Presseschau vom 24. November 2015 – Die Berliner Zeitung denkt mit dem Dresdner Chefdramaturgen Robert Koall über Pegida nach

Im Pegida-Gefängnis

Im Pegida-Gefängnis

22. November 2015. In der Berliner Zeitung schreibt Markus Decker ein großes Porträt des Chefdramaturgen am Dresdner Staatsschauspiel, Robert Koall.

Eigentlich handelt es sich weniger um ein Portrait, als um eine gemeinsame Meditation über die Frage, ob Pegida bald überall sein kann in Deutschland, ob es vielleicht nur eines Terroranschlags bedürfe, und überall in Deutschland brächen die Dämme.

Das Kölner Menetekel

Für den Autor Decker findet sich ein Hinweis auf dieses Worst-case-Szenario in der beschämend niedrigen Wahlbeteiligung bei der Kölner Oberbürgermeisterwahl, bei der unmittelbar nach dem Anschlag auf Henriette Reker nur 40 Prozent der Wahlbürger ihre Stimme abgegeben hätten, "während 60 Prozent darauf verzichteten, das erwartete Zeichen gegen den Rechtsextremismus und für die Grundrechte zu setzen". Und das in Köln, das sich selbst für erzliberal hält.

Robert Koall kommt selber aus Köln, seine Großeltern und sein Vater lebten eine Zeitlang in Dresden. Er ist mit beiden Städten eng verbunden. Koall war in Hamburg, Zürich und Hannover engagiert, arbeitete zeitweilig mit Christoph Schlingensief, war mit Wolfgang Herrndorf befreundet. Die Theaterfassung für Herrndorfs "Tschick" hat Koall geschrieben.

Aktiv gegen Rechts

Schon angesichts der Auseinandersetzungen um das Gedenken an die Bombardierung Dresdens 1945, "die von Rechtsextremisten von jeher für ihre Zwecke ausgebeutet wird", habe Koall in einem Aufsatz der schweigenden Mehrheit der Dresdner vorgeworfen, dass ihnen eine politische Haltung fehle. "Diese Mehrheit schweigt noch immer." Auch angesichts Pegida.

Die Theaterleute in Dresden, auch Koall, er sogar an vorderer Front, wehrten sich gegen Pegida.
Mit Pegida habe sich das Klima der Stadt verändert. "Pegida, sagt Koall, grübelnd zurückgelehnt, sei in Wahrheit nicht das Problem. 8000 vielfach aus dem Umland angereiste Unbelehrbare gegen nahezu 600.000 Einwohner – was sei das schon?" Das Problem sei, dass diejenigen, die nicht demonstrierten, keine Pegida-Gegner seien. Diese Angehörigen der schweigenden Mehrheit "machen das Klima aus. In Dresden und in ganz Deutschland."

Vergiftetes Klima

In Dresden hätten Übergriffe, Verachtung und ein Klima des Misstrauens zugenommen. Durch Familien, Freundeskreise und Kollegien gingen Risse. "Die Mitte wandere. Es werde alles immer reaktionärer, immer abgeschotteter und immer paranoider." Plötzlich höre man "im Kern der bürgerlichen Gesellschaft" Sätze, die man "am rechten Rand des Theaterplatzes vermutet" hätte. "Die Radikalisierung der Ränder und die Verhärtung der Mitte"– das mache für Koall die "zentrale Beunruhigung" aus. Und diese Beunruhigung sei "nicht Dresden-spezifisch". In Dresden komme hinzu, dass sich "die Stadtspitze politisch noch immer nicht in die richtige Richtung bewege, im Gegenteil". So habe der FDP-Oberbürgermeister Pegida den Theaterplatz auch am 9. November zur Verfügung gestellt – dem Jahrestag der Reichspogromnacht.

Ist der Westen sicher?

Könne es sein, fragt nun Decker, dass die niedrige Kölner Wahlbeteiligunbg ein Anzeichen dafür ist, dass sich Pegida "langsam, doch unaufhaltsam in den Rest der Republik ausdehnt"? Koall mag das nicht so sehen, für ihn habe die Perspektive Düsseldorf "auch etwas Befreiendes", er sähe "ein rheinisches Licht am Ende des Tunnels". Dass es in Köln "einmal so werden könne, wie es in Dresden sei, hält Koall unverändert für ausgeschlossen". Allerdings wäre auch er nie "auf die Idee gekommen, dass die Mehrheit der Kölner am Tag nach den Messerstichen eines Rechtsextremisten auf Henriette Reker einfach zu Hause bleiben würde, statt kurz vor die Tür zu gehen und im nahen Wahllokal ein Signal zu geben. Er hätte schwören können, dass es anders kommen würde, sagt Koall".

(jnm)

mehr medienschauen