Kaltführung zur Liebe und ein explodierender Dampfkochtopf

von Jan Fischer

Hannover, 3. Juli 2015. Sie schlurfen über das braune Herbstlaub, sechs Darsteller des "Teater NO99" aus Estland, es knistert, es riecht auch ein wenig, die ganze Bühne ist damit ausgelegt, weiter ist da nichts, außer sechs Stühlen. Zuerst wirkt alles noch harmlos.

Sie setzen sich auf die Stühle, und beginnen zu erzählen, ausgestellt stoisch, wie losgelöst von sämtlichen Gefühlen, fast nicht von dieser Welt, angetan mit dem konservativsten Graubraun, das die sowjetische Kleiderkammer dereinst hergegeben haben mag, sämtlich versteckt hinter Brillen, angefertigt entweder von einem Berliner Hinterhofoptiker exklusiv für die hipsten Hipster oder von einer hasserfüllten Billigkrankenkasse etwa im Jahr 1956.

DieWahrheit02 560 Foto TiitOjasoo u"Die Wahrheit, nach der ich mich gesehnt habe"  © Tiit Ojasoo

Wie sie anfangen

Wo bei "Die Wahrheit, nach der ich mich gesehnt habe" gleich zu Beginn schon eine Groteske leicht an die Tür klopft, ist an "António e Cleópatra" - nach Shakespeare - aus Portugal alles geradezu steril: Eine graue Plane, straff auch nach oben über den Hintergrund gespannt, ein Mobile aus buntem Plexiglas, ein Plattenspieler, mehr gibt es nicht, keine Kostüme, es sind Sofia und Vitor, die Darsteller, die da auf die Bühne treten. Leicht verschüchtert, aber vielleicht täuscht das auch.

Das ist der Punkt, an dem sie alle – die Esten, die Portugiesen – tief durchatmen, und dann beginnen sie, die Geschichten. "Die Wahrheit, nach der ich mich gesehnt habe" basiert auf einem Werk des hierzulande eher unbekannten estnischen Schriftstellers Mats Traat, der seit langem als einer der wichtigsten Vertreter zeitgenössischer estnischer Literatur gilt.

Es sind seine Geschichten, welche die Mitglieder des "Teater NO99" in einer wilden Collage durch das Herbstlaub rascheln lassen. Die von dem Feuer, beispielsweise, das während des Sülzekochens für einen Totenschmaus ausbricht und dabei fast die Leiche verbrennt. Die von den zwei Jungen, die in der Nähe eines Kornsilos spielen, so lange, bis einer hineinfällt und im Getreide erstickt. Oft enden diese Geschichten mit dem Tod, oft lappen sie auch direkt ins Politische. Immer sind sie aus der Ich-Perspektive erzählt ("Ich starb am Internationalen Frauentag, als mein Mann mich verprügelte").

AntonioECleopatra02 560 Foto MagdaBizarroSofia Dias und Vítor Roriz in "Antonio e Cleopatra"  © Magda Bizarro

Poesie aus Reizwäsche und Sprache

In "Die Wahrheit nach der ich mich gesehnt habe" arbeiten Prosatext und Bild teilweise gegeneinander an. Der Text von "António e Cleópatra" dagegen ist stark zurückgenommen. "Antonius atmet ein. Kleopatra atmet ein. Antonius atmet aus. Kleopatra spielt an ihrem Schlangenarmband" – so ähnlich hört sich die Liebesgeschichte an , die kleinteilig in reduzierter Sprache rythmisch rattert, in der die beiden Darsteller von Antonius und Cleopatra erzählen, sich aber gleichzeitig passend dazu bewegen. Immer wieder wechseln sie zwischen Sofia und Vitor, die auf der Bühne erzählen und den Figuren, die sich als die beiden Liebenden tanzend umkreisen.

Zumindest bis zum ersten Teil von "Die Wahrheit, nach der ich mich gesehnt habe" ähneln sich die beiden Stücke sehr – in "António e Cleópatra" ist mehr Tanz, mehr Kreisen, in "Die Wahrheit nach der ich mich gesehnt habe" mehr Ironie, aber beide Inszenierungen beginnen als Erzähltheater – Geschichten, auf der Bühne erzählt. "Die Wahrheit, nach der ich mich gesehnt habe" hat – wegen der todernsten, losgelösten Mienen der Darsteller und der tragischen Geschichten – einen etwas anderen Geschmack, aber die großen Unterschiede zeigen sich erst im zweiten Teil. Während im ersten Teil höchstens mal die Stühle etwas verrückt werden, verschwindet im zweiten Teil das Sowjet-Braungrau aus den Kostümen, werden die Kassengestelle entsorgt, und unter grauen Mänteln kommt eine Unterhose voller Plastiksonnenblumen hervor, oder auch mal Reizwäsche.

"António e Cleópatra" von Tiago Rodrigues dagegen bleibt im Großen und Ganzen, wie es begonnen hat – mal ziehen die Darsteller sich zurück, um kurz etwas zu trinken oder eine Platte anzumachen, aber letztendlich bleibt dort die Sprache, nach der die beiden tanzen, die Hauptsache, mal wechseln sie die Erzählperspektive von der dritten in die erste Person, mal tauschen die sie Rollen – aber die Bewegungen arbeiten nie gegen den Text an, sondern bleiben illustrativ. Die Poesie wird aus der Sprache gezogen.

Visuelle Metaphern

Das "Teater NO99" dagegen ist eine eigenartige Truppe mit größerem Fokus, auch, was Visuelles angeht – ihr größter Coup war wahrscheinlich 2010 die (scheinbare) Gründung einer hyper-populistischen Partei, komplett mit Slogans, Plakaten, allem, was dazu gehört, welche die politische Landschaft in Estland doch ein wenig durcheinander brachte. Zu der Abschlussveranstaltung damals kamen 7500 Gäste – ob es sich um eine Politikveranstaltung handelte oder um eine Theateraufführung, wusste niemand so genau. Wahlanalysten sahen "Unified Estonia" jedenfalls bei den nächsten Wahlen schon bei 20 Prozent der Stimmen.

DieWahrheit07 560 Foto TiitOjasoo u"Die Wahrheit, nach der ich mich gesehnt habe" © Tiit Ojasoo

Das "Teater NO99" ist eine politische Gruppe – fast jede der Traat-Geschichten, die sie in Hannover in "Die Wahrheit, nach der ich mich gesehnt habe" auf die Bühne bringen, erzählt etwas über das Verhältnis der Bürger zur Politik. Gleichzeitig sind "Teater NO99" auch zu schlau um sich festzulegen, und beherrschen das Spiel mit visuellen Metaphern perfekt. Während also im ersten Teil die Groteske nur zart an die Tür klopft, wird im zweiten und dritten Teil eine Metapher nach der anderen abgefeuert: Blumen in der Unterhose, Bettler, Crossdressing, ohrenbetäubende akustische Signale, einer der Darsteller wird zum grunzenden Schwein, das alles, und dergleichen mehr, gerne gleichzeitig.

Wo "António e Cleópatra" klar und stringent bleibt, eine in kontrolliert-reduzierter Poesie – sowohl sprachlich wie auch körperlich – erzählte Liebesgeschichte, metastasiert die Bildwelt in "Die Wahrheit, nach der ich mich gesehnt habe" in alle Richtungen. Die Bilder werden parallel zu den Geschichten gesetzt, jedes Bild, zusammen mit einer dieser todtraurigen Geschichten, fühlt sich an, als könnte es etwas bedeuten, als sei darin irgendetwas Intepretierbares versteckt. Allerdings treten sie in Masse auf, treten sich dabei gegenseitig und den Geschichten auf die Füße, so dass "Die Wahrheit, nach der ich mich gesehnt habe" irgendwo zwischen absurd und surreal landet, irgendwo in einer Erzählwelt, aus der sich jeder mitnehmen kann, was er gerade braucht.

Beide Inszenierungen jedenfalls erzählen ihre Geschichten beispielhaft, arbeiten sich an ihrem Material ab und holen Erstaunliches heraus, ob nun als kontrollierte Kaltführung zur Liebe wie "António e Cleópatra" oder als verzweifelt explodierender Dampfkochtopf wie "Die Wahrheit, nach der ich mich gesehnt habe".

 

Die Wahrheit, nach der ich mich gesehnt habe
nach Mats Traat 
von Teater NO99 
Regie und Bühnenbild: Vladislavs Nastavševs, Dramaturgie: Vladislavs Nastavševs und Laur Kaunissaare. 
Mit: Marika Vaarik, Rea Lest, Gert Raudsep, Rasmus Kaljujärv, Jörgen Liik, Juhan Ulfsak. 
Dauer: 1 Stunde 25 Minuten, keine Pause 
http://www.no99.ee/en

António e Cleópatra 
nach William Shakespeare  
Text und Regie: Tiago Rodrigues, Bühnenbild: Ângela Rocha, Kostüme: Ângela Rocha und Magda Bizarro, 
Mit: Sofia Dias, Vítor Roriz.
Eine Produktion des Teatro Nacional D. Maria II auf Grundlage der Inszenierung von Mundo Perfeito, Koproduktion: Centro Cultural de Belém, Centro Cultural Vila Flôr, Temps d’Images  Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause 
http://www.mundoperfeito.pt  

www.theaterformen.de

 


Kritikenrundschau

Eine "erstaunliche Version" von "Antonius und Cléopatra", nämlich "reines Sprechtheater" hat Ronald Meyer-Arlt von der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (6.7.2015) bei Tiago Rodrigues gesehen. "Selbstverständlichkeiten werden erwähnt" wie das Atmen der Figuren; die "Wortwiederholungen verstören zuerst, entwickeln dann aber doch einen ganz eigenen Reiz. Und am Ende hat man sogar das Gefühl, jetzt ein bisschen Portugiesisch zu verstehen." Schwieriger sei es mit dem estnischen Beitrag von NO99: Dieses "Theater der Untoten" sei "auch ein Christoph-Marthaler-Gedächtnistheater"; aber "anders als bei Marthaler singen sie nicht. Was schade ist. Ansonsten ist das estnische Stuhltheater reichlich aufgedreht und auch ein bisschen lärmend." Da der Abend dem letztjährigen Theaterformen-Beitrag der Gruppe doch sehr ähnele vermutet der Kritiker dahinter eine "Masche".

"Pures Spiel,pure Sprache, ein Bühnenbild wie eine Sandkiste und im Hintergrund ein Mobile aus Spiegeln." So beschreibt Stefan Gohlisch in seinem Theaterformen-Auftaktbericht für die Hannoversche Neue Presse (6.7.2015) die Arbeit von Tiago Rodrigues. Leider komme die Shakespeare-Adaption "mit hohen Sprachbarrieren" daher; "jeder Blick zu den Monitoren mit den Obertiteln zehrt an der Wirkung". NO99 werden in dem Bericht nicht erwähnt.

 

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