Magazinrundschau November 2015 – Die Theaterzeitschriften denken über die Kunst in Zeiten von Pegida, über den Erfahrungsbegriff und den kreativen Burnout nach

Das E-Wort

Das E-Wort

von Wolfgang Behrens

November 2015. Theater der Zeit widmet sich in diesem Monat den "Phobien der Gegenwart", Theater heute flaniert mit dem King-of-Pop-Theory Diedrich Diederichsen über die Ruhrtriennale und Die deutsche Bühne fragt nach dem Burnout-Syndrom im Theater.

Theater der Zeit

Das Monatsthema von Theater der Zeit trägt im November die Überschrift "Phobien der Gegenwart". Michael Bartsch hat sich dafür mit Miriam Tscholl, der Leiterin der Bürgerbühne des Staatsschauspiels Dresden, und mit Hausregisseur Tilmann Köhler über das Theatermachen in der Pegida-Stadt unterhalten. Vor allem bei Köhler schwingt doch einiges an Desillusionierung mit: "Das letzte Jahr mit seinen fremdenfeindlichen Demonstrationen, Übergriffen und selbstverständlich gewordenen antidemokratischen Pöbeleien hat für mich viele Fragen ausgelöst, massiv auch nach der Relevanz der eigenen Arbeit. (...) Die für mich inhaltlich weniger relevante Arbeit war bei den Zuschauern oft erfolgreicher." Zugleich bemerkt Köhler, dass sich seine Erzählhaltung zur Eindeutigkeit hin verändert habe, und ist davon alles andere begeistert: "Wenn ich ein funkelndes Stück habe, frage ich mich, ob ich nur noch eine Lesart wählen kann, die Parolen ruft. Für mich war das die traurigste Erfahrung des letzten Jahres, dass ich anfange, darüber nachzudenken, ob ich dem Zuschauer die Deutungshoheit abnehmen muss. Dass ich mich plötzlich gezwungen sehe, eindeutig und damit auch ärmer zu erzählen, keine Ausflüchte möglich zu machen." Ein wahrhaft grausiger Befund: Die dumpfen Parolen der einen Seite dominieren den Diskurs so sehr, dass am Ende selbst die Kunst nur noch mit Parolen reagieren zu können glaubt. Auf heimtückische Weise hätte Pegida so ein Ziel bereits erreicht: die Einebnung der Differenzierungen.

TdZ1115 Cover 180In einem anderen Beitrag des Schwerpunkts hält die Dramatikerin und Hausautorin des Berliner Gorki-Theaters Marianna Salzmann eben gerade an diesen Differenzierungen fest und warnt vor einem gewissermaßen parolenhaften Antagonismus des Wir und Ihr. Tut der "Platzhalter Pegida", so fragt sie, "nicht auch gut, um sich nicht damit beschäftigen zu müssen, dass wir selbst ein Teil der Dynamik sind? Wenn jemand hochschwanger plötzlich Angst empfindet gegenüber dem Flüchtlingsheim in seiner Nähe, ist es dann rassistisch oder ein natürlicher Instinkt? Wenn jemand seine Handtasche fester an sich drückt, wenn Romafrauen vorbeigehen, wenn die Kinder nicht mehr im Park spielen sollen, weil da gedealt wird, wenn ein Kind auf eine Schule gehen soll, wo [kaum] Deutsch gesprochen wird. Können wir uns aus diesen Ängsten abstrahieren?" Und Salzmann fordert: "Unsere Ängste müssen benannt und entzaubert werden. Wir müssen aufhören, um Toleranz zu bitten, sondern eine neue Selbstverständlichkeit entwickeln, die nicht mehr auf wir und ihr basiert. Sonst sind unsere Theaterdiskurse im Kern nicht weit von denen, die wir so haarsträubend finden. (...) Das Ziel muss doch sein, unserer Angst nicht mehr so ausgeliefert zu sein (...)."

Hält man Tilmann Köhlers Erfahrungen und Marianna Salzmanns Text nebeneinander, so tut sich eine nahezu unüberbrückbare Spanne auf: Uns selbst (wer immer dieses Wir hier ist) in die Dynamik der Ängste einzuschreiben, wie es Salzmann vorschlägt und wie es vielleicht in Berlin am Gorki-Theater möglich ist, scheitert in Dresden offenbar an der Praxis. Eine solcherart differenzierte Sichtweise erlaubt dort "denen, die wir so haarsträubend finden", Ausflüchte zu suchen und sich das Gesehene "zurechtzuschauen", wie Köhler es einmal ausdrückt. Und doch wäre sicherlich auch Tilmann Köhler bereit, Salzmanns Schlusssatz zu unterschreiben: "Das Ziel muss doch sein, eine gerechtere Gesellschaft zu behaupten und zu leben, als wäre das Theater die kleinste Zelle dieser Utopie."

Theater heute

Im "Foyer" der November-Ausgabe von Theater heute – an der Stelle also, wo bei anderen Zeitschriften das Editorial steht –, fragt sich Chefredakteur Franz Wille, wie Ferdinand von Schirachs Dramatiker-Debüt "Terror" zum Erfolgsstück der Saison werden konnte. Das Ergebnis seiner Analyse stellt er in Ratschlägen an Dramatikerinnen und Dramatiker vor: "Vermeiden Sie unbedingt alle poetischen Mehrdeutigkeiten oder sumpfigen Interpretationszonen. Vor allem: bitte kein Kunstverdacht. (...) Machen Sie außerdem Ihr Stück, so gut es geht, regietheatersicher. Denken Sie am besten gar nicht ans Theater, sondern an ein Hörspiel. (...) Verteilen Sie Ihre Argumente möglichst hölzern auf zweibeinige Thesenträger. (...) Alles, was nicht genauso gut in der Zeitung stehen könnte, strengt die Vorstellungskraft nur unnötig an. (...) Viel Erfolg! Die deutschen Theater werden es Ihnen danken." Sicherlich sind Willes Empfehlungen nicht ganz ernst gemeint. Mit dem letzten Satz aber dürfte er trotzdem ins Schwarze treffen.

Theaterheute1115 Cover 180Popkultur-Papst Diedrich Diederichsen hat – wie auch schon im Vorjahr – für Theater heute die Ruhrtriennale besucht, die in diesem Jahr erstmals unter der Leitung von Johan Simons stand. Beim Belauschen des Publikums hat er dabei einen Leitbegriff ausgemacht, unter dem sich die bei derartigen Festivals "aufeinander zu bewegenden Künste" von Theater, Installation, Sound-Art bis Performance offensichtlich subsumieren lassen: "Die häufigste Vokabel war nämlich auch hier wieder die Erfahrung, und das E-Wort ging den Leuten so derart leicht und frequent über die Lippen, als hätten sie sich ganz insgeheim alle abgesprochen, dass sie mit 'Erfahrung' etwas ganz Bestimmtes meinen, so wie damals in der alten Selbstverwirklichungsszene der Siebziger Jahre. Damals war die Bedeutung aber immer eine individuell-biografische, heute scheint sie so etwas zu meinen wie das zustimmende Goutieren von immersiv angelegten, leicht ins Rituelle oder auch Geisterbahnhafte driftenden Inszenierungen, die sich auf irgendeine wenigstens entfernt als existenziell einzustufende Thematik beziehen."

Solchermaßen eingeführt, haftet dem "E-Wort" doch etwas Anrüchiges und der Kunst, auf die es angewendet wird, etwas recht Eindimensionales an. Es ist Kunst "for the sake of it". Diederichsen hat übrigens auch einen Gegenbegriff parat, den er an einer Aufführung von Luigi Nonos "Tragödie des Hörens" "Prometeo" entwickelt: "Das, was das Erlebnis dieses Nachmittags am besten beschreibt, ist das alte Wort der Spannung: eine aufgeregte Frage danach, was als Nächstes kommt, wie es wohl weitergeht." Kein schlechtes Begriffspaar, Herr Diederichsen! "Mehr Spannung, weniger Erfahrung!", das möchte man manches Mal ausrufen, wenn man im Theater (in der Installation, der Sound-Art oder der Performance) nach fünf Minuten kapiert hat, wie es von nun an noch eine, zwei oder sechs Stunden weitergehen wird.

Die deutsche Bühne

Der November-Schwerpunkt der Deutschen Bühne ist einem allgemeingesellschaftlichen Phänomen gewidmet: dem Burnout. Dass er auch am Theater eine Rolle spielt, wird häufig ausgeblendet. Die Journalistin Anne-Ev Ustorf weiß aber im einleitenden Essay des Schwerpunkts gleich mehrere prominente Fälle zu nennen, die "in den letzten Jahren aufgrund starker Erschöpfungszustände ihren Job an den Nagel" gehängt haben: "2010 verließ Friedrich Schirmer frühzeitig das Schauspielhaus Hamburg, 2011 stieg Peter Konwitschny in Leipzig aus, 2012 nahmen Regula Gerber in Mannheim und Staffan Valdemar Holm in Düsseldorf ihren Hut."

DeuBue1115 Cover 180Die Schauspielerin Bibiana Beglau (derzeit übrigens eine enorm begehrte Gesprächspartnerin, auch im aktuellen Lettre-Heft gibt es ein großes Interview mit ihr) hält es im Gespräch mit dem Redakteur Detlev Baur indes für möglich, dass gerade das Theater "der Gesellschaft vorleben" könnte, "wie man auch mit Burnout leben und arbeiten kann: 'Es macht nichts, wenn du erschöpft bist, komm trotzdem zur Arbeit, es ist okay.' (...) Für uns ist Burnout doch fast etwas Dankbares. Denn wenn wir da durch sind, haben wir eine andere Sicht. Wir haben etwas erfahren, was wir sonst nicht erfahren können. Wir können damit kreativ umgehen."

Liest man dann jedoch die drei anonymen Fallbeispiele, die Lilly Dahl aufgeschrieben hat, dann kann einem Bibiana Beglaus "kreativer Umgang" mit dem Burnout – so sympathisch ihre zugewandte Haltung auch erscheinen mag – reichlich naiv vorkommen. Ob jemandem, der sich nur noch darauf konzentriert, in der Probe zu funktionieren, aber "emotional völlig unbeteiligt" ist, wirklich mit Beglaus aufmunterndem Zuruf gedient ist: "Du kannst nicht mehr? Umso besser, komm zur Arbeit. Super." Chefredakteur Detlef Brandenburg liest Bibiana Beglaus Aussagen allerdings vor allem als Plädoyer, einen offeneren Umgang mit dem Burnout-Problem zu pflegen – denn bislang, so Brandenburg, glauben fast durchweg alle Betroffenen, "dass es ihre Chancen im Theaterberuf mindern würde, wenn sie sich dazu bekennen, schon einmal labil, nicht belastbar, überfordert, einfach fertig gewesen zu sein." Dass das so ist, ist erschreckend genug und bestätigt erneut die alte Regel, dass es am Theater eben doch so zugeht wie in jedem anderen Betrieb auch.

Zum Schluss noch die Antwort des Monats, diesmal gegeben von der Autorin, Dramatikerin und "Nachwuchsregisseurin" Sibylle Berg. Auf der letzten Seite des Heftes antwortet sie auf die Frage "Welches Kompliment können Sie auf den Tod nicht ausstehen?": "Haben Sie aber schöne riesengroße Füße! Fast so groß wie Ihre Ohren!" Eine präzisere Entgegnung war selten ...

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