"Besonderer Stil des Wahrnehmens, Entwerfens und Schreibens"

Berlin, 2. Oktober 2015. Der Theaterwissenschaftler Helmar Schramm ist tot. Wie das Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin mitteilt, starb Schramm am Montagabend nach langer, schwerer Krankheit. Er wurde 66 Jahre alt.

Schramm, der nach seiner Promotion 1979 lange Jahre als wissenschaftlicher Assistent an der Theaterwissenschaft der Berliner Humboldt-Universität arbeitete, wurde 1995 zum Professor am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Leipzig berufen. 1998 wechselte er an die FU Berlin.

Prägend für eine Generation von Theaterwissenschaftlern wurde sein Buch "Karneval des Denkens. Theatralität im Spiegel philosophischer Texte des 16. und 17. Jahrhunderts" von 1996. Auch in seinen übrigen Arbeiten verknüpfte er auf oft überraschende Weise Philosophie und Theaterwissenschaft miteinander, etwa in seinen Vorlesungen über Theatergeschichte als Mediengeschichte.

"Seit 1998 hat Helmar Schramm unser Institut durch sein Denken und Arbeiten geprägt und verändert", schreiben für das Institut für Theaterwissenschaft Matthias Warstat und Hermann Kappelhoff. "Er hat der internationalen Theaterwissenschaft durch sein Verständnis von Theatralität als Denkfigur, seine Neukonzeption von Theatergeschichte als Wissensgeschichte und sein entschiedenes Eintreten für eine Öffnung des Fachs zu anderen Künsten und Medien neue Wege gewiesen. Weit über die Grenzen der Theaterwissenschaft hinaus hat sein besonderer Stil des Wahrnehmens, Entwerfens und Schreibens beeindruckt und inspiriert."

Die öffentliche Trauerfeier findet am Dienstag, den 13. Oktober 2015, um 15 Uhr im Krematorium Berlin Baumschulenweg, Kiefholzstraße 221 statt.

(Institut für Theaterwissenschaft / geka)

 

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Kommentare  
Helmar Schramm: Dank fürs Querdenken
Bin so traurig! Danke fürs Querdenkenlernen! Hab's nicht mehr geschafft, es ihm persönlich zu sagen. Muss beim Denken oft an ihn denken.
Helmar Schramm gestorben: wunderbarer Förderer und Vermittler
Ich stimme mit J.T. überein: Er war ein wunderbarer Lehrer und Vermittler; legte meine Prüfung bei ihm ab 2004 über John Cage. Er war wie Nelles ein Förderer des Denkens im Institut.
Helmar Schramm: ein wanderndes Denken
Die Betitelung „der Theaterwissenschaftler Helmar Schramm ist gestorben“, erscheint für die, die sein Arbeiten näher gekannt haben, sehr seltsam – denn geht seine Art zu Denken überhaupt nicht im akademischen Bild Theaterwissenschaftler auf. Das stößt sich, das reibt sich sofort. Ich muss unfreiwillig lächeln, wenn man diese dokumentarjournalistisch zweifellos richtige Überschrift liest, die einen Grenzgänger einbettet, ein Tot, der auf nachtkritik.de wahrscheinlich seine größte mediale Öffentlichkeit findet.

HELMAR SCHRAMM ist gestorben, das ist sehr traurig; und es ist beklemmend: denn mit diesem Verlust vermisse ich schon jetzt einen politisch-theatralen Denkstil.
Da war ein wanderndes Denken, das die Erfahrung gnadenlos zum Resonanzraum macht, den andauernden Einbruch ins Haus des Denkens begrüßt und verwebt, ein Denken, dass gnadenlos die Grenzen des Raumes enttarnt, in dem es sich befindet, dass jede theatrale Konstruktion entlarvt und in seiner tänzelnden Unruhe doch gleichzeitig die Utopie eines ganz anderen Theaterstils aufblitzen lässt.
Ja, eine faszinierende Willkommenskultur für fremde Impulse... und dabei nicht beliebig: ein Denken, das nicht scheut welt- und zeitumspannende Bahnen um sich herum zu spannen, und doch, falls diese einmal zusammenfallen, schallend zu lachen. Ein körperliches Denken, ein erotisches, dass den Marktplatz sucht und den Geruch der Exkremente und Fischweiber nicht scheut. Ein schwitzendes, exzentrisches Denken, dass dann urplötzlich in provokanter Langeweile ausharren kann... wie ein pausenreiches Konzert von John Cage.

Sein Projekt, den riesigen Bogen zwischen (Post-)Avantgarde und früher Neuzeit zu spannen und manchmal gefahrvoll zum Schwingen zu bringen, stellt radikal das infrage, warum wir glauben, dass Theater existiert, was das überhaupt ist. Sein Theater hat nichts mit diesen Räumen zu tun, in denen irgendwelche Menschen irgendwelchen anderen etwas vorspielen. Theater: kein Publikum, sondern public! Keine Rhetorik, sondern ein Denkfeld, ein Ritual, eine Diskothek. Ein spektakelreicher Schnittpunkt von Kunst, Wissenschaft, Sex. Ein elektrisches Denken, das die neuralgischen Punkte seiner Bedingungen aufsucht, aufplatzen lässt, und so Spuren hinterlässt... wie Feuerwerkskörper.

Sollten diese Spuren verglühen, könnte das vielleicht eine Tragödie sein. Schramms kritische Neugierde und Faszination für neue Medien, Technologien, globale Vernetzungen wie die tragische Lust an aktuellen Entwertungsschüben westlicher Kultur – all das verbindet sich bei ihm stillschweigend mit einem Bild: ein einzelner Mensch, der unter dem Himmel der Renaissance auf einem Feld steht und mit humanistischer Energie die Bahnen des Himmels, der Erde und seiner selbst dazwischen schwingend neu begreifen, greifen will. Da ist etwas Haptisches in seinem Blick aufs Aktuelle.
Da war etwas sehr Menschliches, wenn er, als Professor, morgens um 10, von intensiver Vorbereitung recht übernächtigt, zwischen Powerpointprojektionen in schwarzem Hemd im verdunkelten Hörsaal der Dahlemer Villa konzentriert durch den Raum schritt, seinen Gedankenspuren folgte, Bilder an die Wand projiziert: Technologien und Gemälde aus 8 Jahrhunderten, dazwischen Texte, Stichworte, nie fertig, nie sich in voller Konsequenz abschließend, den Punkt vermeidend...
Helmar Schramm: Torturen, Lektüreberge, ein Geschenk
Ich erinnere mich noch an das erste gemeinsame Seminar - Intermediale Passagen: Nam June Paik - , als Helmar Schramm zu Beginn von jedem Teilnehmer verlangte, zur nächsten Sitzung den eigenen Fernseher, damals noch klobige Kästen mit Braun'schen Röhren, mitzubringen. Dem aufkommenden Murren, ob der damit verbundenen Schlepperei, entgegnete er: "Wer schon hier scheitert, der taugt nur noch für die Laufbahn als Wissenschaftler. Und dann auch nur für ihre schlechteste Form, die wie ein Vampir am Körper der Kunst hängt und sich wundert, warum dort nichts mehr herauskommt."
Seine Veranstaltungen waren Torturen, für ihn selbst wie für die Studenten, völlig unzeitgemäß in der heutigen Trivialmaschine, die seine älteren Schüler noch als Universität erleben durften. Aber wer die Lektüreberge, die vierstündigen Seminare, die häufig bis in den Abend ausgedehnt wurden, und die zum Teil aberwitzigen praktischen Aufgaben auf sich nahm, wurde mit etwas belohnt, was man im humanistischen Sinne als Bildung bezeichnen kann.
Sein Denken war unprätentiös, aber von einer dunklen Strahlkraft durchdrungen, die man erleben mußte, seine Begeisterung so echt und aufrichtig, wie man sie selten bei Kennern der europäischen Geistesgeschichte findet.
Seine Präsenz verwandelte Räume, so wie er gerne Räume durch wilde Projektionen und Scheinwerfer verwandelte, um Denker wie Leibniz und Wittgenstein, aber auch hemdsärmelige Zeitgenossen wie Joseph Beuys, gebührend zu empfangen.
Das Ziel des Gelehrten ist es, in seinem Werk aufzugehen, und damit seinen physischen Tod in die Bedeutungslosigkeit zu stellen. Bei Helmar Schramm wird dies nicht gelingen. Zu stark war diese magnetische Aura seiner Person, sein saturnischer Blick. In seiner Gegenwart konnte man sich erheben, um dann, wenn man sich zu weit auf das Hochseil hinausgewagt hatte, väterlich aufgefangen zu werden.
Er war ein unverdientes Geschenk, für das Steglitzer Institut wie für die gesamte Theaterwissenschaft. Ein Abenteurer des Geistes, der es nun im rasanten Abwenden gerade noch schafft, uns mit einem Zuzwinkern einzuladen, unser Denken und unseren Mut am Beispiel seiner Kunst zu entwickeln und vielleicht zu befreien...
Helmar Schramm: immer die provokante Zuspitzung
Eins meiner Lieblingszitate: "Es hat noch keinen Denker gegeben, der etwas Wichtiges zu sagen hatte, der sich nicht der Lüge erdreistet hat zu behaupten, er habe eine These." Immer die provokante Zuspitzung - auch in der aberwitzig klingenden - These suchend und fordernd, Helmar Schramm.
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