Presseschau vom 30. November 2015 – In der Berliner Zeitung spricht Gorki-Schauspielerin Ruth Reinecke über Schauspielkunst im Wandel der Zeiten
So konfus wie die Welt ist, so konfus ist auch das Theater
So konfus wie die Welt ist, so konfus ist auch das Theater
30. November 2015. In der Berliner Zeitung (online 29.11.2015) führt Arno Widmann ein langes Gespräch mit der Schauspielerin Ruth Reinecke, die seit 1979 im Ensemble des Berliner Maxim Gorki Theaters aktiv ist. Die große Bühnenkünstlerin spricht nicht nur eindringlich vom "Stellenwert des Theaters in der Stadt im jeweiligen historischen Moment", der wesentlich von der "Interaktion von Theater und Publikum" abhänge (eine Position, die u.a. auch der designierte Düsseldorfer Intendant Wilfried Schulz gegenüber k.west mit Vehemenz vertritt).
Alles ist offener geworden
Reinecke beschreibt auch einprägsam die Änderungen des Schauspielstils zwischen der Ära Peter Steins und Thomas Langhoffs (um nur zwei der Altvorderen, die die Theatergeschichte bis 1990 geprägt haben, zu nennen) und dem Theater der Gegenwart: "Alles ist offener geworden. Es wird viel mehr gesucht und improvisiert und das eigene Tun kommentiert. Die Welt scheint uns unkontrollierbar, unerfassbar, verrückt geworden zu sein. Das drückt sich in der Art aus, wie wir heute Theater spielen", sagt Reinecke. "Das Spiel hat sich zum Zuschauer geöffnet. Ich beobachte an unserem Haus (am Gorki Theater unter Intendantin Shermin Langhoff, Anm. d. Red.) den Wunsch, sich zu bekennen zu dem, was man denkt, fühlt über diese verzweifelte Welt."
Die 1970er und 1980er seien dagegen aufklärerisch geprägt und auf Antworten bedacht gewesen. "Man klopfte die Stücke ab, Satz für Satz, wollte wissen, was das zum Beispiel im 19. Jahrhundert bedeutet hat, erarbeitete sich eine eigene Haltung dazu. Man blieb aber in der geschlossenen Form. Wir lernten damals, uns durch eine geschlossene Form mit dem Publikum zu verbinden. Auch wir suchten damals nach dem wahrhaftigen Ton."
Theater ist kein Museum
Das alles habe sich notwendig gewandelt, denn "Theater ist kein Museum." So "konfus wie die Welt ist, so konfus ist auch das Theater. Wir haben keine Antworten mehr, nirgends. Inhaltlich nicht und auch nicht, was unsere Spielweisen angeht." Dass dieser Zustand keineswegs nur als Verlusterfahrung zu beschreiben ist, macht Reinecke immer wieder klar: "Am neuen Gorki mag ich, dass es sich öffnet für alle möglichen Formen des Theaters. Das Mixen von Herangehensweisen und die Internationalität der Künstler machen das Gorki aus. Es findet eine große Sinnsuche statt. Es ist sehr lebendig. Ich bin froh, dass mir das noch einmal passiert."
Einen bemerkenswerten Seitenhieb gegen die moderne Form des "Rampensau"-Virtuosentums gibt's auch. Zum Mitschreiben! "Die Lust am Entertainment hat auch mit unserer Werbe- und Konsumwelt zu tun. Alle wollen gut ankommen, witzig sein, sich wohl fühlen. In jeder Sekunde. Ich mag es nicht, wenn Schauspieler erst einmal ein bisschen Späßchen machen und so den Schulterschluss zwischen sich und dem Publikum herstellen. Ich finde das nicht notwendig. Man kann sich einander nähern, ohne sich anzubiedern. Das ist eine Frage des Respekts, den man voreinander hat."
(Berliner Zeitung / chr)
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