Presseschau vom 7. November 2015 – Die Neue Zürcher Zeitung denkt über das schwierige Verhältnis zwischen Theater und Religion nach

Zeitgenössische Gestalt des Geistes

Zeitgenössische Gestalt des Geistes

7. November 2015. In einem Essay in der Neuen Zürcher Zeitung (6.11.2015) denkt Dirk Pilz über den Zusammenhang von Religion und Theater nach.

Kult für Sonderlinge

"Symptomatisch für den Umgang des deutschen Gegenwartstheaters mit Religion" sei es, Religion auf der Bühne darzustellen als "diffusen Sammelbegriff für alles, was irgend fremd, unvernünftig oder irrational ist". Sie wird als "das vorgeführt, was moderne, aufgeklärte Menschen nicht brauchten". Als "entstammten Gläubige einem Hinterwäldler-Land, in dem sie ihren vormodernen Riten und vernunftfeindlichen Vorlieben nachgehen". Gläubig seien meistens Absonderliche, erkennbar an Äusserlichkeiten. Auf diese Weise würden starre Zerrbilder entworfen, die den Gläubigen als "Gefangenen seines Glaubens" kennzeichnen wie bei Susanne Kennedy etwa, als "bedauernswertes Opfer einer Verblendung" wie bei Michael Thalheimer oder als "exotistische Sonderlinge" wie bei Frank Castorf.

Unterschiede zwischen den Religionen würden nicht gemacht. Allenfalls gegenüber dem Judentum gebe es eine "gewisse Scheu", als fürchte man den Vorwurf des Antisemitismus. Gerade damit allerdings werde "das jahrhundertealte Motiv einer ausgrenzenden Politik bedient".

Natürlich gebe es unter den Theaterleuten Ausnahmen: Yael Ronen, Stefan Bachmann, Ulrich Khuon, der es "als Theologe" es für möglich halte, dass "die Religionen helfen könnten, "die Erfahrungen der Menschen zu erweitern". Meistens allerdings sehe es im Theater so aus, als wären Gläubige "Anhänger eines sonderbaren Kults".

Konkurrenz zwischen Theater und Religion

Ein Grund dafür liege sicherlich in der "nahen Verwandtschaft von Theater und Religion", beide seien auf "ganzheitliche Erfahrungsweisen gerichtet". Diese Konkurrenz habe in der Geschichte wiederholt "zu wechselseitigen Vereinnahmungen und Verunglimpfungen" geführt. Ende des 18. Jahrhunderts habe das Theater versucht, "kirchliche Aufgaben zu übernehmen, indem die Bühne als moralische oder pädagogische Anstalt begriffen wurde". Diese Selbststilisierung der Bühne entfalte "bis in die Gegenwart starke Wirkung" und begünstige womöglich "den Dünkel gegenüber der Religion".
Das Theater ginge scheinbar von der These aus, "dass wachsende Aufklärung zu schwindender Religiosität" führe. Diese Subtraktionstheorie werde jedoch einer Wirklichkeit nicht gerecht, in der sich die Religionen "keineswegs überlebt" hätten.

Glaube sei heute eine "gleichberechtigte Option unter anderen". Die Religion sei "sogar" für Jürgen Habermas "eine zeitgenössische Gestalt des Geistes". Das Theater erkenne dies jedoch nicht an. Es tue so, als liessen sich "Religion und Rationalität schlicht gegenüberstellen", als gehörten die "komplexen dialektischen Beziehungen zwischen Glaube und Vernunft seit Kant nicht zu den meistdiskutierten Fragen in den Geisteswissenschaften, als gäbe es hier eindeutige, einfache Antworten".

(jnm)

Kommentare  
Presseschau Theater und Religion: Fragen und Einwände
Kann man den Essay von Dirk Pilz hier einstellen? In Gänze?
[In der Zusammenfassung liegt auf dem Namen Dirk Pilz ein Link, der führt zum Originaltext in der NZZ - jnm]
Das fände ich überaus sinnvoll. Bereits nach der Zusammenfassung durch - dem Kürzel nach - Merck, fallen mir mehrere Einwände ein:
1. das Primat in der nahen Verwandtschaft von Theater und Religion(-sausübung) liegt m.E. nicht in der gemeinsamen Ausrichtung auf "ganzheitliche Erfahrungsweisen", sondern in der räumlich eingegrenzten Ritualisierung anderen (einer Mehrzahl) vorgestellter geistigen Tätigkeit durch Ritual-Schöpfer (einer Minderzahl), die mehr ist als nur Denken.
2. Habermas wäre entgegenzuhalten, dass Religion prinzipiell eine Gestalt des Geistes (vielleicht hier im Sinne von Gewordensein eher sich auf Heidegger an dieser Stelle im Sinne von Sein und Zeit beziehend). Und zwar zu jeder Zeit. So dass JEDE Religion, die nicht mehr in zeitgenössischen, heutigen Ritualen ausgeübt wird, in jeder, die heute aktuell in zeitgenössischen Ritualen ausgeübt wird, historisch enthalten ist und mitgedacht werden kann. Nur dann, wenn sie historisch mitgedacht wird, kann sie auch heutige Religion als Gestalt eines zeitgenössischen, im Sinne von heutigem Geist sein.
3. Bedenkt man dies, könnte das Wertvolle am Theater heute sein, vorausgesetzt der diesbezügliche Befund von Pilz stimmt, dass das Theater den Habermas'schen Begriff von Religion als Gestalt des Geistes NICHT anerkennt und ihm eigene Ritualisierung entgegensetzt... (SEHR gute aufgeworfene Frage, DANKE an Pilz - sagt das mal jemand???) Dass Theater rituell so tut, als würden Religion und Rationalität einander gegenüberstehen, ist ein Hinweis darauf, dass es sein Handwerk noch immer beherrscht. Die Frage ist: Tut das Theater nur so als ob es so tut, weil dies dem Markt des Kulturmanagment dient?? Da würde mich eine erörternde Antwort von Ulrich Khuon als theologisch vorgeschultem Intendanten sehr interessieren!
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