land zu wissen. Aus "Asylanten" werden hier Menschen mit Geschichten, deren poetische Wucht man spüren kann – und nicht lediglich pflichtschuldig in der Zeitung verfolgt.

Die Bühne (Cordula Körber) besteht aus Stühlen, Tischen, Overheadprojektoren – und einer Wand. Zunächst wird darauf die Adresse des Bundesamts für Migration in Düsseldorf eingeblendet, und wir erfahren vom Flüchtlingsberater Uwe Pfromm, dass wir 9 Euro 53 Cent Bargeld erhielten, wenn wir in Deutschland ankämen, dann auf ein Rheinschiff mit dem bizarren Namen "Siesta" verfrachtet würden, bis wir die Chance hätten, einen Asylantrag zu stellen.

Hinter der Mauer ...
Im Laufe des Abends wird die Wand zur Mauer, die alle zu überqueren versuchen – der Russe Artjom Schröder mit einer selbstgebastelten Leiter aus Ästen und Schnur etwa. Clement Matweta aus dem Kongo rutscht immer wieder ab. Vorher hat er uns erzählt, wie er aus dem Gefängnis verlegt wurde und dachte, er würde nun erschossen. Sieben Jahre musste er in Deutschland auf seinen Asylantrag warten.

Nur Myo Min Htet schafft es aus eigener Kraft hinauf und skandiert den Schlachtruf, den er damals auf der Demo in Burma rief, bevor seine Mutter einen Brief erhielt und ihm sein Studium verboten wurde.

Auf die Mauer werden aber auch Fotografien aus Nkerinkas Karriere projiziert oder der Lageplan, den sich Volker Laube machte, als er kurz vor Mauerbau 1961 die deutsch-deutsche Grenze überquerte. Er erklärt dabei jene Tricks , wie man damals Minen und Soldaten vermied: "Ich wusste, dies waren die anstrengendsten Minuten meines Lebens".

.. vor der Mauer
Denn Flüchtlinge sind nicht nur jene, die die Festung Europa entern wollen – in einem Leben kann es viele Gründe zur Flucht geben. Nicht nur Unglücksvermeidung, auch die Glückssuche gehört dazu. Nachdem Volker Laube ein Jahr im Westen gelebt hatte, wollte er wieder zurück. Doch jetzt hinderte ihn die Mauer an der Rückkehr.

Heute betreibt er in Hamburg Industriemarketing; und sein Freund Günter nahm sich im Westen das Leben. Lieblich singen die anderen Flüchtlinge in blauen FDJ-Jacken ein DDR-Friedenslied: Wer ließe sich denn gern vertreiben von dieser weiten bunten Welt?

Manchmal spielen sie auch Hindernislauf: Wie viele Sekunden braucht ein Flüchtling, um sich mit falschem Bart, Rucksack und Isomatte durch Stuhlbeine und Zuschauerreihen hindurchzuwinden? "Wir Europäer brauchen den Zaun", ruft Herr Nkerinka, nachdem Herr Matweta kurz vor dem Ziel jämmerlich an der Wand abgerutscht ist, "sie schützt vor Terrorismus, Aids und Faulheit".

Und dann das Meer
Der Moment der Entscheidung, als es galt, alles, wirklich alles im Leben zurückzulassen – wie war das? Sejla Kartal aus Jugoslawien war noch ein Kind und wünschte sich auf der Fahrt soldatische Straßenblockaden her, um bei ihren Freundinnen bleiben zu können. Und wenn man in Deutschland ankommt – wie fühlt man sich? Myo Min Htet hatte Glück, es schneite gnädig im Ruhrgebiet. Wie es ist, geduldet zu sein? Matweta erzählt von der täglichen Qual, zum Briefkasten zu gehen. Welches war die wirkliche Grenzüberschreitung? Sachlich referiert die indische Ärztin Nita Wachtel, die aus Liebe nach Deutschland kam, über die Möglichkeiten der medizinischen Ruhigstellung bei Abschiebung.

Und würden sie es wieder tun? Diese Frage lassen die meisten unbeantwortet. Wer kann schon wissen, wie das Leben verlaufen wäre.

Es ist ein Abend, der selbstbewusst die Methode der Wirklichkeitsexperten von Rimini Protokoll benutzt und dabei jede Verknüpfung mit klassischem Theater vermeidet, die bei dem berühmten Regie-Kollektiv ohnehin manchmal wie zwanghaft aufgesetzt wirkt. Zwar gibt es kaum theatralische Brechungen, kommt der Abend mitunter, an seltenen Stellen trocken wie ein Ehrenamtstreffen von Pro Asyl daher. Dann aber öffnet sich wieder ein Fenster in der Mauer und zeigt das Meer.

Ein zarter, trauriger, bewegender Abend darüber, wie Flucht ein Leben aus den Fugen heben kann. Wie es ist, am Nullpunkt anzufangen. Und welch Zufall und Gnade, dazu nicht gezwungen zu sein.

 

Flüchtlinge im Ruhestand
Ein Projekt von Mirjam Strunk
Regie: Mirjam Strunk, Bühne und Kostüme: Cordula Körber, Musik: Frank Böhle. Mit Transitexperten aus Bosnien, Burma, Deutschland, Indien, Kongo, Ruanda und Russland.

www.theater-essen.de

 

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Kritikenrundschau

 "Neue Stücke über brennende Zeitfragen gibt es selten", stellt Ulrich Deuter in der Welt am Sonntag (9.3.2008) fest. "Also verfallen vor allem junge Theaterleute immer öfter darauf, die soziale Realität selbst auf die Bühne zu holen: in Form ganz normaler Menschen. Das Theater bekommt Lust auf die Wirklichkeit. Und das tut ihm gut." Deuter hat sich schon vor der Premiere bei Mirjam Strunks Essener Theaterprojekt mit Asylbewerbern "Flüchtlinge im Ruhestand" umgesehen. Sie hätten "alle Schreckliches erlebt, diese Spieler ihrer selbst – vor ihrem durch die Asylgesetzgebung, durch Ressentiments und durch den Schock der Fremde erzwungenen Ruhestand in der neuen Heimat. Aber irgendwo endet immer ihr Bericht. Es gebe bei jedem etwas, erzählt die Regisseurin, das er oder sie vor den anderen verberge. Vielleicht, um Einzelheiten des Fluchtwegs nicht zu verraten." Das Authentische, "die natürliche Eindringlichkeit, mit der Menschen vom selbst Erlebten berichten", sei tatsächlich zu spüren. Es herrsche Lakonie vor, "oft blitzt der Charme des Unprofessionellen. Man will kein Betroffenheitstheater." Auf die Frage, was er sich von den Zuschauern wünsche, antowortet einer der Teilnehmer der Projekts: "Dass sie sehen, wir sind keine Außerirdischen. Und was uns passiert ist, kann den Deutschen auch irgendwann genauso passieren."

"Flüchtlinge im Ruhestand" lebe "weniger von theatralischen Szenen und Gesten", schreibt Susanne Storck in der Neuen Ruhr Zeitung (10.3.2008). Eher mute "mancher Monolog sachlich und bürokratisch an, als ob die erste Anhörung im Asylverfahren geprobt wird. Das Stück wird durch die persönlichen Erlebnisse und Berichte der Akteure zum Schatz. Mal leise, mal empört, mal ironisch, mal nur mit Gesten zeigen sie, wie Flucht, Angst, Gefahr und Ungewissheit das Leben prägen. Wie Liebe und Lachen helfen, scheinbar ausweglose Situationen zu meistern. Wie es ist, ein neues Leben anzufangen, ohne das alte je richtig abzustreifen. Das stimmt zuweilen traurig, berührt zutiefst – und erzählt vom Mut, von der Kraft und der Sehnsucht acht wunderbarer Menschen."

Kommentare  
Flüchtlinge im Ruhestand: schlechte Kindheit
ich habe einiges aus den geschichten gelesen, und es wird immer so viel von den armen jungen menschen gesprochen. wir sind jetzt 75 jahre und hatten eine schlechte kindheit, da sagt keiner die haben psychisch zu leiden, die hatten eine schlechte kindheit. wir mussten,
schon als kinder arbeiten, um essen zu bekommen. zur schule kilometer
zu fuss, im winter durch hohem schnee mit wenig kleidung und im sommer bei hitze kilometerweit zur schule, kein hitzefrei.
die kinder werden jetzt verwöhnt, haben keine spielplätze, sollen dann alles sauber halten, dann haben sie genug zu tun und kommen nicht auf dumme gedanken.
Flüchtlinge im Ruhestand: offene Herkunft entgegensetzen
@ reins: Und was heisst das? Nur weil Sie in einem völlig anderen politisch-ökonomischen Kontext aufgewachsen sind, haben Sie jetzt den Freifahrtschein für alles? Dieser permanente Vergleich, welche (Flüchtlings-)Generation die bemitleidenswertere bzw. "tüchtigere" war/ist - ist der Ihnen nicht langsam mal peinlich? Es gibt keine Kinder-Schutzimpfung namens Lebensfreude. Ihre Kinder haben keinen Ursprung. Die sind nicht aus irgendwelchen Erzählungen ("Deutschland im Jahre Null") geboren. Die wollen sich selbst gebär(d)en, sich selbst hervorbringen, im Hier und Jetzt.
"Wir müssen etwas dieser unbegrenzten Zukunft, mit der operiert wird, entgegensetzen! Eine offene Herkunft! Und nicht den Sinn, der verlorengegangen wäre, die Geburt, die Nation, sondern diese eine Vergangenheit gestern." (René Pollesch)
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