Wie hast du's mit der Rebellion?

von Christian Rakow

Essen, 28. März 2008. 28, sagt man, mit 28 Jahren muss einer tot sein, sonst taugt er nicht zum Pop-Mythos. James Dean hat es geschafft, Sid Vicious auch. Pete Doherty ist jüngst an der Qualifikationsnorm vorbei geschrammt. Trotzdem erscheint auch sein Gesicht auf der riesigen Videowand, die die Bühne nach hinten abschließt. Wer rasend schnell lebt, dem trägt man den Kalender nicht nach. Und diese Ruhmeshalle der glamourösen Selbstzerstörer hat noch einen weiteren Platz frei: für Antigone.

Essens Regie-Trumpf David Bösch beschert dem Grillo-Theater, nach seinem gefeierten Woyzeck im Herbst, mit Sophokles' "Antigone" eine zweite imponierende Klassikerinterpretation. Zunächst schleicht sie uns stimmungsvoll an: mit Marshall-Röhrenverstärker auf einer ansonsten weitestgehend leeren, rot ausgelegten Bühne (von Dirk Thiele), Punkrock und glasklaren E-Gitarren-Riffs (von Karsten Riedel), die uns lässig die Songs der Stunde hinwerfen – von Amy Winehouse bis Sea and Cake. Dennoch hält sie mehr bereit als eine straight poppige Aktualisierung.

Ich will Geschichte ...

Bösch zieht seine "Antigone" konsequent über die Vorgeschichte auf (und also über Sophokles' "König Ödipus"). Aus einem Familienalbum (Video: Bibi Abel) treten uns die Protagonisten als Kinder ohne elterliche Führung entgegen. Mit Vatermord, Inzest und Tod hat eine "Geschichte blutigster Farbe" ihr Geschlecht bedeckt. Jetzt töten sich die Söhne des Ödipus im Ringen um die Herrschaft in Theben.

Es ist der Prolog des Abends. Als furioses Duo treten Nicola Mastroberardino (Eteokles) und Lukas Graser (Polyneikes) mit lose hängenden Windsor-Krawatten zur Rampe und wuchten uns in einem Parforce-Duett die Ödipus-Sage entgegen, ehe sie einander in einem kindischen Schwerterkampf entleiben. Anarchische Lust weht in diesen Letztgeborenen der Labdakiden. Die Guten sterben früh, lautet ihr regressives Credo, da die väterlich-staatliche Ordnung weggebrochen ist.

Und niemand zieht sich daraus eine so rotzig pubertäre Wegwerfpose wie Sarah Viktoria Frick als Antigone. "Ich will nicht verstehen", leiert sie Kreon beim zentralen Aufeinandertreffen hämisch die Ohren voll und spuckt ihn an (was ihr immerhin eine Ohrfeige einbringt). Was aber will sie? Sterben wie die ihren, Märtyrer werden, eine Geschichte kriegen.

... und Martyrium!

Bösch treibt den Narzissmus, der diese Konstruktion trägt, auf die Spitze, wenn er Antigones Fall vom Familienclan erzählen lässt. Nur wer dabei ist, kann am Mythos teilhaben. Das ist die Logik der Bande, der Clique.

Die burschikose, karrieristisch kostümierte Schwester Ismene (Barbara Hirt), die ihre Teilnahme am staatsgefährdenden Akt unterlässt, bleibt außen vor, um dann aus sicherer Entfernung das zeitgenössische Klischee in Antigones Martyrium zu entlarven: "Dann bring dich doch um. Und später drehen Guido Knopp und Bernd Eichinger einen Film darüber."

Spätestens hier meint es Bösch mit seinem Aufstand der Nichterwachsengewordenen ernster als es lange Zeit den Anschein hat. Unter der Hand mischt sich in das juvenile Lob der Clique nicht nur ein Kommentar auf eine verklärende RAF-Rezeption, sondern überhaupt die Frage, wie Rebellion in offenen Gesellschaften noch möglich ist. Durch Überdrehen der Schraube.

Rebellion! Rebellion?

Beim ersten Auftritt, wenn Kreon im graublauen Mittelstandsanzug sein Bestattungsverbot uns, der Bürgerschaft verkündet, schreit Antigone hysterisch aus dem Zuschauerparkett: "Propaganda!" Kurz vor ihrem Tod lässt sie sich filmen mit einem Pappschild à la Schleyer anno 1977: "Politische Gefangene seit zwei Stunden". Während Holger Kunkels Kreon wie ein harmloser Parteifunktionär ausschaut, erblickt Antigone in ihm das Antlitz des Faschismus. Etwas zu dick aufgetragen. Die Inszenierung überstimmt hier ihre Titelfigur.

Antigone und die ihren erscheinen in letzter Instanz als rebels without a cause, Anarchos ohne Ziel und Einverständnis. Es genügt ihnen die/irgendeine Schuld der Väter publikumswirksam auszuschlachten (Kreon hockt am Schluss mit der blutigen Augenbinde des Ödipus). Mit Blick auf die Motive der RAF ein deutlicher, skeptischer Befund. Mit Blick aufs Heute ebenso. Politisierte Aktivisten wie ihre Jahrgangsgenossen in "Die fetten Jahre sind vorbei" sind diese Labdakiden nicht. Und doch genügt, wie in allen guten Kunstwerken so auch hier, die einfache Wahrheit nicht. Das Ungelöste der Geschichte, es ruht in Kreon, dem Hinterbliebenen.

Tapfer diszipliniert ohrfeigt er eine zeitlang seine aufmüpfigen (Zieh-)Kinder, taub für ihren "pathetischen Quatsch". In seinem Sohn Haimon (Martin Vischer) verkennt er eine Zartheit, die diesen wohl zum Poeten prädestiniert hätte (Vischer trägt entsprechend still und ergreifend auch das Lied auf Eros vor). Man ahnt, dieser Haimon sollte gegen seine Neigung einmal ins Parteiamt gedrängt werden. Väterliche Kurzsicht eben.

Das Schicksal straft Kreon dafür definitiv zu hart. Als Antigone und Haimon tot sind, sackt er mit offenem Hemd, halbnackt zusammen. Erstmals wird einer Figur in ihrem Leiden Glauben geschenkt. Die Selbstsicherheit ist dahin. Wir sehen das Erschrecken des Establishments, das seine Risiken kennen lernt. Eine neu zu schaffende Ordnung wird biegsamer sein müssen als diejenige Kreons. Labiler ist sie schon.



Antigone
von Sophokles. Deutsch von Peter Krumme
Regie: David Bösch; Bühne: Dirk Thiele; Kostüme: Sabine Ebner; Musik: Karsten Riedel; Video: Bibi Abel; Licht: Eduard Ollinger; Kampfszenen: Klaus Figge; Dramaturgie: Olaf Kröck, Thomas Laue.
Mit: Sarah Viktoria Frick, Barbara Hirt, Holger Kunkel, Nicola Mastroberardino, Lukas Graser, Martin Vischer. Gitarre: Karsten Riedel

www.theater-essen.de
 


Weitere Inszenierungen von Sophokles' Antigone in dieser Spielzeit: von Mareike Mikat am Theater Heidelberg und von Yael Ronen am Staatsschauspiel Dresden.

Kritikenrundschau

In der Süddeutschen Zeitung (2.4.2008) schreibt Christine Dössel: "Bösch inszeniert - überaus gefühlvoll, schlüssig und konsequent - die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Geschwisterliebe und des Kinderspiels." Die Brüder, die sich bei der Schlacht um Theben gegenseitig erschlagen haben, erzählen bei Bösch in "fröhlicher Jungsgestalt" von Nicola Mastroberardino und Lukas Graser "lustvoll-spielerisch den Hergang der Geschichte." Antigone probe unterdessen "mit selbstzerstörerischem Furor alle einschlägigen Posen der Rebellion durch." Ihre Protesthaltung habe diese Antigone nicht nur von den "tibetischen Mönche abgeschaut, sondern auch von der Apo, der RAF, vom Pop und vom Punk." "Solcherart heruntergebrochen auf eine Jugend von heute - ohne Gott, aber mit vielen Popgöttern -, verliert die attische Tragödie zwar immens an Archaik und Erschütterung", schreibt Dössel, "wird dafür von David Bösch aber aufgeladen mit enorm viel Lebensgefühl und Emotion."

David Bösch habe seine Essener "Antigone" – so meint Stefan Keim in der Frankfurter Rundschau (31.3.2008) – "konsequent als Familiendrama" inszeniert: "Alle mythischen und humanistischen Hintergründe sind getilgt, Antigone ist in Gestalt von Böschs kraftvoller Protagonistin Sarah Viktoria Frick eine pubertierende junge Frau von heute. Kreons Argumenten will sie gar nicht zuhören, von einer Herrschaft der Vernunft und einer neuen Gesellschaft nichts wissen." Die Inszenierung sei eine "für junge Leute, die angesichts solcher Stoffe eher 'Antik? Oh, ne' sagen würden. ... Die Wucht und Brutalität, das Archaische der griechischen Tragödie geht dabei verloren, manche Szenen geraten überdeutlich und illustrierend. Aber Bösch gelingt eine warmherzige, spielerisch leichte Aufführung, die vom zum großen Teil jungen Publikum heftig bejubelt wurde."


Britta Helmbold schreibt in den Ruhr Nachrichten (31.3.2008), Bösch habe den in "Antigone" verhandelten "Widerstand gegen den Staat auf eine selbstgefällige Rockmusiker-Pose reduziert und die Inszenierung mit sattem, zuweilen ohrenbetäubenden, Gitarrensound (Karsten Riedel) unterlegt." Kreon erläutere "in Politiker-Manier seine Rechtsauffassung dem Publikum-Volk, bis Antigone dazwischen brüllt." Hauptdarstellerin Sarah Viktoria Frick habe überhaupt "ein unglaubliches Organ, sie lässt ihre kompromisslose Antigone noch öfter hysterisch kreischen und hat einen grandiosen Auftritt als Punk-Sängerin, wenn sie ihr 'Mich schreckt das Sterben nicht' ins Mikrophon röhrt." Am Ende: "Jubel für Böschs Ideen-Strudel."

David Bösch sei zum Publikumsliebling geworden, weil er sich mit "seinem Willen zur unbedingten Romantik" auf die Stücke "wie ein kosender Liebhaber" stürze, schreibt Matthias Heine auf Welt online (31.3.2008). Das vermissten viele Leute "im alt gewordenen modernen Theater". Diese "Methode" indes berge die Gefahr, "in den alten Texten immer nur das zu sehen, was Bösch darin bekannt vorkommt: Generationskonflikte und jugendlicher Liebesüberschwang beispielsweise." So zelebriere er auch in seiner Essener "Antigone" "einerseits den "ewigen Konflikt zwischen Eltern und Kindern … und andererseits jene explosive Mischung aus Liebe und Trotz von der Antigone (Sarah Viktoria Frick) angefeuert wird wie von Raketentreibstoff." Wer selbst die Pubertät hinter sich habe, bekomme "Mitleid mit dem armen Kreon, der gegen die von keinem Kompromiss mit der Wirklichkeit befleckte Punkgöre Antigone das Prinzip des Gemeinwohls und der Realpolitik verteidigen muss." Antigone könne nur Tote lieben. "Immer wieder sieht man Filmbilder, wie sie als kleines Kind mit den Brüderchen, dem Schwesterchen Ismene und dem augenlosen Papa Ödipus Blinde Kuh (!) spielt. Zutritt in dieses Retro-Paradies gibt es nur für Leichen."

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