Presseschau vom 27. November 2015 – Die Zeit und die Süddeutsche Zeitung haben in Dresden Pegida erlebt

Die hasserfüllten Opfer

Die hasserfüllten Opfer

27. November 2015. Peter Kümmel von der Zeit und Alex Rühle von der Süddeutschen Zeitung sind beide nach Dresden gefahren. Sie haben dort eine Montagsdemo von Pegida erlebt und waren auf den Proben zu "Graf Öderland" im Staatsschauspiel. Regisseur Volker Lösch, bekannt für seine Bürgerchöre, lässt den Chor dieses Mal originale Pegida-Zitate skandieren.

Ziemlich fassungslos stehen sowohl Peter Kümmel (leider nicht online derzeit, deshalb hier ausführlicher zitiert)  als auch Alex Rühle (Original hier) auf dem Theaterplatz in Dresden und erleben das Selbstmitleid und den Hass von Pegida. Sehr schön beschreibt Kümmel seinen Eindruck der völkischen Demonstranten: "Es ist die erste Pegida-Versammlung nach den Attentaten von Paris", der "aufrichtige Seelengeiz" sei mit Hände zu greifen. "Erst wir, dann alle anderen. Und wenn es nur für uns reicht, dann: sorry!" Man fühle sich bei Pegida, "als stünde man zwischen lauter Betrugsopfern, die sich an der frischen Luft zu einer ambulanten Selbsthilfegruppe zusammendrängen."

Keine Tat, aber den Täter

"Ganze Familien" seien gekommen und versammelten sich landsmannschaftlich unter mitgetragenen Ortsschildern. "Die hübsche Mutti steht dabei und wärmt sich trippelnd die Füße, die in hochhackigen Schuhen stecken. Gleich mehreren "Betrugssyndikaten" werde hier die Stirn geboten: "Politikern und Journalisten", die "linksversiffte Mitleidsindustrie" – wie ein Kommentator auf Spiegel Online unter der Kritik eines Stückes im Maxim Gorki Theater gepostet hatte –, vor allem aber verdächtigten die Menschen auf dem Theaterplatz die "Neuankömmlinge", dass es sich bei ihnen "um eine raffinierte Großtheatergruppe handelt, die sich das Ausgemergelte und Abgezehrte ihrer Erscheinung nur angeschminkt hat unter Mithilfe einer vermutlich rumänischen Maskenbildner-Abteilung". Die "Angst vor dem dammbrechenden Verbrechen" sei "mächtig". "Man hat noch keine Tat, aber man hat schon die Täter."

5.000 Opfer

Auch Alex Rühle erlebt einen ganz harmlosen, einen "vorweihnachtlich ruhigen Pegidamontag in Dresden". Ein "norwegischer Fotograf wird bespuckt, ein russischer Kameramann wird zusammengeschlagen und muss ins Krankenhaus". Aber bitte, schließlich müsse man sich ja wehren gegen "die internationale Lügenpresse" und zum anderen: Was seien schon "zwei Übergriffe gegen die 5000 Opfer, die hier stehen! Opfer der Medien. Opfer der Politik. Opfer der islamischen Invasion". Und jetzt wolle man ihnen auch noch den Einbruch im Tourismussektor in die Schuhe schieben.

Rechts zerfließen die Grenzen

Peter Kümmel sieht nicht nur den "rechten Rand" auf dem Theaterplatz, hier marschiere "viel Mitte" mit. Er denkt sich: "Ein großer Anschlag in Deutschland, und das Ostphänomen Pegida wird, 'Merkel muss weg' brüllend, den Westen erobern".

Dieser Auffassung widerspricht der Dresdner Staatsschauspielchef Wilfried Schulz, den Peter Kümmel trifft. Schulz glaube nicht, dass Pegida die Mehrheit bilde. Allerdings fehle "im konservativen Grundklima der Stadt" der Wille, "dieser Bewegung entgegenzutreten". Auch unter den "politisch Verantwortlichen". Die "Grenze zwischen Konservativismus, Rechtspopulismus und Rechtsradikalismus" sei "sehr fließend". Und daran sei die Politik mitschuld. Trotzdem gebe es in Dresden, glaubt Wilfried Schulz, eine große liberale Öffentlichkeit, man müsse halt für die Sichtbarkeit dieser Haltungen sorgen.

Der Regisseur Volker Lösch, der gerade in Dresden "Graf Öderland" von Max Frisch inszeniert, sieht die Dinge ähnlich. Dem Anti-Pegida-Bündnis "Herz gegen Hetze", dem sonst alle Parteien angehörten, gehöre die regierende CDU nicht an. Das sei wie eine unterschwellige Aufforderung an Pegida: "Macht weiter so, es ist schon richtig, was ihr tut." Man bekomme den Eindruck, "die Stadtführung tut das absichtlich, um Flüchtlinge abzuschrecken."

The worst of Monday night

Das Markenzeichen von Volker Lösch, einem, wie Kümmel schreibt, "Theateraktivist von unbeirrbarer Untröstlichkeit", sei der Sprechchor: "Kernsätze lässt Lösch von erregten, zischenden Massen sprechen, sodass sie fast den Charakter von körperlichen Angriffen oder Kriegserklärungen bekommen." Löschs "Graf Öderland" biete, eingebettet in Max Frischs Schauspiel, "eine Essenz aus Pegida-Reden, die man The worst of Monday night nennen könnte. Eine Kostprobe von Peter Kümmel aufgezeichnet: "Es wird Zeit für eine Verabschiedungskultur – ha, ha, ha!" – "Nur weil wir zwei Kriege verloren haben, heißt das nicht, dass wir die Seelsorger der Welt sind." – "Merkel hat aus Deutschland ein riesiges Dschungelcamp gemacht!" – "Diese kinderlose Frau mit den herabhängenden Lefzen hat nie die Erfahrung gemacht, was es bedeutet, sich um sein Rudel zu kümmern."

Alex Rühle, der eine Probe des "Öderland" besuchen konnte, schreibt dazu: "Es ist unheimlich, diese Texte mit ihrer immer schrilleren Steigerungsrhetorik als choreografiertes Crescendo des Hasses [auf der Bühne] vorgesetzt zu bekommen. Und man kann es beim Zusehen nicht fassen, dass die sächsische Landespolitik und der Dresdner Bürgermeister sich seit einem Jahr vor diesem Frontalangriff auf alle demokratischen Strukturen einfach kleinmütig wegducken."

Das Schlimmste

Lösch, schreibt wiederum Peter Kümmel, sei für ein Anti-Pegida-Stück wie geschaffen, denn auch Pegida sei "ein großer Chor" und komme im "Synchron-Gebrüll" erst so recht zu sich. Lösch könne sich in Dresden, das schreiben Kümmel und Rühle, nicht mehr recht frei bewegen. Pegida, sagt Lösch selbst, kenne sein Gesicht. Auch Chefdramaturg Robert Koall muss aufpassen. Er zieht, schreibt Rühle, seine Mütze tief ins Gesicht, wenn er Journalisten zu Pegida führe. Der Regisseur Volker Lösch sagt, schreibt Rühle, viele Dresdner hätten mittlerweile Angst, "richtig aufs Maul zu kriegen. Ich kann das verstehen. Und trotzdem find' ich das Schlimmste die schweigende Mehrheit."

"Wir werden euch ausrotten"

Rühle und Kümmel erinnern an frühere Arbeiten von Lösch. Kümmel an "Marat, was ist aus unserer Revolution geworden?", 2008 in Hamburg, Rühle an "Woyzeck" (er schreibt konsequent falsch "Wozzeck") in Dresden 2007. "Wie verhält sich die Wut der Hartz-IV- Empfänger zu jener der Pegida-Anhänger?", fragt Kümmel. Lösch antwortet, die "Energie der Abgehängten" sei hier ähnlich, aber hinzu käme die "Energie der Nichtabgehängten – der Leute, denen es gut geht, die aber große Existenzängste haben".

Rühle schreibt: Schon bei Löschs "Woyzeck" 2007 sei aus den "Publikumsantworten" ein "Extremismus der Mitte" herauszulesen gewesen, "Junge wie Alte antworteten mit Versatzstücken populistischer Welterklärung: Schuld sind das globale Kapital, die antiautoritäre Erziehung, 'die da oben'." Neu sei, dass sich das seit Pegida hemmungslos Bahn breche, zitiert Rühle Regisseur Volker Lösch. "Und dass es mit einem immensen Hass aufgeladen wurde." Er spricht von einem "völlig enthemmten Diskurs" und berichtet von Lynchjustiz-Szenen, mitten in der Stadt. Auch das Theater bekommt Droh-Mails. "Wir werden euch ausrotten", einige schreiben solche Sätze mit vollem Namen auf Facebook.

(Die Zeit / sz.de / jnm)

 

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