Presseschau vom 2. November 2015 – Die "Welt am Sonntag" würdigt den Kritiker Gerhard Stadelmaier zum Eintritt in die Rente
Der letzte Wackere der Widerspruchskunst
Der letzte Wackere der Widerspruchskunst
2. November 2015. Die Theaterkritik ist in der Krise, ruft Jan Küveler in der Welt am Sonntag (1.11.2015) aus, denn: "Ihr begnadetster Vertreter, Gerhard Stadelmaier, hat sich heimlich, still und leise in die Rente verabschiedet, angeblich schon im September." Küveler weiß zu berichten: "Es soll in der Frankfurter Hellerhofstraße einen Abschied gegeben haben, kein Herausgeber hat ihn besucht. Auch in der Zeitung ist nichts erschienen, keine Notiz, nicht die Rede, mit der sich der Kritiker in seinem allerletzten Text für die Zeitung mutmaßlich selbst kritisiert hat, im Ernst, zum Spaß, wie immer."
Küvelers Text reicht mithin die ausgebliebene Würdigung des kritischen Werks Gerhard Stadelmaiers nach. Der Welt-Redakteur nennt Lieblingskritiken und Lieblingswendungen ("Der Name des Regisseurs tut nichts zur Sache"), streift und verabschiedet Einwände, dass Stadelmaier "Vorlieben und das heißt Beschränkungen hatte", womöglich "zwischen Claus Peymann und Luc Bondy hängen“ geblieben sei, nur "Schauspielertheater" zugelassen habe und auch "keinen Sinn hatte für Agitprop, Flüchtlinge und körperlich oder sozial Deklassierte auf der Bühne" besessen habe. "Geschenkt", so Küveler. "Man muss nicht mit allem übereinstimmen, vielleicht sogar mit gar nichts, um in Stadelmaiers Verstummen eine Tragödie zu erkennen. Die beste Kritik ist eben eine Widerspruchskunst. Im Streit läuft sie zur wahren Form auf."
(chr)
nachtkritik.de gedachte des Eintritts Gerhard Stadelmaiers ins Rentenalter mit einem Kürzestfilmchen zum Saisonrückblick 2014/2015.
Richter, kein Retter
12. November 2015. Anlässlich der Verleihung des Schillerpreises hat Gerhard Stadelmaier sich zum ersten Mal in die Rolle des Laudatoren begeben – und die FAZ hat das zum Anlass genommen, ihren langjährigen, unlängst still und heimlich verabschiedeten Theaterkritiker doch noch zu würdigen. Stadelmaier habe bei der Laudatio "seine ganze Kritikerkunst aufgeboten und preisend beschworen, was er sich ersehnt und erträumt, wenn sich das Theater einen Kleist, Shakespeare, Ibsen oder Schiller vornimmt", schreibt Hubert Spiegel und zitiert Stadelmaier: "Figuren, die wirken, als seien sie soeben 'erfunden, für jetzt und heute geschrieben. Nicht aktualisiert. Sondern fürs Aktuelle entdeckt. Was ja ein großer Unterschied ist'."
Im "nicht gerade üppig besetzten Stadelmaier-Olymp" gehöre Andrea Breth neben Peter Stein, Ariane Mnouchkine, Peter Brook und einigen anderen zu "den wenigen Gottheiten, denen der Kritiker ein dauerhaftes Bleiberecht eingeräumt hat", so Spiegel. "Das heißt, dass auch eine ihm misslungen erscheinende Inszenierung nicht den sofortigen Rauswurf nach sich zieht: Irren ist göttlich. Er ist nur mit den Großen gnädig."
Unterwerfung sei Stadelmaier fremd. "Er dient seinen Göttern, indem er ihre Taten deutend vergegenwärtigt." Dann könne er sein, "was er am liebsten immer wäre: ein Liebender". Er bekämpfe seine Feinde, "indem er ihre Taten deutend vergegenwärtigt. Dann kann er sein, wofür ihn viele fürchten: ein Vernichtender, der seine Pointen mit dem Fallbeil aufs Papier ziseliert." Mildernde Umstände lasse Stadelmaier in der Kunst nicht gelten. "Er richtet, aber nicht, um zu retten."
(sd)
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Für die sogenannte Provinz mag Ihre Diagnose zutreffend sein, wobei zu untersuchen wäre, wie oft die Provinz früher Besuch von den Reisekritikern erhielt. In den Metropolen ist es aber heute wesentlich leichter als früher, sich einen vergleichenden Überblick zu verschaffen: weil die Profile der Häuser austauschbar geworden sind. Alle Regisseure, die in Wien und in Hamburg inszenieren, sind auch in Berlin zu sehen und umgekehrt. Das war früher anders. Der Reisekritiker wird weniger gebraucht. Und der Großkritiker à la Stadelmaier wurde eigentlich nie gebraucht.
Stadelmaier liebte sein Ressentiment, nicht das Theater. Sein Abschied ist eine durchweg gute Nachricht und für das FAZ-Feuilleton eine Chance.
Hier verbal nachzutreten und ihm keine Liebe zum Theater zu unterstellen finde ich geschmack- und respektlos.