Wir haben das Theater, um nicht an der Wirklichkeit zugrunde zu gehen

von Philipp Ruch

Berlin, 19. August 2015.

1. Zur Freiheit der Kunst

Der Begriff der Kunstfreiheit wird gerade bei Aktionskunst gerne rein legalistisch interpretiert. Die Kunst sei völlig frei. Sie kann sich aber diskreditieren. Wir haben das mit unseren Arbeiten nicht vor und die Langzeitwirkung unserer Aktionen dürfte davon künden, dass wir der Kunst eher zur Ehre gereichen und ihr zu neuem Recht verhelfen, die Gesellschaft zu verändern. Zumindest der politischen Kunst, die viele Beobachter in dieser Form nicht (mehr) für möglich gehalten haben und jetzt politischer Kunst eine Renaissance attestieren.

Die Kunst ist völlig frei. Diese Freiheit geht weit über das hinaus, was in einem legalistischen Sinne darunter gefasst wird. Menschen, die mit den Kunst- und Theaterdiskursen alltäglich befasst sind und über dieses Thema viel schöner und präziser schreiben könnten, wissen das längst. Ich will aber als ersten Denkvorstoß anbieten, dass die Kunst auch und gerade so frei sein muss, Menschenleben zu retten.

Das ist vielleicht die letzte sinnvolle Grenze, mit der es das so provokationserfahrene 20. Jahrhundert nicht aufgenommen hat. Wenn Zuschauer oder Kritiker dem Zentrum für Politische Schönheit verbieten wollen, Menschenleben zu retten, dann haben sie möglicherweise einen zu zeitgemäßen Kunstbegriff. Ich möchte einen unzeitgemäßen dagegen halten: Die Kunst ist völlig frei. Nicht nur im rechtlichen Sinne, sondern gerade im ethischen. Und das ist bekanntlich jener Abschnitt des Horizonts, aus dem politische Schönheit überhaupt herabscheint.

Die Freiheit der Kunst ist auch nicht nur so zu verstehen, dass Kunstwerke alles sagen und tun dürfen, was der Künstler für sinnvoll erachtet. Völlige Handlungsfreiheit birgt immer das Risiko, sich gerade in künstlerischen Entscheidungen zu diskreditieren. Das wirkt auf die Kunst zurück, hat aber doch weniger mit ihr als mit der Intelligenz des Kunstschaffenden zu tun. Im Rahmen der Kunstfreiheit Menschenleben zu retten, sprengt vielleicht auf sinnvolle Weise die letzte Konvention auf, die der Kunst im 20. Jahrhundert von Kunsttheoretikern, Publikum und Rezensenten auferlegt worden ist und die die Kunst stillschweigend geschluckt hat. Es ist, wie Heinrich Böll dem letzten großen Menschenrechtler Deutschlands, Rupert Neudeck, diktiert hat, unfassbar schön, einen Menschen zu retten. Diese Schönheit war und ist das Territorium der Künste.

2. Transformation von Kunst und Gesellschaft?

Wenn es um den Grundverdacht geht, dass sich das Verhältnis zwischen Kunst und Gesellschaft grundlegend gewandelt habe, bin ich kein Freund derartiger Ansichten. Ich sehe etwas ganz anderes: weite Teil der Künste, insbesondere des Theaters, haben das Erbe der politischen Aktionskunst, insbesondere nach der causa Schlingensief, durch das gegenteilige Handeln wieder beerdigt. Die Intendantin des HAU sah sich beispielsweise "gesellschaftlich" genötigt, einem Künstler im vergangenen Oktober in die laufende Aktion hineinzugreifen und diese vor den Augen der Öffentlichkeit abzubrechen – wahrlich nicht ohne ihn dazu zu verpflichten, den Abbruch als "gemeinsame Entscheidung" zu verkaufen (mehr hier). Das ist eine merkwürdige Auffassung dessen, was die Rolle eines Intendanten ist. Dass das anders geht, beweist das Theater, das 2014 zum "Theater des Jahres" gekürt wurde. Die besten Intendanten und die besten Kuratoren sind jene, die für hinreichende Bedingungen sorgen, damit Kunst entstehen, atmen und vielleicht sogar sterben oder sich diskreditieren kann. Intendanten sind nicht dazu da, der Kunst die Luft zu rauben und dem Raubtier, dass die Öffentlichkeit sein kann, nachzugeben. Die besten Kuratoren und Intendanten lassen vielleicht aber auch nur Künstler ans Werk, von denen sie sicher sind, dass sie die Kunst und damit sich selbst nicht diskreditieren.

WannaPlay 560 HAU uEckte an und wurde abgesetzt: "Wanna Play" von Dries Verhoeven @ Sascha Weidner

Ich kann beim besten Willen keine Veränderung im Verhältnis von Kunst und Gesellschaft erkennen. Was wir im Fall des HAU attestieren können, ist ein Mehr an Feigheit, das Kulturschaffende beschämen muss. Berlin war einmal berühmt dafür, ganz andere Dinge auszuhalten und durchzuziehen – auch und gerade gegen den Willen der Öffentlichkeit. Das Skandalon eines Abbruchs von Kunst, nicht deren Geburt, sollte Intendanten den Stuhl kosten. Kultur hat mit Mut zu tun. Aber wenn man an die Wiener Aktionisten und ähnliche Strömungen denkt, dann ist in Sachen Heftigkeit und "gesellschaftlicher Auseinandersetzung" noch viel Potenzial nach oben. Der Erste Europäische Mauerfall etwa war in seiner konzeptuellen Anlage noch nicht einmal eine kontroverse Aktion.

3. Kunst als Schützenhelferin der Gerechtigkeit

Ich wurde darum gebeten, das Verhältnis von Recht und Kunst an einer Aktion durchzuspielen. Die "25.000 Euro Belohnung"-Aktion haben wir vor drei Jahren an der Berlin Biennale gemacht, einem Ort, dem es damals mehr an Geld, denn an Mut mangelte. Es gibt die Rechtsordnung der BRD. Die verbietet jedem von uns, auch nur eine einzige Kalaschnikow an Drittstaaten zu verkaufen. Diese Rechtsordnung enthält aber Fehler. Sie denkt selten in großen Dimensionen. Also erlaubt sie zum Beispiel den Familien Bode und von Braunbehrens, 270 Panzer neuester und präzisester Technologie, an das Regime in Saudi-Arabien zu liefern. Saudi-Arabien ist im Ranking des Economist die siebtschlimmste Diktatur der Erde.

Die Rechtsordnung, nach der es mir mit einer UG oder GbR nicht möglich wäre, legal Waffen an Diktaturen zu verkaufen, ermöglicht es den etablierten Waffenherren, eben das zu tun. Das Zentrum für Politische Schönheit hat 2012 versucht, diese Rechtslücke zu schließen und diese "Herren" – die 38  Eigentümer des Panzerkonzerns Krauss-Maffei Wegmann – ins Gefängnis zu werfen. Was ist das Recht der Kunst? Sie darf 25.000 Euro als Belohnung darauf aussetzen, Hinweise auf eine Straftat zu finden, die die Besitzer des Panzerherstellers mit Milliardenumsätzen, ins Gefängnis wirft. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Multimillionäre, gerade wenn sie am globalen Waffenhandel beteiligt sind, in Sachen Geldwäsche oder Steuerhinterziehung straffällig geworden sind.

zentrum fuer pol sch 1 560 patryk witt uPlakat im Rahmen der ZPS-Aktion "25.000 Euro" © Patryk Witt

Viele Beobachter haben diese Aktion als nicht ganz legal wahrgenommen. Aber war die Aktion widerrechtlich? Nun, manchmal sind illegale Maßnahmen notwendig, um die Menschheit zu schützen. Es ist für Widerstand eher atypisch, dass er gesetzlich abgesichert ist. Nicht erst das Beispiel Elser macht das vor. Bis heute wird Elser in der pazifistischen Bundesrepublik im kollektiven Gedächtnis eher als eine Art Karteileiche geführt. Auch der Blockbuster-Kinofilm konnte daran nicht rütteln. Das Zentrum für Politische Schönheit ist dem Selbstverständnis nach Schützenhelferin des Rechts. Man nenne es das historische Recht, Naturrecht, Recht der Menschheit, dem wir da mit Aktionen auf die Sprünge helfen. Es mag den Zeitgenossen illegal erscheinen. Aber in einer überzeitlichen Rechtsordnung sieht das vollkommen anders aus. Wir sind einzig darauf bedacht, Rechtslücken zu schließen und Widersprüche wie die neuen EU-Außenmauern zur Detonation zu bringen.

4. Die neuen Mauern: ein Verbrechen an der Menschheit

Gesetze sollten dem Schutz der Menschheit dienen und Gesellschaften besser machen. Es kommt aber vor, dass Gesetze Menschenleben gefährden und die Gesellschaft schlechter machen. Dann ist der Augenblick von "illegalen" Maßnahmen gekommen. Dann loben wir 25.000 Euro Belohnung aus. Oder wir rufen dazu auf, die Mauern um Europa herum abzureißen. Die Gesetze gegen Flüchtlinge und Einwanderung gefährden Hunderttausende Menschenleben. Menschen ertrinken auch jetzt, während Sie das hier lesen, weiter. Wir haben das nicht so genannt, aber diese neuen Mauern sind ein Verbrechen an der Menschheit. Dieses Verbrechen ist es, das sich in den Geschichtsbüchern (über uns) an uns rächen wird.

Die Notwendigkeit, gegen alle geltenden Gesetze, gegen den Widerstand des BKA, der Bundespolizei, Interpol und was weiß ich, welche europäischen Stellen sich gegen den "Ersten Europäischen Mauerfall" aufgebäumt haben, diese Mauern jetzt einzureißen, diese Notwendigkeit wird in den kommenden Jahren eher wachsen als schrumpfen. Es kommt deshalb in unserer Arbeit nicht wenig darauf an, retrospektiv zu denken.

5. Die Gesellschaft nicht in eine Selbstbefragung, sondern zu Selbsterkenntnis zwingen

Der fünfte Denkanstoß berührt das Feld der gesellschaftlichen Auseinandersetzung selbst. Wie ein Berliner Theaterkritiker unsere Aktionen bilanzierte: "Es gibt keine einfachen Lösungen." Eine Erkenntnis, die er unseren Aktionen angemerkt haben will. Ich kann dem nur etwas vom Selbstverständnis beifügen, eine Abwandlung der berühmten Worte Nietzsches über Kunst: Wir haben das Theater, um nicht an der Wirklichkeit zugrunde zu gehen.

Jenseits der Rettung von Menschenleben, jenseits der überbordenden Mutlosigkeit Deutschlands, jenseits der Illegalität aller Maßnahmen, schlagen über unseren Aktionen nicht selten "hässliche" Erkenntnisse zusammen, die wir im besten Falle "provozieren" konnten: Die Ignoranz der wahren Probleme. Beim "Ersten Europäischen Mauerfall" ist dies das Diskutieren über Berliner Lokalpolitik statt europäischer Rettungspolitik. Bei Die Toten kommen ist es das Diskutieren über die Grenze der Kunst statt über die Grenzen der EU und die Empörung über die zerstörte Reichstagswiese (übersät von Gräbern) statt über die Leichenberge an den Rändern des Kontinents.

ZPS Toten PhilippRuch 560 slePhilipp Ruch bei der jüngsten ZPS-Aktion "Die Toten kommen" © sle

Als Theatermacher kann und muss man über die Ironie seiner Werke schmunzeln. Aber das Schauspiel spricht Bände über unsere gesellschaftliche Verfassung. Aktionskunst operiert auf einem Gebiet, das unseren sozialen Gesundheitszustand indiziert. Zukünftige Historiker werden vielleicht darin einen Spiegel für unsere Zeit finden, einen Wasserstand der intellektuellen und diskursiven (Un-)Fähigkeiten. Wir könnten uns aber auch alle selbst darin erkennen. Die Aktionen genügen sich selten darin, das Publikum wie bei Nicolas Stemann nur zu befragen. Sie setzen einen Schritt vorher an: Sie zwingen zur Selbsterkenntnis. Sind wir wirklich so human, wie wir glauben? Die totale Verunsicherung dieser Erkenntnis an der umnachteten Wirklichkeit ist es, die uns interessiert. Deshalb suchten wir beispielsweise im Namen des Bundesfamilienministeriums 55.000 Pflegefamilien, die wenigstens ein Prozent aller betroffenen syrischen Flüchtlingskinder aus der Apokalypse retten. Dafür haben wir die "Kindertransporthilfe des Bundes" geschaffen. Gegen die Hilfsaktion konnte die Bundesregierung bis heute nichts ausrichten. Die Bundesregierung wirbt bis heute um Pflegefamilien für ein Hilfsprogramm, dass sie nicht machen will. Wir nehmen noch nicht einmal ein Prozent der Kinder auf. Wer sind wir eigentlich? Es geht darum, dass Deutschland vor sich selbst erschreckt.

Aktionskunst muss sich im Zweifelsfall aber zwischen gesellschaftlicher Selbsterkenntnis und der Rettung von Menschenleben entscheiden, wie es auch Stemann vorschwebt. Ein Theatermacher, dem die Begrenztheit seines Tuns nicht einleuchtet, der sich gegen die heimliche Ironie seiner Stücke wehrt, stellt sich gegen das Theater selbst und gehörte eher in den Raum der NGOs oder des Aktivismus.
Von jenen Mauern, die wir zum 25. Jahrestag des Mauerfalls der deutschen Öffentlichkeit vielleicht als erste überhaupt präsentiert haben – die bulgarische Stacheldrahtmauer wurde im Sommer 2014 erst fertig gestellt –, von diesen Mauern führt eine direkte Linie zu den Bildern der Särge im Hangar des Flughafens von Lampedusa. Es reichte nicht, die Bilder dieser Särge zu sehen. Aber beides, Särge und Mauern, passt nicht zum Selbstbild, das wir von uns haben. Sie bedeuten den Zusammenbruch unseres Anspruchs auf ethischen Fortschritt. Eine Katastrophe, die mitten im Theater ausgeleuchtet gehört.

 

Philipp Ruch ist der künstlerische Leiter des Zentrums für politische Schönheit, das bekannt geworden ist durch sein "Theater im öffentlichen Raum" und zu Beginn der kommenden Spielzeit 2015/16 am Theater Dortmund erstmals das Theater im Theaterraum ausprobiert. Dieser Text ist die Nachbearbeitung eines Vortrags, den Ruch am 18.2.2015 im Rahmen der Veranstaltung "Phantasma und Politik #10 – Das Recht der Kunst" im HAU Berlin hielt.

 

Mehr lesen: In der Berliner Gazette hat Wolfgang Müller die Arbeit des Zentrums für politische Schönheit (ZPS) mit Schlingensiefs verglichen – Zusammenfassung in unserer Presseschau vom 17. August 2015. Und im Deutschlandradio erklärte der oben von Philipp Ruch erwähnte Nicolas Stemann unlängst sein Konzept der theatralen Repräsentationskritik und äußerte sich seinerseits über die Aktionskunst des ZPS, zusammengefasst hier.

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