Ich bin Mutter Erde, und ihr seid alle Versager!

von Christian Rakow

Essen, 20. April 2007. Eine alte Einsicht von Bob Dylan lautet: Don’t look back. Und sie bestätigt sich auch in Edward Albees Ehehölle: Gute zwei Stunden sind in dem 1962 uraufgeführten Klassiker der Zimmerschlachten vergangen; die alternden Protagonisten George und Martha haben sich und ihre jungen Partygäste Nick und Putzi unter reichlich Einsatz von Marlborough und Jack Daniel’s schonungslos traktiert, als Martha zu Beginn des finalen Aktes ein angestaubtes Familienvideo einlegt. Was waren die Zeiten einmal schön:

Urlaubsbilder aus Italien, satte Bergwelten und sanfte Strände wackeln in 8mm über die Wohnzimmerrückwand. Erinnerungen an einen locus amoenus, einen lieblichen Ort, aus der Mitte des Wirtschaftwunders. Und heute? Da blickt man auf die eigenen vier Wände mit Verachtung: "Was ist das für ein Drecksloch!" Bedauerlich. Von ihrer sentimental journey in die Vergangenheit kann sich Martha nicht mehr erholen. Zunehmend gefühlig und erweicht streckt sie anschließend ihre Waffen und kollabiert vor ihrem nach wie vor kampfeslustigen Gemahl.

Keinen filigranen Fight zwischen zwei Eheleuten, sondern das Verfallstadium einer Familie hat Intendant Anselm Weber im Essener Grillo-Theater inszeniert. "Ich bin Mutter Erde, und ihr seid alle Versager", lässt Martha ihre Mitstreiter wissen. Und tatsächlich, Sabine Orléans ist eine Übermutter par excellence. Walkürenhaft, voll rotzigem, doch immer wieder leicht angewärmtem Ruhrpottsound gibt sie ihre Martha mit der Herzlichkeit der Unterschichten-Mama. Halbe Portionen sind die kindergleichen Gäste Nick und Putzi, wenn Martha sie an ihre Brust drückt. Kein Wunder, dass die Jugend hier nicht zur Entfaltung kommt. Die äußerst einfältig gezeichnete Putzi (Barbara Hirt) lässt ihre damenhafte Geltungssucht hin und wieder ins Gespreizte abkippen und kommt ansonsten zwischen Dauerübelkeit und Kognakzufuhr durchaus ein wenig existenziell bewegt, im Ganzen jedoch unbeschadet über die Runden. Nick (Dominic Oley), der Biologe und Karrierist, bleibt sich da noch treuer und pflegt beharrlich den leidenschaftslos souveränen Auftritt eines Mannes, der um seine gesicherte Altersvorsorge weiß. Und das, obwohl er auf dem Höhepunkt des Stückes die Martha-Mama beschlafen darf.

Saufen und Spintisieren gegen den Menschenpark

So entspringt die eigentliche Dynamik, die diesen Abend leidlich durch seine drei Stunden trägt, den Volten des Ehekombattanten und Geschichtsprofessors George, gespielt von Andreas Grothgar. Halb Melancholiker, halb Clown – so hat sich Grothgars George sein Leben eingerichtet im geräumigen Schatten der Rektorentochter, die er einst aus Leidenschaft und/oder ebenfalls aus karrieristischen Erwägungen geehelicht hat. Ein lakonischer Rückensitzer ist er zunächst. Stets schwankt er leicht, wenn er zum beflissenen Nachfüllen der Whiskeygläser aufbricht in den leeren Raum zwischen den seitlichen Polsterstühlen und dem weißen Kühlschrank, der zentral die Bar ersetzt (Bühne: Jörg Kiefel). Bald aber entdeckt man unter seinem wirren, ergrauten Haar den lustvoll bösen Dirigenten, der die Klaviatur der Gemeinheiten wie kein zweiter hier beherrscht.

Und man erinnert sich, was dieses Stück ja auch beinhaltet, jenseits aller bedauerlichen Zerrüttungen unter den Beteiligten. Es ist die Feier des Erzählens, des Lügens und Erfindens, die dieser George gegen die zunehmend sachliche und perfektionistische Moderne, die der Genetiker Nick repräsentiert, ins Feld führt. Das Saufen und Spintisieren wird zur Chiffre gegen den Menschenpark. Das ist das Angebot zügellos kreativer, imaginativer Geschichtsschreibung, das George macht. Im Jahr der Geisteswissenschaften, in dem wir uns anno 2007 befinden, ist das eigentlich kein schlechtes Angebot. Zumal eines, das den Blick nicht zurück, sondern nach vorn ausprobiert.


Wer hat Angst vor Virginia Woolf
von Edward Albee

Regie: Anselm Weber, Bühne: Jörg Kiefel.
Mit: Barbara Hirt, Sabine Orléans, Dominic Oley, Andreas Grothgar.

www.theater-essen.de

Kritikenrundschau

In der NRZ (Neue Rhein-/Ruhr-Zeitung, 22.4.2007) freut sich Jens Dirksen über eine "schlüssig und ohne Längen inszenierte Nacht der langen Beckmesser" - eine Einschätzung, die er mit akkurat gestoppter Applausdauer zu unterstreichen sucht ("Premierenbeifall? Ach was: 8:46 Minuten langer Kampfjubel!").

BJ in den Ruhr Nachrichten (22.4.2007) sieht die Sache anders. "So kalt und klug ist dieser Ehekrieg, so geschliffen sind die Beschimpfungen, dass ein Regisseur sich schon sehr anstrengen muss, diesen Abend kaputt zu kriegen. Hausherr Anselm Weber schafft es im Essener Grillo-Theater trotzdem." Wobei sie oder er Sabine Orléans in der Rolle der Martha genauso großartig findet wie der Kollege in der NRZ: "Eine Mischung aus Vollweib und Waschweib", "eine Wuchtbrumme und Proletin, kraftvoll und lustvoll ordinär zugleich". Aber: "Ihre schauspielerische Tour de force, vom Publikum mit viel Appplaus honoriert, degradiert alle anderen zu Stichwortgebern". Und so wurde die Inszenierung im Ganzen dann doch für falsch befunden.

 

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