Magazinrundschau September 2015 – ein erweiterter Grundriss der Kunst, artivism und der Abschied von Bert Neumann
Stanley Kowalski kackt in Castorfs Problembad
Stanley Kowalski kackt in Castorfs Problembad
von Wolfgang Behrens
September 2015. Theater heute bilanziert die großen Themen der Saison, die Deutsche Bühne glaubt bereits die Köpfe der nächsten zu kennen. Und in Theater der Zeit erleben wir – leider aus traurigem Anlass – noch einmal einen theaterhistorischen Moment.
Theater heute
Im September kann Theater heute wie immer mit seinem Jahrbuch samt Kritiker*innen-Umfrage prunken, letztere ist auf nachtkritik.de ja bereits vorgestellt worden. Aber das Jahrbuch bietet natürlich mehr als eine Tabelle, aus der am Ende ein paar "(was auch immer) des Jahres" gewonnen werden, es gilt auch noch einmal den großen Themen der Saison. Und die größten unter ihnen sind weiterhin die Debatte um die Zukunft der Berliner Volksbühne und – eng mit ihr verknüpft – die Frage nach der Zukunft des Stadt- und Ensembletheaters. Die drei Theater heute-Redakteure haben daher die üblichen Verdächtigen (Matthias Lilienthal, ab sofort Münchner, und Wilfried Schulz, Noch-Dresdner, bald Düsseldorfer) mit den künftigen Verdächtigen (Chris Dercon und Marietta Piekenbrock, beide Post-Castorf-Berliner) zusammengesetzt.
Matthias Lilienthal analysiert dabei die Debatte um die Castorf-Nachfolge folgendermaßen: "Die Diskussion um die Ernennung von Chris Dercon strotzte nur so vor Verlogenheit. Man muss vielleicht daran erinnern, dass die Gründung einer Freie-Gruppen-Szene in Deutschland etwas mit politischem Protest und linken Bewegungen zu tun hatte, weil es zu der Zeit ein großes Leiden gab an verkrusteten Strukturen im Stadttheaterbetrieb. Bis zu dieser Diskussion im April galt freies Theater als tendenziell links und Stadttheater eher als konservativ. Und plötzlich galt dann die Arbeit in Freien Gruppen als neoliberale Ausbeutung, outgesourced und reaktionär. Und das Ensembletheater wurde zum linksradikalen Protest gegen Globalisierung. Das halte ich für absurden Unsinn."
Dercon selbst darf präzisieren (wobei das mit der Präzision etwas dahinsteht), was seine Pläne für die Volksbühne sind: "(...) es geht um die ganze Stadt. (...) Eine Stadtarchitektur mit Körpern und Publikum, denn es geht darum zu definieren, was heute öffentlicher Raum ist. (...) Für uns ist Berlin nicht nur ein Ort in Deutschland, Berlin gehört auch der Welt. Unser Bezugsrahmen ist nicht nur Dresden oder das deutschsprachige Theater, sondern was in Manchester passiert, was New York vorhat, was in Lausanne am Theatre de Vidy passiert." Klingt jedenfalls nach einer sehr westlich gedachten Avantgarde, Moskau, Damaskus und Peking nennt Dercon nicht. Er macht hingegen auch klar, dass es nicht um eine Abschaffung des Ensemblekerns gehe. Marietta Piekenbrock ergänzt jedoch: "Wir wollen an der Volksbühne den Grundriss erweitern, auf dem Kunst stattfinden kann. Möglicherweise wird er sich nicht mehr in einen klassischen Repertoirebetrieb fügen lassen" – und sie beruft sich hierbei auf einen Satz Heiner Müllers: "Die Misere ist der Repertoirezwang." Hier also die künftige Volksbühnen-Struktur in vier Worten zum Ausschneiden und Mitnehmen: Ensemble ja, Repertoire nein. Ha!
Äußerst lesenswert ist der Beitrag des Impulse-Festivalleiters Florian Malzacher, der eine Art Phänomenologie der Aktionskunst bzw. des Kunstaktivismus aufmacht und auch über gewisse Paradoxa des "artivism" nachdenkt. Im Zentrum des Aktivismus stehe das Konzept der direct action. "Direkte Aktionen sind das Gegenteil von Zweifel, von Ambivalenz. Reflexion ist – zu einem Grad – aufgeschoben. So gesehen scheint die direkte Aktion der Moment zu sein, an dem der Aktivismus am weitesten von der Kunst entfernt ist. Auf der anderen Seite gibt es den Augenblick, wenn eine Performance in Gang kommt, und es keine Möglichkeit zur Umkehr mehr gibt. Wenn alles nur noch im Hier und Jetzt ist. So gesehen scheint die direkte Aktion der Moment zu sein, wenn Aktivismus am nächsten an der Kunst ist. Viele radikale Momente der Performance-Kunst oder Live Art ließen sich problemlos als direkte Aktionen beschreiben." Malzacher blickt auch auf die größeren Zusammenhänge, so sei es seines Erachtens "nicht überraschend, dass die politische Krise der Repräsentation der letzten Jahre mit einer künstlerischen Krise des bürgerlichen Theatermodells (...) einhergeht." Malzacher hält es allerdings für wichtig, dass "nicht auf ein simpel gedachtes, eilfertiges Mitmachtheater" gezielt werde, "das eine Art der Bevormundung lediglich durch eine andere ersetzt. (...) Teilhabe ist kein pazifizierendes Placebo. Sie kann ermächtigend sein, aber auch anstrengend oder gar unangenehm."
Die deutsche Bühne
Gegenüber dem "artivism", wie er bei Malzacher beschrieben wird, nimmt Detlev Baur im September-Heft der Deutschen Bühne eine zumindest leicht skeptische Haltung ein. Zwar fragt er in einem Kommentar, ob "politisch hellsichtige und engagierte Theatermacher" womöglich bald "die fünfte Gewalt im Staate" seien, fügt dann aber hinzu: "Ich glaube jedenfalls nicht, dass Theatermacher und Künstler grundsätzlich die besseren Politiker wären. Bestärkt haben mich darin jüngst zahlreiche Tweets und Facebook-Einträge von 'befreundeten' Theaterleuten anlässlich der Griechenland-Krise: bar jeder historischen Einsicht in die besonderen griechischen Verhältnisse." Da ist schon etwas dran: Manches, was man von Theaterleuten hört und auch in ihren Inszenierungen sieht, geht nicht über Stammtischparolen à la "Kapitalismus ist doof" hinaus. Manches, was man von Politikern hört, ist indes auch nicht besser (juhu, eine weitere Stammtischparole!), weswegen Theatermacher vielleicht auch nicht grundsätzlich die schlechteren Politiker wären.
Ansonsten wagt es Die deutsche Bühne nach 2014 nun schon zum zweiten Mal, nicht etwa die Köpfe der vergangenen Spielzeit zu benennen, sondern diejenigen der kommenden Saison auszurufen. Wobei da vielleicht auch der eine oder andere Eindruck aus dem Vorjahr eine Rolle gespielt haben mag. Für alle Fans von Listen seien sie also hier genannt, die Köpfe der Saison 2015/16. Im Schauspiel sind das Sibylle Broll-Pape, die neue Intendantin in Bamberg (wird am Haus "dramaturgisch einiges bewegen"), die Schauspielerin Ursina Lardi (wird mit Milo Rau arbeiten und seinem Text "eine klare persönliche Verbindlichkeit" geben), der "Neu-Dramatiker" Ferdinand von Schirach (dessen dramatischer Erstling "Terror" mindestens 14 Inszenierungen erleben wird), der Regisseur Thom Luz (der zum Neustart des Theaterteams in Basel beitragen wird) und der Regisseur Simon Stone (der ebenfalls in Basel arbeiten wird, aber jetzt auch an den großen deutschen Bühnen durchstartet, an den Münchner Kammerspielen und am Deutschen Schauspielhaus Hamburg). Der Vollständigkeit halber hier noch die Deutsche-Bühne-Kandidaten aus der Sparte Musiktheater: Lydia Steier, Peter Konwitschny, Kent Nagano, Sebastian Baumgarten, Elias Grandy und Susanne Schulz (wie viele Namen müssen Sie googeln?). Und aus der Sparte Tanz: Martin Schläpfer, Susanne Linke und Stephanie Thiersch. Im letzten Jahr, das nur nebenbei, war übrigens z.B. Susanne Kennedy auf der Liste (nicht schlecht!) oder auch Robert Teufel (hat sich noch nicht als Shooting Star bestätigt). Chris Dercon allerdings fehlte ...
Theater der Zeit
"Die Kunst der Volksbühne, mit all ihren Protagonisten, Freunden, die sich nichts schenkten, die sich aufrieben, die unter dem Rad auf zwei Beinen ikonografisches Theater spielten, selbst ein Teil dieses Gesamtkunstwerks wurden, er war der, der immer da war." Er – das ist natürlich der Ende Juli so überraschend verstorbene Bühnenbildner Bert Neumann, zugleich der grafische Erfinder der Castorf-Volksbühne. Der Regisseur Leander Haußmann – und mit ihm auch die Schauspieler*innen Milan Peschel, Robert Hunger-Bühler, Lilith Stangenberg und Fabian Hinrichs – denkt im September-Heft von Theater der Zeit darüber nach, was nun, da Neumann nicht mehr hier ist, "verschollen und vergraben ist."
Am wunderbarsten in diesem Erinnerungsreigen aber ist eine Anekdote von Henry Hübchen, die von der Geburt des geschlossenen, nicht einsehbaren Raumes – eines Markenzeichens vieler Neumann-Bühnen – erzählt. Wir befinden uns im Jahr 2000, auf den Proben zu Tennessee Williams' "Endstation Sehnsucht".
"F.C.: 'Was ist denn dahinter?' B.N.: 'Das Bad.' Bert hatte [in die aufgeschnittene Wohnung, die die Bühne zeigte] ein Bad mit Badewanne, Toilette und Waschmaschine eingebaut. Das konnte man nur nicht sehen. F.C.: 'Ja, aber ich kann da ja nichts sehen!' (...) B.N.: 'Man kann die Tür aber offen lassen.' Stanley Kowalski kackt bei offener Toilettentür. Das ist schon mal ein Ansatz für meine Figur. Das gefiel mir. F.C.: Ich kann aber trotzdem nicht viel sehen.' B.N.: 'Aber hören!' F.C.: 'Wie soll ich in dem Raum was inszenieren? (ironisch) T. Williams hat die Räume doch ganz genau beschrieben. Brauchst du doch bloß so machen.' B.N.: (mit feinem Spott) 'Ich kann ja die Vorderwand aus Plexiglas machen, wenn du das willst.' (...) Eines Mittags (...) war eine Kamera in einer Ecke des 'Problembades' und übertrug ein Bild auf den Fernseher in der Wohnung. Ab da ging alles wie am Schnürchen. (...) Und Stanley Kowalski wurde der erste Kameramann der vielen Castorf-Inszenierungen, die ohne professionelle Kameraleute nicht mehr denkbar wären." Großartig! So wird Theatergeschichte gemacht!
In einem Essay für die TdZ-Reihe "Neuer Realismus", die an Bernd Stegemanns Thesen zur "Kritik des Theaters" (zur Rezension auf nachtkritilk.de) anknüpft, schreibt die Dramatikerin Kathrin Röggla, dass sie sich in der "mehr schlecht als recht geführten Debatte zwischen dem neuen Realismus und der Postdramatik (...) zunehmend unwohl" fühle. "Mein Problem ist, dass mir der Ort des Theaters nicht mehr ganz klar ist, zu viele hybride Theaterformen sind da, denen man schlecht das vermeintlich klassische Schauspielertheater gegenüberstellen kann. Ich kann ja noch nicht einmal mehr zwischen Fiktion und Realem unterscheiden (...), das durchdringt sich heute bzw. löst sich begrifflich auf in seiner jeweils konkreten Einspannung." Röggla habe in ihrem Schreiben immer "nur ansatzweise Ahnung davon, was Realismus ist": Realismus beginne "in den Problemstellungen, den Abstraktionen, den Theoremen, die hinter unseren Vorstellungen von dem, was wir Wirklichkeit nennen, stehen." Das "Problematische des heutigen Realismus stofflich zu reflektieren", sei allerdings "schon Teil seiner Lösung – es steht ja nicht nur für ein rein ästhetisches Problem (...), sondern ist auch stets ein politisches, gesellschaftliches."
Noch ein Kuriosum am Rande: Im hinteren Teil des Heftes findet sich eine vollwertige Besprechung Holger Teschkes von Gunnar Deckers neuem Buch "1965. Der kurze Sommer der DDR". Eigentlich nichts Besonderes, nur merkwürdigerweise ist Gunnar Decker auch Redakteur bei Theater der Zeit. Eine Besprechung des eigenen Buches im eigenen Blatt zu platzieren, ist aber vielleicht doch ein wenig, sagen wir, unelegant ...
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Ich bin mir nicht sicher, ob wir in dieser ganzen Debatte den Begriff der freien Szene richtig verwenden. Wenn wir vom HAU sprechen, vom mousonturm, von Kampnagel, oder anderen Produktions- und Spielstätten der vagabundierenden Produktionen, haben wir ja nichts anderes als eine Ansammlung metropolitaner Stadttheater, die sich wechselseitig, ein einem langen Reigen, die immergleichen Produktionen leihen, kofinanzieren und weitergeben.
Die Strukturen dort sind ebenso autokratisch, wie am Stadttheater, der Kurator und Leiter ist der Monarch. Da kann man im Schlabberlook kommen oder nicht, die Gehälter dieser netten KollegInnen sind inzwischen so hoch, wie die eines Stadttheaterintendanten.
Die Programme ähneln einander, ein bisschen Rimini Protokoll hier, ein wenig Milo Rau da, ein wenig dies, ein wenig das. Mal baucht man Häuser in die Spielstätten, mal baut man klein Häuschen ausserhalb der Spielstätten, und wenn gar nichts mehr geht, führt man durch die Spielstätten, wo einen kleine performative Etüden erwarten. Dort wird kalter Kaffee gekocht, Jahr um Jahr, aufgebrüht und immer wieder neu serviert.
Die freie Szene arbeitet in den Hinterhöfen und führt ihre Produktionen vor den communities auf, dort stecken die Theatermacher ihr eigenes Geld in die Arbeit, und erwarten nicht, dass sie es jemals wiederbekommen.
Weil die großen Produktionshäuser genau das Geld abziehen, dass die kleinen Gruppen bekommen müssten, arbeiten dort alle im prekären Bereich.
Es wäre mir wichtig, wenn wir hier weiter diskutieren, die großen Produktionsstätten bitte nicht freie Szene zu nennen, sondern das was sie sind, Bespieltheater und Produktionsstätten. Und das Geld, das ihnen zufliesst, sollte den wirklich freien zukommen.
Dort wo sich Geld konzentriert, konzentriert sich Macht, und da zieht niemals freundliches Wetter auf.
Was, wenn man das Geld von Hau und Co. (...) einfach den kleinen freien Gruppen zukommen lässt? Die dann de luxe im Hau und Co auch Proben und produzieren dürfen...
Danke, dass es hier mal jemand deutlich auf den Punkt bringt. Viele wissen offensichtlich nicht, was "freie Szene" bedeutet, weil sie von den meisten Inszenierungen (die es ja nicht nur in den Großstädten gibt!) nichts mitbekommen. In der freien Szene gibt es keine Häuser; vor jeder neuen Produktion muss man um eine Bühne kämpfen. Öffentliche Zuschüsse sind sehr überschaulich, private Sponsoren eher die Ausnahme, Bezahlung fast unmöglich. Das Plakat entwirft ein befreundeter Kunststudent, der Regisseur muss vor der Aufführung die Stühle aufstellen, der Dramaturg wirft Werbezettel in Briefkästen, die Schauspieler machen auch das Bühnenbild und die Kostüme. Dann ist man glücklich, wenn 40 Zuschauer am Abend kommen. Letztlich kann man von ehrenamtlichem Theater sprechen. Das HAU ist ebenso wenig freie Szene, wie Matthias Lilienthal. Und die freie Szene ist auch nicht zwingend "links" (was auch immer damit gemeint sein soll!?), manchmal sind es einfach nur Menschen, die das Theater lieben.
Es geht hier nicht um eine Neiddebatte, es geht um eine Klärung von Fakten. Es kann nicht sein, dass fünf "freie" Produktionsstandorte und die zum Inventar gehörenden 15-20 Ensembles/Gruppen/Projekte 75-80% der Fördermittel abziehen! die unter dem Label Freie Szene firmieren, und der Rest mit ein wenig Glück an die 800 freuen Gruppen im Land gehen.
Ich bin für eine Gerechte Verteilung. Und für ein Faires Label!
Wo frei drauf steht muß auch frei drin sein!
Ansonsten bin ich immer für Umverteilung. Höhere Kulturetats, mehr für alle Theater, davon
50% für Stadttheater, 25% für Produktionshäuser und 25% für freie Gruppen.
Für mich ist die Einteilung plausibel.
Das heißt im Endeffekt, nur noch 50% der Theatermittel für die Stadttheater. Aber nur, wenn es nicht weniger ist, als die Theater bis jetzt haben.
Kirilov
Haben Sie mal an einem kleinen Stadttheater gearbeitet und sich dort ein Bild über die Produktionsbedingungen gemacht?
Dort geht fast nichts mehr, weil die Technik reihenweise ausfällt, der Regisseur leiht sich eine Videokamera, einen Beamer gibt es nicht, den muß man sich von der Uni borgen.
Ihr dürft das nicht mit der Schaubühne oder dem BE oder den anderen großen Staatsbühnen in Berlin vergleichen. Da sieht das HAU technisch vielleicht nicht ganz so gut aus. Ansonsten ist das doch Erste Liga. Der technische Aufwand der Produktionen dort wird doch auch immer größer.
Darüber hinaus ist es meiner Wahrnehmung nach so, dass in den großen Produktionshäusern nicht nur etablierte Gruppen vertreten sind, sondern immer wieder auch neue Gesichter und Handschriften (z.B. SKART auf Kampnagel). Die fallen vielleicht weniger auf als bereits bekannte Namen.
Außerdem wurden die freien Gruppen, die jetzt international touren und Erfolge feiern, unter anderem von Häusern wie dem HAU groß gemacht.
Ich höre heraus, dass manche davon auszugehen scheinen, dass freies Theater prekäre Arbeitsverhältnisse voraussetzt. Das leuchtet mir nicht ganz ein. Schließlich wären viele Künstler froh über mehr Geld und bessere Produktionsmöglichkeiten. Freie Theatermacher sind - im Idealfall - professionelle Künstler, die entsprechende Arbeitsbedingungen brauchen und verdienen. Allerdings gibt es Gründe, wieso es manche nach oben schaffen und manche nicht. Dabei spielt Glück eine Rolle, sicherlich, aber auch Talent, Ideenreichtum und nicht zuletzt Durchsetzungsvermögen und Professionalität. Ich habe selbst in der freien Szene gearbeitet und erlebt, wie unstrukturiert da teilweise gearbeitet wird. Da fehlte es nicht nur an Geld.
Dass Häuser wie das HAU, Kampnagel oder der Mousonturm öffentliche Gelder bekommen, ist jedenfalls nicht nur sinnvoll, sondern unbedingt notwendig. Ich zumindest will die freie Szene nicht nur in Hinterhöfen vor 10 Leuten sehen - abgesehen davon, dass man von vielen Aufführungen gar nichts mitkriegt, weil sie einfach untergehen. Die Produktionshäuser ermöglichen Vernetzung, Professionalisierung und öffentliche Aufmerksamkeit.
solche beiträge liebe ich.
liebe anna,
genau umgekehrt, wir schreiben das, weil wir eben nicht mehr wollen,
dass die hinterhof produzenten prekär arbeiten, sondern dass dort etwas geld hinfließt, als anerkennung und der gerechtigkeit halber.
es ist nicht alles gut, was prekär ist oder prekär finanziert wird.
es gibt wunderbare inszenierungen, sogar im reichen stadttheater, bei castorf, oder thomas ostermeier.
und machen wir uns nichts vor, jedes dieser produktions-häuser schmückt sich mit einem kleinen festival oder programm, in dem es um neuentdeckung der "freien" szene geht. man castet gruppen und ensembles, um eine von vielen dann aufzufüttern und wieder reihum zu schicken, in endlosschlaufen mit den immergleichen programmen,
und es ähnelt so sehr den stadttheaterbemühungen, die reihen machen, wie junges theater, junge talente, meine güte.
sind es talente oder nicht. dann müssen sie spielen oder gezeigt werden.
im theater gibt es die privilegien jung oder alt zu sein, nicht mehr.
man ist oder man ist nicht.
es ist doch fürchterlich, dass jede der gruppen, die rumgereicht werden, und inzwischen sogar aufgepäppelt mit geldern der großen staatstheater, wien, berlin, das immergleiche programm zeigt.
der wiedererkennungswert ist so hoch, weil es sich bei jedem neuen programm doch zweifelsfrei um den versuch handelt, die kuh zu melken und eine erhöhung des marktwertes zu forcieren,
erst gibt es ein tribunal über rußland, dann über den kongo, was kommt als nächstes? mal wird das Kapital zerlegt, dann Mein kampf, es ist so beliebig, so oberflächlich, es geht nicht in die gründe und abgründe des theaters, wie hamlet oben schreibt.
ein schauspielerentleertes theater ist doch nicht unbedingt das bessere?
wollen wir das wirklich?
oder wollen wir ein theater, das mit seinen spielern die grenzen des möglichen erkundet, mit spielern die singen, tanzen, musizieren können, jenseits aller spartengrenzen und spartenansprüche
(ja, reisst die spartengrenzen ein!!
ihr auch liebe nachtkritik, zu wenig oper hier am platz, das würde ich dringend anraten, zumindest punktuell, wie es mit susanne kennedys orfeo schon geschehen ist, mehr tanz!!!)
ja, ich möchte nicht mehr in evangelische kunstkirchen gehen, wie hebbelhamlet schreibt, ich möchte entweder saftiges katholisches theater sehen, oder etwas neues, inspiriertes, die welt ist voller themen, texte, guter spieler.
ich wünsche mir kuratoren, die nicht einladen und ausschreiben, und sich hunderte bewerbungsvideos anschauen, sondern solche, die durchs land und in die hinterhöfe der metropolen fahren, und sich anschauen, was dort gerade passiert, die tagelang auf probebühnen hocken, die sich acht verschiedene gruppen teilen müssen, weil sie sich die tagesgebühr von 20 euro nicht leisten können.
vor allem wünsche ich mir neue kuratoren, mutige, und aus anderen bezirken, nicht dem staatsbezirk der theaterauskenner,
das übrigens auch im theatertreffen,
lasst doch bitte endlich mal andere, mindestens ebenso kluge menschen auf theater schauen, dieser provinzielle professionalismus macht das theater kaputt, wissenschaftler, ingenieure, ärzte, entwickungshelfer
!dios mio!
Natürlich. Aber wer in unserem großen Theatermodelle sagt uns, was gute Kunst ist. Verfolgen Sie die Debatte auf den anderen Kanälen von nachtkritik, da gibt es ein hochsubventionierten Beispiel von sogenannter Kunst, zps, die sich in gemeinsamer Sache mit einem Marketinmanagerintendanten einen zynischen Witz mit den Medien, vor allem aber den Zuschauern leisten.
Da dürften wir uns einig sein, dass es sich um, ich zitiere Sie, abstruse Ideen eines einzelnen Wichtigmachers und seiner Claque handelt.
Es kann doch nicht sein, dass die Intendanten von fünf Produktionshäusern in Deutschland entscheiden können, was zeitgenössische Theaterkunst ist? Oder eine Mini Jury, wer zum Theatertreffen eingeladen wird.
Die dort instrumentalisierte Macht, die festlegt, was gefördert wird oder nicht, was oder wer in den Blickwinkel der Aufmerksamkeit gerät oder nicht, ist absolut zeitgemäß, Post-Neo-liberal.
Aber es widerspricht den transportierten Inhalten, die von Freiheit und Überwindung der Grenzen träumen.
Es ähnelt dem heutigen China, ein harter, korrupter Kommunismus, der sich kleine marktwirtschaftliche Nischen züchtet, deren Macher nicht realisieren, dass sie instrumentalisiert werden.
Dann finde ich die altbackenen Stadttheater doch sympathischer, in denen zwar meist ein alter weißer Mann regiert, der wie wir alle Wissen zu viel Macht hat und zu viel verdient, der aber seine Ideen gegen oder mit einem Ensemble inszenieren muß.
Der Kurator geht letztlich nur schoppen. Armes Theater. Man kann nur beten, dass sich diese Produktionshäuser und die in Ihnen ausgestellte Kunst nicht langfristig durchsetzen.
Nochmals, was dort gezeigt, ob produziert oder abgespielt wird, ist kein freies Theater.
In diesem Sinne wollte ich die Redaktion anfragen, ob es in Ihrem Netzwerk KollegInnen gibt, die über das gegenwärtige Theater in China informieren könnten? Ich weiß, für Recherchen fehlt leider oft das Geld.
(Anm. Sehr geehrte Analytikerin, fairerweise muss man festhalten, dass Kay Voges in Dortmund einer der - seltener werdenden - regieführenden Schauspielleiter ist. Insofern ist der Begriff "Marketinmanagerintendanten" etwas irreführend. Mit freundlichen Grüßen aus der Redaktion, Christian Rakow)
Leider ist die Antwort: nein.
Grüße
jnm
Dieses GI vergibt jedes Jahr auch Residenzen, u.a. für Darstellende Kunst, daraus sind auch schon weitere Arbeiten gewachsen.
#20, an schulte: heißt das, die von Ihnen erwähnten Koproduktionen sind eher auf Vermittlung des Goethe-Instituts als aus jeweils hauseigenem künstlerischen Willen und Interesse an China undoder am Theater in China enstanden??