Die wackelige Mitte der Asymmetrien

von Janis El-Bira

Berlin, Oktober 2015. "Also ich bin Zahnarzt", sagt Pouya. Der aus Afghanistan stammende Mann sitzt am Samstagnachmittag zusammen mit anderen in einem Raum der Berliner Universität der Künste auf dem Boden inmitten eines Stuhlkreises. "Nein, ich war Zahnarzt. Jetzt natürlich nicht mehr." Mit den meisten der Menschen neben ihm teilt er die beschämende Existenz in der Schwebe zwischen "nicht mehr" und "noch nicht".

Flüchtlingsdebatte und Fremdheitskonstruktionen

Shakib Pouya aus Herat, Afghanistan, engagiert sich im Augsburger Grandhotel Cosmopolis

Es sind großenteils Geflüchtete, die sich im Berliner Refugee Club Impulse oder, wie Pouya, im Augsburger Grandhotel Cosmopolis engagieren. So lange sie in Deutschland bloß Nummern in "unabgeschlossenen Verfahren" sind, machen diese Ärzte und Ingenieure im Land ihrer Zuflucht eben Kunst und Theater. Pouya übersetzt außerdem für andere Geflüchtete in sechs verschiedene Sprachen, darunter längst auch Deutsch. Dass diesem Mann trotzdem etliche Hürden auf dem Weg zu einer geregelten Tätigkeit errichtet werden, erscheint wie ein himmelschreiender Skandal.

Aber es gibt noch einen anderen, leiseren Skandal. Er liegt darin, dass wir alle als nachhaltigen Stimulus der Helferreflexe unserer "Willkommenskultur" offenbar Fallbeispiele wie dieses brauchen. Irgendwo, tief vergraben, sitzt das nicht totzukriegende Wundern darüber, dass es im nur von langbärtigen Gotteskriegern bevölkerten Afghanistan einen Mann geben soll, der Zahnarzt ist, sich für Theater begeistert und sechs Sprachen spricht. Einer wie "wir", sozusagen, kann und soll doch hier arbeiten! Wie hochgetürmt eine Fremdheitskonstruktion gewesen sein muss, zeigt sich auch im Maß der Erleichterung, wenn sie in sich zusammenfällt. Deshalb muss auch und gerade im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise über Rassismus gesprochen werden. Nicht bloß über jenen, der sich in brennenden Wohnheimen seine hässlichste Fratze gibt, sondern auch über seine stillere Form, tagtäglich manifestiert in unseren Verwaltungen, auf unseren Bühnen und in unseren Köpfen.

willkommenskultur 560 ChristianSchnettelker flickd.comCC2.0 ujpgFallbeispiele als Empathiehilfe © Christian Schnettelke / flickr.com CC 2.0

Emotional besetzte Themenfelder

In Berlin haben sich an diesem Wochenende drei nicht organisatorisch, aber thematisch verwandte Veranstaltungen dieses Themas vor allem mit Blick auf den Kulturbetrieb angenommen. Am Freitagabend war damit auf dem Branchentreff der Freien Darstellenden Künste im Aufbauhaus unter der Frage "'Einwanderungsland' als Aufgabe der Kultur" begonnen worden. Der ungeschriebenen Dramaturgie des Wochenendes tat es gut, dass am Anfang ein Vortrag der empirisch forschenden Politologin Naika Foroutan stand, und dass somit Zahlen genannt und Begrifflichkeiten geklärt wurden, ehe das hochemotional besetzte Themenfeld nach und nach seine Kräfte entfesseln durfte.

Foroutan geht es um das politisch-soziale Narrativ vom "Einwanderungsland" und um die "kritische Masse" jener 40 Prozent der deutschen Bevölkerung, die den Status quo in der Flüchtlingspolitik insgesamt für "in Ordnung" hält, und deshalb potentiell sowohl durch die "besorgten Bürger" wie durch die große Welle an Solidarität emotional einnehmbar bleibt. Und sie fragt, wie eigentlich die Selbstbeschreibung jenes "Wir" lautet, das in Statistiken um seine Meinung gebeten wird: "Wir", das sind natürlich "wir Deutschen" oder "die deutsche Kultur", nicht aber etwa "wir Nicht-Muslime" oder gar "wir Christen". "Wir" sind noch immer vor allem "nicht die Anderen", auf die so ziemlich alles externalisiert wird, was man bei sich selbst nicht haben will.

Autonomes Empowerment

Flucht Symbolbild 280 S Hofschlaeger pixelio.deBraucht es mehr Bilder von Vätern mit Kindern auf dem Arm? © S. Hofschläger / pixelio.deEs ist das Moment der Selbstkonstruktion in Abgrenzung vom Fremden, von dem Foroutan meint, es müsse mit den gleichen emotionalen Impulsen im Positiven gefüttert werden, von denen es auch im Negativen zehrt: Deshalb brauche es in den Medien und auf den Bühnen mehr Bilder muslimischer Väter, die mit ihren Kindern im Arm auf der Flucht sind, um mit gängigen Vorurteilen über den "muslimischen Mann" aufzuräumen. Das ist gut und richtig. Die dahinter steckende Verzweiflung ist allerdings kaum zu übersehen. Sie sagt, dass gefühlig erreicht werden muss, was als Projekt der Vernunft längst aufgegeben scheint. Wieder benötigt es erst einen "Die sind ja doch wie wir!"-Augenblick, damit "wir" uns erbarmen.

Die Mitte des Wochenendes, die Konferenz "Vernetzt euch!" der losen aktivistischen "Mind the Trap"-Gruppe, die 2014 aufmerksamkeitswirksam eine Fachtagung am Deutschen Theater crashte, tritt dagegen mit dem Vorsatz an, auch derlei positiver Stereotypenbildung mit den harten Zangen der Aufklärung den Zahn zu ziehen. Die Veranstaltung über "Strategien für eine diskriminierungskritische Kunst- und Kulturszene" in der Universität der Künste versammelt vor allem jene, die mindestens knietief in den Diskursen um gender equality und die (fehlende) Repräsentation von Menschen mit Behinderungen, mit Migrationshintergrund und people of colour stehen.

In Sachen Expertise schien man hier weitgehend unter sich zu sein und wie am ganzen Wochenende war frappierend zu sehen, dass die Diskussion offenbar das fast völlige Desinteresse der Generation "Ü45" erntet. Dass "Vernetzt euch!" deshalb weitgehend eine an Kontroversen arme Kuschelkiste war, ändert nichts daran, dass hier die richtigen Impulse gesetzt wurden. Im Zentrum standen dabei der Prozess des autonomen Empowerment und der sich in der Mehrheitsgesellschaft nur sehr langsam vollziehende Schritt vom Mitleiden über die Solidarität hin zur reziprok verantwortungsbewussten Normalität.

Sichtbarkeit behaupten

Dass es etwa immer Geld für "Integrationsprojekte" gebe, die "sonstige" künstlerische Arbeit von people of colour aber ungesehen an den Fördertöpfen vorbeizöge, wie Joshua Kwesi Aikins und Daniel Gyamerah herausstellten, ist das institutionelle Echo dessen, was Ahmed Shah vom Refugee Club Impulse zuvor in einem Workshop verdeutlich hatte: "Du bist nur so lange geduldet, wie du ein netter Ausländer bist." Wer Forderungen stellt, die sich über diesen Status des geduldeten Gastseins erheben, fällt in Deutschland nicht nur auf, sondern leider auch zwischen alle Stühle. Gerade deshalb gilt es, Räume und Infrastrukturen zu beanspruchen und Sichtbarkeit "from within" zu behaupten.

Wer nun dachte, dass bei so viel produktiver Sachlichkeit in ausgerechnet diesem verminten Terrain doch irgendwas nicht stimmen kann, wurde am Montagabend im Ballhaus Naunynstraße bestätigt. Dabei war hier alles bestens angerichtet. Unter der Frage "Wie geht es weiter?" war eine Panel-Diskussion über "(Un)sichtbarkeiten im Theater" angesetzt worden und genau das Publikum erschienen, das alle gerne hätten, und kaum jemand bekommt: unverschämt jung, beispiellos divers und offenkundig gebildet. Das "Problem" war hier der Mut, das Panel auch mit zwei Personen zu besetzen, die vom stets involvierten Auditorium schnell als Repräsentanten eines weißen, bürgerlichen Establishments ausgemacht wurden. Es waren die Kritikerin und Theatertreffen-Jurorin Barbara Burckhardt und Helge Rehders von der Senatskanzlei für Kulturelle Angelegenheiten. Vor allem Burckhardt hatte hier als glühende Verteidigerin von Nicolas Stemanns an diesem Ort sehr ungeliebter (und meist wohl ungesehener) "Schutzbefohlenen"-Inszenierung einen schweren Stand.

Bei der Pressekonferenz zur Theatertreffen-Auswahl am 4. Februar 2015 spricht Jurorin Barbara Burckhardt über "Die Schutzbefohlenen" von Elfriede Jelinek in der Regie von Nicolas Stemann.
Video: Berliner Festspiele / Youtube

Aggressionsgeladene Rekapitulation

Nach einem performativ an- und dahingehauchten Vortrag von Grada Kilomba über Narziss' Liebe zu seinem Spiegelbild als Symbol einer allein um die "reproduction of its own image" bemühten "whiteness", flogen so richtig die Fetzen, als die leider sehr wenig um Moderation bemühte Gesprächsleiterin Onur Suzan Nobrega das Stichwort "Blackfacing" ins Spiel brachte. Dabei konnten Burckhardt und Rehders Bedenkenswertes sagen, so viel sie wollten, sie blieben reduziert auf ihre Rollen, ihr Weißsein und die ihnen unterstellte Macht. Vieles hätte hier konstruktiv besprochen werden können, etwa, wie das genau funktionieren soll mit der kulturellen Teilhabe aller, mit dem Aufbrechen des Mainstream-Publikums und der schrittweisen Entsorgung all der institutionalisierten Großfische, die vom Kopf her stinken.

Leider blieb es bei einer ziemlich aggressionsgeladenen Rekapitulation der allseits bekannten Missstände. Am Samstagnachmittag hatte dagegen Ahmed Shah vom Refugee Club noch etwas ungemein Kluges gesagt, was dieser Abend hätte leisten können: Im großen, alle betreffenden Projekt der Integration und ihrer Fortsetzung in der Kultur geht es darum, "die Asymmetrie des Wissens" auszuhalten. Es gibt jene, die biographische Erfahrungen mit sich tragen, einige, die diskursive Expertise besitzen, und auch solche, die vor allem Kunst machen. Kaum jemand vereint alles auf sich. In der wackligen Mitte dieser Asymmetrien wird man nicht umhin kommen, miteinander zu sprechen.

 

3. Branchentreff der Freien Darstellenen Künste
"Einwanderungsland" als Aufgabe der Kultur
Mit: Boris Vormann (Moderation), Naika Foroutan (Vortrag), Barbara Meyer, Çığır Özyurt, Onur Suzan Nobrega
8.-10. Oktober 2015
Aufbauhaus Berlin

www.laft-berlin.de

"Vernetzt Euch!"
Strategien und Visionen für eine diskriminierungskritische Kunst- und Kulturszene
Kuratiert und organisiert von: Sandrine Micossé-Aikins, Luis Ortiz, Mirjam Pleines, Lisa Scheibner, Baharesh Sharifi
10. & 11. Oktober 2015
Universität der Künste Berlin

www.vernetzt-euch.org

"Wie geht es weiter?"
Paneldiskussion über (Un)Sichtbarkeiten im Theater
Mit: Grada Kilomba (Vortrag), Onur Suzan Nobrega (Moderation), Barbara Burckhardt, Atif Mohammed Nor Hussein, Helge Rehders, Thandi Sebe
12. Oktober 2015
Ballhaus Naunynstraße Berlin

www.ballhausnaunynstrasse.de

 

Alles zur Blackfacing-Diskussion im entsprechenden Lexikoneintrag. Auf nachtkritik.de wurde sie u.a. mit Debattenbeiträgen von Ulf Schmidt, Lara-Sophie Milagro und Nikolaus Merck begleitet. Im September 2014 berichtete Elena Philipp über die Podiumsdiskussion Rassismus im Kulturbetrieb im Berliner Ballhaus Naunynstraße.

Nicolas Stemanns Jelinek-Inszenierung Die Schutzbefohlenen war schon bei ihrer Mannheimer Premiere umstritten und wurde auch beim Theatertreffen-Gastspiel im Mai 2015 heftig diskutiert: Unser Bericht vom Theatertreffen-Thementag zu Flucht, Einwanderungspolitik und Asylgesetzgebung, eine Presseschau zur Diskussion um "Die Schutzbefohlenen", Rassismus, Flucht und Asyl, ein Bericht über den Thementag zu Theater und Postkolonialismus sowie eine Presseschau zum Interview mit Nicolas Stemann zu den Rassismus-Vorwürfen.

 

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