Magazinrundschau September 2015 – ein erweiterter Grundriss der Kunst, artivism und der Abschied von Bert Neumann

Stanley Kowalski kackt in Castorfs Problembad

Stanley Kowalski kackt in Castorfs Problembad

von Wolfgang Behrens

September 2015. Theater heute bilanziert die großen Themen der Saison, die Deutsche Bühne glaubt bereits die Köpfe der nächsten zu kennen. Und in Theater der Zeit erleben wir – leider aus traurigem Anlass – noch einmal einen theaterhistorischen Moment.

Theater heute

Im September kann Theater heute wie immer mit seinem Jahrbuch samt Kritiker*innen-Umfrage prunken, letztere ist auf nachtkritik.de ja bereits vorgestellt worden. Aber das Jahrbuch bietet natürlich mehr als eine Tabelle, aus der am Ende ein paar "(was auch immer) des Jahres" gewonnen werden, es gilt auch noch einmal den großen Themen der Saison. Und die größten unter ihnen sind weiterhin die Debatte um die Zukunft der Berliner Volksbühne und – eng mit ihr verknüpft – die Frage nach der Zukunft des Stadt- und Ensembletheaters. Die drei Theater heute-Redakteure haben daher die üblichen Verdächtigen (Matthias Lilienthal, ab sofort Münchner, und Wilfried Schulz, Noch-Dresdner, bald Düsseldorfer) mit den künftigen Verdächtigen (Chris Dercon und Marietta Piekenbrock, beide Post-Castorf-Berliner) zusammengesetzt.

theater heute Sept 180Matthias Lilienthal analysiert dabei die Debatte um die Castorf-Nachfolge folgendermaßen: "Die Diskussion um die Ernennung von Chris Dercon strotzte nur so vor Verlogenheit. Man muss vielleicht daran erinnern, dass die Gründung einer Freie-Gruppen-Szene in Deutschland etwas mit politischem Protest und linken Bewegungen zu tun hatte, weil es zu der Zeit ein großes Leiden gab an verkrusteten Strukturen im Stadttheaterbetrieb. Bis zu dieser Diskussion im April galt freies Theater als tendenziell links und Stadttheater eher als konservativ. Und plötzlich galt dann die Arbeit in Freien Gruppen als neoliberale Ausbeutung, outgesourced und reaktionär. Und das Ensembletheater wurde zum linksradikalen Protest gegen Globalisierung. Das halte ich für absurden Unsinn."

Dercon selbst darf präzisieren (wobei das mit der Präzision etwas dahinsteht), was seine Pläne für die Volksbühne sind: "(...) es geht um die ganze Stadt. (...) Eine Stadtarchitektur mit Körpern und Publikum, denn es geht darum zu definieren, was heute öffentlicher Raum ist. (...) Für uns ist Berlin nicht nur ein Ort in Deutschland, Berlin gehört auch der Welt. Unser Bezugsrahmen ist nicht nur Dresden oder das deutschsprachige Theater, sondern was in Manchester passiert, was New York vorhat, was in Lausanne am Theatre de Vidy passiert." Klingt jedenfalls nach einer sehr westlich gedachten Avantgarde, Moskau, Damaskus und Peking nennt Dercon nicht. Er macht hingegen auch klar, dass es nicht um eine Abschaffung des Ensemblekerns gehe. Marietta Piekenbrock ergänzt jedoch: "Wir wollen an der Volksbühne den Grundriss erweitern, auf dem Kunst stattfinden kann. Möglicherweise wird er sich nicht mehr in einen klassischen Repertoirebetrieb fügen lassen" – und sie beruft sich hierbei auf einen Satz Heiner Müllers: "Die Misere ist der Repertoirezwang." Hier also die künftige Volksbühnen-Struktur in vier Worten zum Ausschneiden und Mitnehmen: Ensemble ja, Repertoire nein. Ha!

Äußerst lesenswert ist der Beitrag des Impulse-Festivalleiters Florian Malzacher, der eine Art Phänomenologie der Aktionskunst bzw. des Kunstaktivismus aufmacht und auch über gewisse Paradoxa des "artivism" nachdenkt. Im Zentrum des Aktivismus stehe das Konzept der direct action. "Direkte Aktionen sind das Gegenteil von Zweifel, von Ambivalenz. Reflexion ist – zu einem Grad – aufgeschoben. So gesehen scheint die direkte Aktion der Moment zu sein, an dem der Aktivismus am weitesten von der Kunst entfernt ist. Auf der anderen Seite gibt es den Augenblick, wenn eine Performance in Gang kommt, und es keine Möglichkeit zur Umkehr mehr gibt. Wenn alles nur noch im Hier und Jetzt ist. So gesehen scheint die direkte Aktion der Moment zu sein, wenn Aktivismus am nächsten an der Kunst ist. Viele radikale Momente der Performance-Kunst oder Live Art ließen sich problemlos als direkte Aktionen beschreiben." Malzacher blickt auch auf die größeren Zusammenhänge, so sei es seines Erachtens "nicht überraschend, dass die politische Krise der Repräsentation der letzten Jahre mit einer künstlerischen Krise des bürgerlichen Theatermodells (...) einhergeht." Malzacher hält es allerdings für wichtig, dass "nicht auf ein simpel gedachtes, eilfertiges Mitmachtheater" gezielt werde, "das eine Art der Bevormundung lediglich durch eine andere ersetzt. (...) Teilhabe ist kein pazifizierendes Placebo. Sie kann ermächtigend sein, aber auch anstrengend oder gar unangenehm."

Die deutsche Bühne

Gegenüber dem "artivism", wie er bei Malzacher beschrieben wird, nimmt Detlev Baur im September-Heft der Deutschen Bühne eine zumindest leicht skeptische Haltung ein. Zwar fragt er in einem Kommentar, ob "politisch hellsichtige und engagierte Theatermacher" womöglich bald "die fünfte Gewalt im Staate" seien, fügt dann aber hinzu: "Ich glaube jedenfalls nicht, dass Theatermacher und Künstler grundsätzlich die besseren Politiker wären. Bestärkt haben mich darin jüngst zahlreiche Tweets und Facebook-Einträge von 'befreundeten' Theaterleuten anlässlich der Griechenland-Krise: bar jeder historischen Einsicht in die besonderen griechischen Verhältnisse." Da ist schon etwas dran: Manches, was man von Theaterleuten hört und auch in ihren Inszenierungen sieht, geht nicht über Stammtischparolen à la "Kapitalismus ist doof" hinaus. Manches, was man von Politikern hört, ist indes auch nicht besser (juhu, eine weitere Stammtischparole!), weswegen Theatermacher vielleicht auch nicht grundsätzlich die schlechteren Politiker wären.

deutsche Buehne Sept 180Ansonsten wagt es Die deutsche Bühne nach 2014 nun schon zum zweiten Mal, nicht etwa die Köpfe der vergangenen Spielzeit zu benennen, sondern diejenigen der kommenden Saison auszurufen. Wobei da vielleicht auch der eine oder andere Eindruck aus dem Vorjahr eine Rolle gespielt haben mag. Für alle Fans von Listen seien sie also hier genannt, die Köpfe der Saison 2015/16. Im Schauspiel sind das Sibylle Broll-Pape, die neue Intendantin in Bamberg (wird am Haus "dramaturgisch einiges bewegen"), die Schauspielerin Ursina Lardi (wird mit Milo Rau arbeiten und seinem Text "eine klare persönliche Verbindlichkeit" geben), der "Neu-Dramatiker" Ferdinand von Schirach (dessen dramatischer Erstling "Terror" mindestens 14 Inszenierungen erleben wird), der Regisseur Thom Luz (der zum Neustart des Theaterteams in Basel beitragen wird) und der Regisseur Simon Stone (der ebenfalls in Basel arbeiten wird, aber jetzt auch an den großen deutschen Bühnen durchstartet, an den Münchner Kammerspielen und am Deutschen Schauspielhaus Hamburg). Der Vollständigkeit halber hier noch die Deutsche-Bühne-Kandidaten aus der Sparte Musiktheater: Lydia Steier, Peter Konwitschny, Kent Nagano, Sebastian Baumgarten, Elias Grandy und Susanne Schulz (wie viele Namen müssen Sie googeln?). Und aus der Sparte Tanz: Martin Schläpfer, Susanne Linke und Stephanie Thiersch. Im letzten Jahr, das nur nebenbei, war übrigens z.B. Susanne Kennedy auf der Liste (nicht schlecht!) oder auch Robert Teufel (hat sich noch nicht als Shooting Star bestätigt). Chris Dercon allerdings fehlte ...

Theater der Zeit

"Die Kunst der Volksbühne, mit all ihren Protagonisten, Freunden, die sich nichts schenkten, die sich aufrieben, die unter dem Rad auf zwei Beinen ikonografisches Theater spielten, selbst ein Teil dieses Gesamtkunstwerks wurden, er war der, der immer da war." Er – das ist natürlich der Ende Juli so überraschend verstorbene Bühnenbildner Bert Neumann, zugleich der grafische Erfinder der Castorf-Volksbühne. Der Regisseur Leander Haußmann – und mit ihm auch die Schauspieler*innen Milan Peschel, Robert Hunger-Bühler, Lilith Stangenberg und Fabian Hinrichs – denkt im September-Heft von Theater der Zeit darüber nach, was nun, da Neumann nicht mehr hier ist, "verschollen und vergraben ist."

theater der zeit Sept 180Am wunderbarsten in diesem Erinnerungsreigen aber ist eine Anekdote von Henry Hübchen, die von der Geburt des geschlossenen, nicht einsehbaren Raumes – eines Markenzeichens vieler Neumann-Bühnen – erzählt. Wir befinden uns im Jahr 2000, auf den Proben zu Tennessee Williams' "Endstation Sehnsucht".

"F.C.: 'Was ist denn dahinter?' B.N.: 'Das Bad.' Bert hatte [in die aufgeschnittene Wohnung, die die Bühne zeigte] ein Bad mit Badewanne, Toilette und Waschmaschine eingebaut. Das konnte man nur nicht sehen. F.C.: 'Ja, aber ich kann da ja nichts sehen!' (...) B.N.: 'Man kann die Tür aber offen lassen.' Stanley Kowalski kackt bei offener Toilettentür. Das ist schon mal ein Ansatz für meine Figur. Das gefiel mir. F.C.: Ich kann aber trotzdem nicht viel sehen.' B.N.: 'Aber hören!' F.C.: 'Wie soll ich in dem Raum was inszenieren? (ironisch) T. Williams hat die Räume doch ganz genau beschrieben. Brauchst du doch bloß so machen.' B.N.: (mit feinem Spott) 'Ich kann ja die Vorderwand aus Plexiglas machen, wenn du das willst.' (...) Eines Mittags (...) war eine Kamera in einer Ecke des 'Problembades' und übertrug ein Bild auf den Fernseher in der Wohnung. Ab da ging alles wie am Schnürchen. (...) Und Stanley Kowalski wurde der erste Kameramann der vielen Castorf-Inszenierungen, die ohne professionelle Kameraleute nicht mehr denkbar wären." Großartig! So wird Theatergeschichte gemacht!

In einem Essay für die TdZ-Reihe "Neuer Realismus", die an Bernd Stegemanns Thesen zur "Kritik des Theaters" (zur Rezension auf nachtkritilk.de) anknüpft, schreibt die Dramatikerin Kathrin Röggla, dass sie sich in der "mehr schlecht als recht geführten Debatte zwischen dem neuen Realismus und der Postdramatik (...) zunehmend unwohl" fühle. "Mein Problem ist, dass mir der Ort des Theaters nicht mehr ganz klar ist, zu viele hybride Theaterformen sind da, denen man schlecht das vermeintlich klassische Schauspielertheater gegenüberstellen kann. Ich kann ja noch nicht einmal mehr zwischen Fiktion und Realem unterscheiden (...), das durchdringt sich heute bzw. löst sich begrifflich auf in seiner jeweils konkreten Einspannung." Röggla habe in ihrem Schreiben immer "nur ansatzweise Ahnung davon, was Realismus ist": Realismus beginne "in den Problemstellungen, den Abstraktionen, den Theoremen, die hinter unseren Vorstellungen von dem, was wir Wirklichkeit nennen, stehen." Das "Problematische des heutigen Realismus stofflich zu reflektieren", sei allerdings "schon Teil seiner Lösung – es steht ja nicht nur für ein rein ästhetisches Problem (...), sondern ist auch stets ein politisches, gesellschaftliches."

Noch ein Kuriosum am Rande: Im hinteren Teil des Heftes findet sich eine vollwertige Besprechung Holger Teschkes von Gunnar Deckers neuem Buch "1965. Der kurze Sommer der DDR". Eigentlich nichts Besonderes, nur merkwürdigerweise ist Gunnar Decker auch Redakteur bei Theater der Zeit. Eine Besprechung des eigenen Buches im eigenen Blatt zu platzieren, ist aber vielleicht doch ein wenig, sagen wir, unelegant ...

 

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