Presseschau vom 28. August 2015 – Peter Laudenbach macht in der Süddeutschen Zeitung eine Verlustrechnung des zeitgenössischen Theaters auf
Die Infragestellung des Theaters ist der Mainstream
Die Infragestellung des Theaters ist der Mainstream
28. August 2015. Gestern noch hat nachtkritik.de einen "Text der Saison" des Dortmunder Dramaturgen Alexander Kerlin wiedervorgelegt, heute bereits reagiert Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung.
Wobei zuallererst auffällt, dass Laudenbach den von ihm als "aggressives Trendstrebertum" gegeißelten Artikel gar nicht richtig gelesen haben kann, denn er schreibt, Kerlin fordere die "Säuberung des Theaters von seiner Geschichte zugunsten einer Überfülle von Gegenwart". Das in seinen Kontext zurückversetzte Zitat lautet indes: "Ein zeitgemäßes Theater braucht Kritiker, die nicht nur die Säuberung des Theaters von seiner Geschichte zugunsten einer Überfülle von Gegenwart (...) fordern, sondern die Spaß daran entwickeln, die Episteme der Zeit zu denken und in ihre Analyse aufzunehmen." Kerlin fordert nicht die "Säuberung", sondern: "Wir müssen die alten Texte festhalten, indem wir sie loslassen. Als erstes müssen sie runter von ihren Sockeln und aus den Händen der Tugendwächter gerissen werden (Bildungsbürger, zweitklassige Altphilologen und Germanisten, ganz allgemein Leute mit romantischen Erinnerungen an ihre erste 'Faust'-Lektüre)." Und: "Wenn nicht die ganze Gülle und der Schlamm des letzten Jahrhunderts aus den Gullideckeln hochkommen und uns ernsthaft in Gefahr bringen sollen, müssen wir uns fragen, wie wir die Kultur-Vererbung über den Epochenbruch der Digitalen Revolution hinweg aktiver gestalten wollen."
Die entscheidende Frage
Doch zurück zu Peter Laudenbachs Text. Laudenbach sieht Kerlins "konfuse Parolen" und auch die kürzlich in Dortmund zur Premiere gekommene, "Formate der Unterhaltungsindustrie imitierende" Produktion "Die Show" als "Teil einer breiteren, auch an anspruchsvolleren Bühnen zu beobachtenden Entwicklung (...). Als würde das Theater an seinen eigenen Darstellungsmitteln zweifeln, sucht es sein Heil in der Adaption anderer Genres."
Die entscheidende Frage sei indes, "ob diese Öffnungen des Theaters für andere Genres und die Versuche, an die 'Überfülle der Gegenwart' anzudocken, dem Theater eine Erweiterung seiner Möglichkeiten bescheren. Oder ob sie im Geschichtsverlust, in der Naivität des Authentischen, in der Ablehnung und Nichtbeherrschung des psychologisch realistischen Spiels, in der Ignoranz gegenüber literarischen Vorlagen und im Verlassen der Guckkastenbühne eine Verkümmerung des Theaters bedeuten."
Laudenbach hält diese Frage grundsätzlich offen, da er in nicht-realistischen Darstellungen mitunter auch adäquate Abbildungen gesellschaftlicher Wirklichkeit findet. Doch es gelte auch eine Verlustrechnung aufzumachen: "kluge, in der Konzentration auf Werke des Kanons konservative Inszenierungen, die Kraft und der Kunst des Theaters vertrauen", hätten mittlerweile Seltenheitswert, und "die systematische Infragestellung des Theaters" sei "im Mainstream angekommen".
Lob des Lobes
Laudenbach schließt mit Lektürefrüchten aus dem Buch "Lob des Realismus" des Dramaturgen Bernd Stegemann, der "auf hohem Abstraktionsniveau ästhetische und politische Ereignisse zusammen zu denken" versuche – "zum Beispiel den Zwang zur konsequenten Selbstvermarktung im Neoliberalismus und die neueren Performance-Moden." Stegemanns Buch sei "nicht nur die Abfertigung gängiger Trend-Ästhetiken, sondern sein Versuch, eine normative Ästhetik in der Tradition Brechts zu formulieren. Allein das ist in Zeiten des unverbindlichen Stil-Pluralismus eine Zumutung." Man müsse Stegemann "nicht zustimmen, aber mit seiner Kritik an einer um sich selbst kreisenden 'Kunst, die nichts darstellen will', der Fixierung auf die Oberfläche der Gegenwart und der 'Geheimwaffe namens Postmoderne'" liefere "er die entscheidenden Stichworte für die Auseinandersetzung um den Zustand des gegenwärtigen Theaters."
(wb)
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Kann ein angenehmes Theater relevant sein? Und eine Aufblätterung klug?
Und was genau ist eine oberlehrerhafte Handbewegung?
Aber es wird doch nicht von uns verlangt, in eine Partei einzutreten. Unsere Aufgabe ist es, gutes, anspruchsvolles Theater für ein Publikum zu machen, von dem wir verdammt noch mal erwarten müssen, dass es klüger ist als wir selbst. Im Publikum sitzen NeurochirurgInnen, FahrzeugtechnikerInnen, AstrophysikerInnen, Leistungssportler, Krankenpflegerinnen, PopmusikerInnen, StudentInnen und LehrerInnen, und viele andere mehr.
Jeder wünscht sich ein anderes Theater, aber alle erhoffen sich Faszination durch den Blick in eine fremde, neue, aufgeweitete Welt, so wie wir uns für hoffentlich alles Fremde interessieren.
Jeder macht es so gut wie er oder sie es kann, auf der Bühne gibt es kein richtig und kein falsch.
In diesem Sinne wünsche ich mir ein Theater des Utopischen, eines, das nicht jammert, sondern das Kraft hat, das sich der Erforschung von Wirklichkeit verschreibt, und zwar durch künstlerische Erforschung neuer Materialien Und alter Texte, neuer Und alter Formate, neuer Und alter Bilder, neuer Und alter Technik. Wir haben einen Fundus an Möglichkeiten, wie ihn unsere Vorgänger sich nur erträumen konnten. Es gibt keinen Riss zwischen Postdramatischer, Epischer und Klassischer Exegese, oder?
Die Errungenschaften der Performance-Art im letzten Jahrhundert, spät vom Theater aufgenommen, hat dieses nun in Beliebigkeit versinken lassen.
Schlimm, dass es immer noch als modern daher kommen will.
Dass heutzutage bildende künstler Regie machen oder Häuser übernehmen ist ja für viele schon Inhalt genug.
Wo ist der Theaterschaffende, der eine Museum zur Verfügung bekommt?
besser die eigenen theatralen Mittel wieder entdecken und die neuen Errungenschaften wirklich nur bei Bedarf einsetzen.
Nur weil Videobeamer heutzutage billig sind, muss man nicht alles bebildern und ein livestream ist an sich noch keine inhaltliche Aussage.
Und: der große Vorteil von Theater in dieser medialen Welt bleibt der Livemoment, der Schweiß in Echtzeit, alle Sinneserfahrungen.
Also mit den Erfahrugen von heute, back to the roots.
Und bitte kein Gerede mehr von Modernität. Da reicht der Blick in die Kunstgeschichte des letzten Jahrhunderts.
Ist es wirklich das Gegenteil, ob jemand etwas fordert, oder ob er behauptet, es solle andere Menschen geben, die dieses Etwas fordern?
Haben Sie sich mal mit den permanenten Widersprüchen in Kerlins Text befasst? Beziehungsweise diesen denn tatsächlich zumindest annähernd so überprüft, wie Sie es von Laudenbachs Text vorgeben?
Ich kann Ihnen gerne eine Liste schreiben, bei 20 schlichtweg sachlich widersprüchlichen Aussagen in Kerlins Text hatte ich seinerzeit aufgehört zu zählen.
Woher rührt denn ihr Eifer, diesen Kerlin dermassen irrational zu verteidigen? (...)
Man mag Kerlins Text für wirr und widersprüchlich halten (wobei ich es tatsächlich schön fände, wenn jemand sich mal die Mühe machte, ihm diese Widersprüche nachzuweisen und nicht einfach mit der Geste: „Er ist es nicht wert!“ abzukanzeln), aber die Forderung nach einer „Säuberung des Theaters von seiner Geschichte“ steht nun gerade nicht darin. Insofern liest Laudenbach ungenau, oder, um es deutlicher zu sagen: falsch. Kerlin reagiert mit seinem Text auf einen Artikel von Matthias Weigel, der tatsächlich zwar keine Säuberung, aber doch eine Abwendung von den Klassikern forderte. Kerlin hält u.a. dagegen: „Tabula Rasa zu machen, die Geschichte des Theaters als Institution buchstäblich zu ‚neutralisieren’, eine Stunde Null auszurufen, weil einem der Schmonz nicht mehr lieb ist, weil man mit der eigenen Geschichte nichts mehr zu tun haben will und mit ihr angeblich alle Neuankömmlinge verschreckt, die keine Geschichte mögen oder eine andere Geschichte haben oder eigentlich ohnehin lieber feiern gehen, ist (…) keine gute Idee.“
Übrigens finde ich die Thesen von Peter Laudenbach und Bernd Stegemann trotzdem bedenkenswert, meine Zusammenfassung will auch in keiner Weise verzerrend oder diffamierend sein. Wenn ich mir allerdings eine persönliche Anmerkung erlauben darf: Laudenbach selbst scheint, wie er immer mal wieder durch bestimmte Formulierungen zu verstehen gibt, nicht sonderlich am Dialog interessiert zu sein. Es geht ihm darum abzufertigen. Kerlin ist ein „Trendstreber“ mit „konfusen Parolen“ – fertig! Martin Laberenz (im gleichen Artikel) ist, da Laudenbach eine seiner Inszenierungen nicht gefällt, ein „schlichteres Gemüt“ – fertig! Im Berliner Stadtmagazin „tip“ hat Laudenbach zwei Tage vor dem Artikel in der SZ zwei Kritiker mit dem Attribut zu desavouieren versucht, sie seien „eher unbekannt“, und ihnen unterstellt, sie lobten sich selbst und versicherten sich ihrer eigenen Wichtigkeit, „wenn es sonst schon keiner macht“. Das sind alles Leute, die nicht auf Augenhöhe mit Laudenbach sind. Es steht ihnen gewissermaßen nicht zu, mit ihm zu dialogisieren. Warum eigentlich nicht?
So erweckt LAudenbach unnötigerweise den Eindruck eines Konservativen, der er nicht ist.
des Herrn Laudenbachs wirklich? (…) Ich erinnere an seinen Auftritt beim Juryabschluss-Gepräch des diesjährigen Theatertreffens, wo er seine Jury-Kollegin Barbara Burckhardt rüde abkanzelte, als sie zugab, dass sie gerne Hinweise auf vielversprechende Inszenierungen in Theaterdeutschland bei nachtkritik.de aufnimmt, weil die Jury im Gegensatz zu nachtkritik unmöglich alles in der Breite sichten könne, was pro Spielzeit auf deutschsprachigen Bühnen zur Premiere komme. Laudenbachs überhebliche, sich selbst zum Maß aller Dinge erhebende Replik darauf, sprach Bände (…)
Gesichtspunkte. zur Entwicklung der literaturtheoretischen Position Georg Lukács. in 'Dialog und Kontroverse mit Georg Lukács: der Methodenstreit deutscher sozialistischer Schriftsteller. Hrsg. im Auftrag der Forschungsgruppe 3 Akademie der Wissenschaften der DDR und des Zentralinstituts für Literaturgeschichte von Werner Mittenzwei, Leipzig 1975