Lustige Orgie auf der Seelenmüllhalde

von Petra Hallmayer

München, 3. Juli 2015. Sie wolle einfach einmal die Wahrheit sagen, erklärt Violet irgendwann, was gemeinhin nur ein Vorwand ist, ungeniert die allergemeinsten Gemeinheiten auszusprechen, anderen das Messer mitten ins Herz zu rammen. Am Ende des Abends sind auch die letzten tröstlichen Illusionen im Hause Weston zertrümmert.

Im Netz der Giftspinne

Der Amerikaner Tracy Letts malt in seinem Generationendrama "Eine Familie" das innere Elend der gehobenen Mittelschicht lustvoll aus. Violet Weston ist tablettensüchtig und hat Mundhöhlenkrebs. Ihr Mann ist ein "Weltklassealkoholiker", der gleich zu Beginn das triste Ehearrangement aufkündigt, indem er Selbstmord begeht, wobei er vorab noch die Indianerin Johnna als Haushaltshilfe für seine Gattin einstellt. Zu seiner Beerdigung finden sich die drei Töchter Barbara, Ivy und Karen samt Männern daheim ein und feiern auf der familiären Seelenmüllhalde ein desaströses Totenfest, bei dem sie ihre Blessuren und Lebenslügen, ihr kläglich kaschiertes Unglück enthüllen.

Familie vorab 02 Foto Thomas Dashuber uv.l.: Sophie von Kessel, Lukas Turtur, Arthur Klemt, Marie-Therese Fischer, Katharina Pichler, Charlotte Schwab, Aurel Manthei, Katrin Röver © Thomas Dashuber

Tina Lanik hat den Pulitzer-Preis-gekrönten Bühnenhit, der mit Meryl Streep und Julia Roberts verfilmt wurde, nun erstmals nach München geholt. In einem zweistöckigen fensterlosen Haus mit Dachkammern entfaltet sie im Residenztheater eine schaurig lustige Orgie der Bosheiten, ein Szenenmosaik um unerfüllte Glücksträume und verkorkste Beziehungen. Barbara keift ihren sich hinter Schlaumeiereien verbarrikadierenden Mann (Arthur Klemt) an, der sich eine blutjunge Studentin geangelt hat. Die Frauenzeitschriftensprüche nachplappernde Karen (Katrin Röver) klammert sich an den Hallodri Steve (Aurel Manthei), der sich an ihre vierzehnjährige Nichte heranmacht. Tante Mattie (Barbara Melzl), eine whiskeysaufende Beißzange, hackt auf ihrem Sohn Klein-Charly (Lukas Turtur) herum, und Violet thront als grausame Giftspinne auf dem Netz, in dem alle zappeln.

Familienkitsch Floskeln

Laniks Inszenierung, die nicht ganz frei ist von TV-Drama-haften Behäbigkeiten, steigert sich vor der Pause zu grotesker Komik: Der dusselige Charly kommt slapstickartig stolpernd mit dem Auflauf zu Fall, sein Vater stammelt ein Tischgebet aus Familienkitsch-Floskeln, derweil Steve telefoniert, ehe die Szene in einer Brüllorgie explodiert. Mitten in die Lachnummernparade setzt Lanik einen harten Kontrast: Im Gerangel reißt Barbara Violet den Beauvoir-Turban herunter und starrt fassungslos auf deren chemo-kahlen Kopf. Immer wieder verweist die Regisseurin auf die Hilfsbedürftigkeit des südstaatendivenhaften Muttermonsterwracks, lässt in den schrillen Psychoschlachten stille Momente aufscheinen. Während sich die Schwestern über ihre Tochterpflichten zanken, sehen wir, wie oben Johnna (Amanda da Gloria) schweigend Violet badet. Später wird auch Barbara noch einmal versuchen, sich ihr linkisch zärtlich anzunähern, doch jede Versöhnlichkeit mündet in ein weiteres emotionales Gemetzel.

Geschenk fürs Ensemble

Tracy Letts erzählt uns nichts Neues, aber er macht dies bestechend gut. Sein Text mit Anleihen bei Eugene O'Neill, Tennessee Williams, Tschechow und Faulkner ist ein well made play mit vielen scharf geschliffenen Dialogen und herrlich fiesen Pointen. Mitunter allerdings bedient er sich etwas zu lässig in der Kiste der Soap-Motive. Dass die arme Ivy und der Idiot der Familie Klein-Charly, die sich heimlich den Rettungsanker der Liebe zuwerfen, Halbgeschwister sind, ist ein Rückgriff auf stereotype Vorabendserien-Enthüllungen, auf den man gern verzichtet hätte.

Letztlich aber ist dieses Stück ein Geschenk für jedes Ensemble mit einer Fülle an Rollen, in denen Schauspieler glänzen können. Als zentrale Kontrahentinnen stehen sich Violet und Barbara gegenüber, die ihr im Verlauf des Abends gespenstisch ähnlich wird. Charlotte Schwab lallt tablettenumnebelt, greint und lamentiert als eine Leidende mit fakirhafter Unempfindlichkeit gegenüber den Schmerzen anderer, zetert und kläfft als brutal auftrumpfende Tyrannin. Sophie von Kessel als Barbara zeigt eine tief verletzte, in Zorn und Bitternis gefangene Frau, die sich mit rasiermesserscharfem Sarkasmus gegen ihre Verzweiflung wehrt. Kurzzeitig schaut es so aus, als wolle sie sich mit ihrer Mutter in einem gruseligen Dauerclinch einrichten, doch auch sie ergreift schließlich wieder die Flucht. Am Ende bleibt Violet allein mit ihren Pillen und Johnna zurück, die in ihrer Dachkammer die berühmten Schlusszeilen von T.S. Eliots Gedicht "Die hohlen Männer" zitiert zum traurigen Ausklang eines sehr vergnüglichen Familienhorrordramas, das vom Premierenpublikum mit großem Applaus gefeiert wurde.

 

Eine Familie
von Tracy Letts, übersetzt von Anna Opel
Regie: Tina Lanik, Bühne: Jens Kilian, Kostüme: Heidi Hackl, Musik: Rainer Jörissen, Licht: Andreas Fuchs, Dramaturgie: Andrea Koschwitz.
Mit: Paul-Wolff-Plottegg, Charlotte Schwab, Sophie von Kessel, Arthur Klemt, Marie-Therese Fischer, Katharina Pichler, Katrin Röver, Aurel Manthei, Barbara Melzl, Wolfram Rupperti, Lukas Turtur, Amanda da Gloria, Thomas Grässle.
Spieldauer: 3 Stunden, eine Pause 

www.residenztheater.de

Kritikenrundschau

Tina Lanik vertraue am Residenztheater "dem Text; etwas anderes bleibt ihr kaum übrig", meint Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (6.7.2015). Denn "Eine Familie" sei ein "well made play, ausgerüstet mit einer Mechanik der Rhetorik, über deren Wirkung Letts in seinen Szenenanweisungen wenig Zweifel lässt. Entweder man macht dieses Stück mehr oder weniger so, wie es dasteht. Oder man lässt es bleiben." Dass es bei Lanik ausgezeichnet klappe, liege nicht zuletzt daran, dass "sich die Schauspieler mit Hingabe der Figuren annehmen."

Natürlich reiche Tracy Letts "nicht an die sozialen Abgründe eines Tennessee Williams oder Arthur Miller heran, nicht an die intellektuelle Schlagfertigkeit einer Yasmina Reza", schreibt Teresa Grenzmann in der Frankfurter Allgemeinen (6.7.2015). "Doch der Abend könnte an manchen Stellen durchaus noch tiefer gehen, hätte die Regisseurin sich nicht nur ansatzweise, sondern konsequent von der Idee verabschiedet, die Geschichte könne nirgendwo anders spielen als in den Vereinigten Staaten." Trotzdem erschüfen Regisseurin Tina Lanik, der Bühnenbildner Jens Kilian und das Ensemble "einen ganz eigenen, mitreißend tragikomischen Abend, der Witz und Tempo, aber vor allem eines nicht hat: Prärie."

 

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