Eine neue Version von Wir

von Mark Terkessidis

14. Januar 2016. Bei einer der zahlreichen Veranstaltungen über die Zukunft der Kultureinrichtungen meldete sich der Intendant eines Theaters zu Wort und gab sich als jemand zu erkennen, der auf der Seite derer ist, die Veränderungen anstreben. Kurz darauf begann jedoch die übliche Litanei der Beschwerden – das neoliberale Umfeld, die Orgie der Kürzungen, die fortwährende Gängelung durch die Politik. Am Ende war wieder einmal klar, dass es gar kein Interesse an Veränderung gab, sondern nur den Wunsch, etwas zu "retten", nämlich den Status quo, so mickerig er auch sein mochte.

In diesem Sinne hat Wolfgang Engler, Rektor der Berliner Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch", in seinem Beitrag auf der Tagung der Bundesvereinigung Freie darstellende Künste das Staatstheater zum letzten Bollwerk gegen die endgültige Machtübernahme des Neoliberalismus erklärt. Thomas Oberender, Intendant der Berliner Festspiele, der sich auf einem Podium am Theater Freiburg im Frühjahr 2015 dünkelhaft erstaunt gezeigt hat, dass "man" das Berliner Berliner Gorki-Theater einer "freien Gruppe" überlassen hat, klagt in seinen "Zehn Thesen zur Entwicklung von Kultur und Kulturförderung" auf nachtkritik.de, die Kunst werde dieser Tage regiert von Leitbegriffen wie "Education, Nachbarschaft, Partizipation". Dagegen setzt er eine völlig unklare Idee vom "Eigenwert künstlerischer Arbeit" und den "alten europäischen Geist von der Freizügigkeit der Künstlerförderung". Aber um wessen Freizügigkeit handelt es sich hier? Letztlich besteht hier ein nationales Bürgertum darauf, unter sich zu bleiben, die Kriterien für Kunst und ihre "Qualität" unter sich auszumachen, und dafür schließlich – ohne jede Evaluation – weiterhin von sämtlichen Steuerzahlern finanziert zu werden.

Viel "lip service", keine Veränderungen

Die Argumentation ist befremdlich in zweierlei Hinsicht. Zum einen hat der deutsche Staat die Kunst immer schon gefördert, weil er ihr eine homogenisierende Rolle zugebilligt hat in der Gemeinschaftsstiftung. Nur die totale Instrumentalisierung durch den Nationalsozialismus hat ein Intermezzo ermöglicht, in dem keinerlei Kontrolle ausgeübt wurde. Insofern benötigen die Theater und andere Kultureinrichtungen definitiv eine klare Legitimation – eine Förderung für die persönliche Freizügigkeit zu verlangen erscheint doch arg vermessen. Zum anderen führt die oft berechtigte Kritik an der allzu kurzfristig orientierten Projektförmigkeit und den Bestrebungen, die Effekte von Kunst quasi meßbar zu machen, zu einer Ablehnung von jeglichem Wandel, zur reinen Verteidigung des immer schwieriger werdenden Status quo. Wer im Apparat eine Funktion hat, der will seine Privilegien keinesfalls aufgeben – das zeigt im übrigen auch die Stadttheaterdebatte auf nachtkritik.de.

mindthegap intervention 560 sle uProtestaktion bei der "Mind the gap"-Konferenz Anfang 2014 im DT Berlin © sle

Ja, sicher gibt es auch Leute, die Veränderungen wollen. Aber als jemand, der die Diskussion über "interkulturelle Öffnung" schon einige Zeit verfolgt, kann ich sagen, dass der "lip service" in keinem Zusammenhang steht mit den tatsächlichen Veränderungen. Als eine Gruppe von Aktivisten unter anderem des Berliner "Jugendtheaterbüros" vor ca. zwei Jahren bei der Konferenz "Mind the gap" im Deutschen Theater intervenierte, weil auf dieser Konferenz über Ausgrenzungen im Kulturbereich gesprochen wurde, ohne jene Ausgegrenzten einzuladen, da reagierte das DT, das nicht einmal Veranstalter war, sehr verschnupft: Man kündigte die Zusammenarbeit mit dem "Jugendtheaterbüro" auf. So reagieren selbst die vorgeblich Wohlwollenden im Betrieb auf Kritik – zuviel "Augenhöhe" ist dann doch verdammt ungemütlich. Man ist beleidigt, der Dialog wird ausgeschlagen, man lernt nichts. Jedem Organisationsberater würden sich angesichts solch unprofessionellen Verhaltens die Haare sträuben.

Unsinnige Kulturpolitik der "Soziokultur"-Reservate

Aber ist das nicht auch schon der Kern des Problems? Dass die Nomenklatura der hiesigen Theater häufig aus Leuten besteht, die glauben, alles zu wissen. Der Betrieb hat bislang alle Veränderungen erfolgreich abgewehrt; der Wandel konnte nur rein additiv stattfinden. Ansprüche auf Veränderung durch die "freie Szene" und die "Soziokultur" wurden durch eine im Vergleich weiterhin lächerliche Förderung in den jeweiligen Reservaten für – polemisch gesprochen – Kreativität oder Sozialarbeit eingehegt. Die Kulturstiftung des Bundes fördert dann wiederum die Zusammenarbeit zwischen dem künstlich Getrennten.

Diese Grenzziehungen erscheinen unterdessen als komplett sinnlos. Zumal dem etablierten Betrieb seine finanziell immer noch üppige Ausstattung gar nicht wirklich nutzt. Bis zu achtzig Prozent der Mittel fließen bekanntlich ins Haus, in oft unzeitgemäße Räumlichkeiten und die fest Angestellten. Hier sieht Thomas Oberender jedoch keinen Widerspruch zum "Eigenwert der Kunst" – im Gegenteil, die Institutionen, schreibt er, böten die "freiere Struktur", da sie eine langfristige Arbeit "jenseits aufwendiger Bürokratien" (!) ermöglichten. Eine "freiere Struktur" bietet der Theaterbetrieb dabei vor allem im künstlerischen Bereich, wo eine Arbeitskultur herrscht, die schwerlich modern zu nennen ist. Unproduktive Hierarchien von der Intendanz abwärts; eine Kultur der Maßregelung durch Vorgesetzte; ein seltsamer Geniekult um Regisseure, die absonderlichstes Alphatierverhalten zeigen dürfen; endlose Präsenzzeiten im Haus. Was genau könnte der berüchtigte Neoliberalismus in einem solchen Umfeld eigentlich noch anrichten?

Theater als "andere Wissenszentren"

Und warum soll es einen Widerspruch geben zwischen dem "Eigenwert" der Kunst und "Education, Nachbarschaft, Partizipation"? Würde man bei den Vertretern des Establishments im deutschen Kulturbetrieb nachfragen, wozu ihre Institutionen da sind und was die Qualität von Kunst ausmacht, dann würden die Antworten recht dünn ausfallen. Wir brauchen also einen Verständigungsprozess über den Sinn dieser Einrichtungen und die Kriterien von guter Kunst. Gegen die Klage über kunstfremde Vereinnahmungen ließe sich betonen, wie sehr Kunst immer schon involviert war in Akte der Wissensbildung und die Stiftung von Gemeinschaftlichkeit. Zumal ab den 1960er Jahren wurde thematisiert, dass die Kunst eine epistemische Alternative darstellt, eine experimentelle, oft affektiv-affizierende Weise der ästhetischen Erkenntnis der Welt. Tatsächlich sind ja viele Theater auf dem Weg dazu, eine Art anderes Wissenszentrum zu werden – es wird recherchiert, was das Zeug hält, nicht immer mit überzeugenden Ergebnissen, aber dennoch.

veddel 560 falkschreiber uGanz normales Theater 2014 in "New Hamburg" © Falk Schreiber

Was die Organisation von Gemeinschaftlichkeit betrifft, so liegt dieser Vorgang auf der Hand: Gerade im Theater kommt ein bedeutender Teil der Kunsterfahrung nur deswegen zustande, weil man sie mit anderen teilt. Wie erwähnt, hat der Staat die Kultur unterstützt, weil sie eine Rolle spielen sollte in der Schaffung dessen, was Benedict Anderson als "imaginäre Gemeinschaft" bezeichnet hat. Der Anspruch der "Nachbarschaft" könnte den Raum des Theaters erweitern in einer Zeit, in der die urbane Realität der Gesellschaft eine Vielheit darstellt. Theater könnten Orte der Aushandlung des Verschiedenen werden, Orte, an denen spezifische Kompetenzen und Wissensbestände miteinander in Austausch treten. Eine ganze Reihe von Projekten und Theatern tragen dem ja bereits Rechnung, wenn etwa "Experten des Alltags" einbezogen, biographische Geschichte erzählt oder dokumentarische Arbeitsweisen verwendet werden. Oder wenn Theater sich sozialräumlich öffnen durch Projekte wie "Heart of the City" in Freiburg, das urban gardening des Schauspiels Köln, "New Hamburg" oder "Munich Welcome Theatre".

Artistic citizenship für die Demokratie

Diese Prozesse könnten eine neue Version von Wir anstoßen, wenn sie eben nicht harmonisieren, sondern den "Widerstreit" zulassen und austragen. Dabei ist die entscheidende Frage, ob hier bloß eine Ausstellung von Differenz vor einem weiterhin bürgerlichen Publikum betrieben wird, oder ob die Theater als lernende Institutionen tatsächlich neue Öffentlichkeiten herstellen, alternative Öffentlichkeiten in einem Umfeld, in dem die traditionellen Organe der demokratischen Öffentlichkeit diese Rolle immer weniger wahrnehmen. Beispielhaft hat das Gorki-Theater sich 2015 über mehrere Wochen hinweg auf beeindruckende Weise mit dem Genozid an den Armeniern befasst. Dabei geht es gerade darum, die Demokratie partizipativ einzuüben und dabei Klischees anzugreifen, communities anzusprechen, aber eben auch zu kritisieren, Diskussionen zu führen und ziviles Engagement zu befördern. "Artistic citizenship" hat das der kürzlich verstorbene Randy Martin genannt.

musa dagh1 560 ute langkafel uSzenenbild aus "Musa Dagh – Tage des Widerstands" von Hans-Werner Kroesinger, entstanden für
den Armenien-Schwerpunkt am Gorki Theater Berlin © Ute Langkafel

Die Aufgabe der Bildung wiederum gehört ohnehin zum Auftrag der Kultureinrichtungen. Der Begriff "kulturelle Bildung" jedoch scheint mir dafür nicht angemessen. In den Richtlinien der Kultusministerkonferenz zu "kultureller Bildung" ist davon die Rede, Kinder und Jugendliche müssten an Kultur "herangeführt" werden. Im Umkehrschluss heißt das soviel wie: Sie haben noch keine Kultur. Das ist aber grundfalsch. Kinder und Jugendliche sind oft polyglott, technikaffin, in alle möglichen Formen von ästhetischer Arbeit (Stil, Mode, Musik etc.) und "participatory cultures" (Henry Jenkins) wie soziale Netzwerke, Blogs, Youtube, Gaming etc. verwickelt. Gerade in Anbetracht der Tatsache, dass das Personal in Kultureinrichtungen in punkto Schicht und Hintergrund durchaus homogen erscheint, wäre die Umkehrung der Lernrichtung oft angebracht.

Kollaboration! – auch der Kritiker*innen

Anstatt also "kulturelle Bildung" zu fördern, um diejenigen zu erleuchten, die noch nicht reif für "unsere Angebote" sind, sollte die Unterstützung "künstlerischer Prozesse" im Fokus stehen. Lucy Lippard hat die "Community Arts" einmal als den legitimen Nachfolger der Konzeptkunst der 1960er Jahre bezeichnet. In diesen Künsten würden die zuvor angestoßenen Verschiebungen fortgesetzt: weg vom genialischen Künstlersubjekt hin zur Subjektivität als künstlerischem Material; weg von der Produktion von Objekten hin zur Anregung von Prozessen. Solche Kunst funktioniert nach dem Prinzip der Kollaboration, was nicht bedeutet, dass sich alles in einem anarchistischen Endlosgelaber auflöst. Autorität wird als Reservoir spezifischer Wissensbestände anerkannt, aber sie muss kollaborativ begründet werden. Dabei ist nicht jede kollaborative Kunst per se gut, aber die Beispiele für gelungene kollaborative Kunstprojekte sind mannigfaltig: von David Medalla über Lygia Clark zu Tim Rollins oder Suzanne Lacy.

Die letzte Bastion der Veränderungsgegner ist natürlich stets die Qualität – solche Kunst steht unter dem Verdacht, wegen ihrer sozialen Komponente den ästhetischen Ansprüchen nicht zu genügen. Aber was sind die Kriterien für gute Kunst? Letztlich existiert hierzulande derzeit wenig mehr als ein muffiger Konsens darüber, dass die Leute in den Institutionen schon wissen, was gut ist. Müsste es nicht einen wiederum kollaborativen Prozess geben, in dem sich die Kunstschaffenden und die Öffentlichkeit explizit über die Kriterien verständigen? Und vielleicht stellt sich dann heraus, dass die Güte der Kunst durchaus etwas zu tun hat mit "Education, Nachbarschaft, Partizipation". Um sich auf den Weg zu machen, müssten viele Veränderungen gleichzeitig angestoßen werden. In der nachtkritik.de-Stadttheaterdebatte haben zuletzt Sabine Reich und Esther Boldt gute Vorschläge zum Wandel von Kunstbegriff und Arbeitskultur gemacht. Genug geklagt und "gerettet".

 

Terkessidis 120 privat uMark Terkessidis hat Psychologie studiert und in Pädagogik promoviert. Er ist freier Autor und befasst sich mit Migration, Rassismus und (Populär-)Kultur. Er unterrichtet an der Hochschule St. Gallen und unternimmt zusammen mit Jochen Kühling und vielen anderen das Projekt "Heimatlieder aus Deutschland". Sein aktuelles Buch ist bei Suhrkamp erschienen und heißt "Kollaboration".

 

Mehr lesen: Alle Beiträge zur Stadttheaterdebatte sind im Lexikoneintrag aufgelistet.

 

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