Theater als Kriegsmaschine

von Andreas Tobler

4. Januar 2016. Es gibt kaum eine namhafte Philosoph*in, die sich nicht im weitesten Sinne mit Theater beschäftigt hat, man denke nur an Adornos Beckett-Lektüren, an Judith Butlers "Antigone"-Deutung oder an Jean-Luc Nancys Reflexionen über die Körperlichkeit des Theaters.

Aber kaum einer hat der Bühne eine solch zentrale Bedeutung für sein Denken eingeräumt wie der französische Philosoph Alain Badiou, der bis in unsere Gegenwart hinein in unverbrüchlicher Treue an der Idee des Kommunismus festhält – und in seinen Büchern, Essays und Vorträgen öffentlich darüber nachdenkt, wie diese Idee propagiert und "an die unruhige, orientierungslose Jugend von heute" weitergegeben werden kann.

Wobei gerade in diesem Zusammenhang dem Theater eine entscheidende Bedeutung zukommt, was bereits der Grundriss von Badious Philosophie deutlich macht: Bei ihm gehört die Kunst – und mit ihr das Theater – zu einer der vier "singulären Bedingungen" und "Wahrheitsprozeduren", welche sein philosophisches Denken bestimmen (neben der Wissenschaft, der Politik und der Liebe).

Badiou Foto 180 Wiki Commons Siren ComAlain Badiou (2010)
© Siren-Com / Wikimedia Commons

Begeisterung für Ostermeiers "Volksfeind"-Inszenierung

Von Badious Begeisterung für das Theater wusste man im deutschsprachigen Raum spätestens seit 2006, als sein kleines "Beckett"-Buch in Übersetzung erschien. Darin macht der überzeugte Lacanianer – als Gegenposition zu Adorno – bei Becketts Figuren ein Begehren aus, das "nicht totzukriegen" sei, und das die Menschenstümpfe des absurden Theaters am Leben erhalte – wider alle Widrigkeiten und in einer Bejahung des Daseins.

Badious Begeisterung für die Bühnenkunst ist aber auch in seiner "Éloge du théâtre" greifbar, in welcher der heute 78-jährige seine Beziehungsgeschichte mit dem Theater zu Protokoll gab, zu der seine Freundschaft mit Antoine Vitez zählt, der Badiou wiederholt ans "Chaillot" und an die "Comédie-française" einlud, die der 1990 gestorbene Theatermacher leitete. In seiner "Éloge" formuliert Badiou aber auch seine Begeisterung für Thomas Ostermeiers "Volksfeind"-Inszenierung und – viel wichtiger als das – seine Ablehnung der Dekonstruktion, die im Theater des Teufels sei, wenn sie nicht einem positiven politischen Projekt zuarbeite (dieses Großinterview ist im vergangenen Herbst auch in der Zeitschrift "Lettre" auf Deutsch erschienen).

Der Dramaturg als Polizist

Wie wichtig das Theater für Badious Denken ist – und was dieses wiederum der Praxis geben könnte –, lässt sich aber erst jetzt abschätzen, da seine "Rhapsodie für das Theater" auf Deutsch erschienen ist, worin er die Möglichkeiten von Theater umfassend zu durchdenken versucht. Wobei diese "Rhapsodie" neben dem Analytischen auch allerlei Neckisches enthält, so etwa ein Plädoyer für eine Theaterpflicht (der Besuch könnte von den Steuern abgesetzt werden), oder eine Polemik gegen die deutsche Tradition des Dramaturgen, der gemäß Badiou als "Polizist" und "Wächter über den Sinn" das Theater als "offizielle Verschwörung" störe.

Im großen Bogen enthält Badious "Rhapsodie" zumindest zwei Provokationen, die das Selbstverständnis des gegenwärtigen Theaterbetriebs produktiv verstören könnten. Die erste besagt, dass alles Theater "lebendiges Erscheinen der Idee", also wesentlich "Ideentheater" sei. Das klingt nach Didaktik. Und genau so ist es von Badiou ja auch gedacht: Als "In-Korporierung" der Idee könne Theater Orientierung im Denken und in der Geschichte bieten, ja, gar "Klarheit im unentwirrbaren Leben" schaffen. Als Instrument der Didaktik sei Theater zudem eine wertvolle "Kriegsmaschine" gegen die "demokratische Selbstzufriedenheit" und die "intellektuelle Faulheit".

Badiou als Dramatiker und der universale Kommunismus

Mit seinem feuerfesten Vertrauen in die Didaktik positioniert sich Badiou ganz entschieden gegen eine Tradition, die wiederholt den Wunsch formuliert hat, das Theater von Belehrung und anderen ideellen Implikationen freizumachen, jüngst etwa Karl Heinz Bohrer, der in seinem "Dionysos"-Buch das Moment des Dionysischen vor jeglicher Instrumentalisierung bewahren will, damit wir uns dem ereignishaften Erscheinen (als profane Epiphanie) hingeben können.

Badiou Antiochien Buch 180Bei Badiou dagegen ist das Theater immer ein Mittel zum Zweck, das von der Sehnsucht nach einer anderen Gesellschaftsordnung in Anspruch genommen werden darf. Wie dies konkret funktioniert, demonstriert Badiou unter anderem in seinen eigenen Dramen, von denen mit "Der Vorfall bei Antiochien" bisher nur eines (von insgesamt fünf) auf Deutsch übersetzt wurde. Wobei der Philosoph beim Schreiben seiner Stücke immer nach dem gleichen Prinzip verfährt. Denn wie in seinen anderen Dramen überschreibt Badiou auch in "Der Vorfall bei Antiochien" eine Vorlage. So wird Paul Claudels religiöses Erweckungsdrama "Die Stadt" bei Badiou zum Steinbruch für ein politisches Thesenstück, in dem die Hauptfigur Paula gegen Ende die Idee eines universalen Kommunismus verkündet. "Findet die Leute, auf die es ankommt. Organisiert sie nach (...) dem Gleichheitsprinzip", heißt es da in direkter Adressierung des Publikums (den Gedanken der Universalität hat Badiou auch in seiner "Paulus"-Abhandlung formuliert).

Politik jenseits des Staates

So weit so konventionell, möchte man meinen, insbesondere wenn man nach den politischen Möglichkeiten fragt, die das deutschsprachige Theater in dieser Form, wie wir sie bei Badiou finden, spätestens seit Piscators Agit-Prop-Theater der 1920er Jahre kennt. Die zweite Provokation von Badious "Rhapsodie" besagt nun aber, dass Theater "wesentlich" eine "Angelegenheit" und "Form" des Staates sei, was angesichts der Abhängigkeit von öffentlichen Geldern an sich nichts Überraschendes ist.

Bei Badiou erhält diese Aussage nun aber insofern ein Gewicht, als dass er selbst die wirkliche Politik (also diejenige im Sinne des Kommunismus) konsequent außerhalb der staatlichen Institutionen situiert. Begründet wird dies mit dem Scheitern der sozialistischen Parteistaaten im 20. Jahrhundert sowie mit den repräsentativen Demokratien unserer Gegenwart, die letztlich nur dem Kapitalismus zuarbeiten würden. "Die Politik ist, eine Politik zuzulassen, die ist, damit der Staat nicht mehr ist", heißt es dazu in "Der Vorfall bei Antiochien".

Badiou Rhapsodie Buch 180Theater und das Futur der Vergangenheit

Gemäß Badiou ist Theater also wesentlich als etwas Staatliches zu verstehen. Ist Theater also grundsätzlich unpolitisch, wenn die wirkliche Politik außerhalb der staatlichen Institutionen stattfindet? Nein, als "Form" des Staates kann Theater mit demselben nie identisch sein. Zumindest nicht, wenn man die Sache streng logisch denkt (und Badiou ist ein sehr strenger Logiker). Es gibt also immer eine Distanz zwischen der Idee des Staates und dem Theater als seiner "Form".

Und just aus diesem Spalt ergeben sich die politischen Möglichkeiten von Theater: Es verfügt quasi-automatisch über einen Verfremdungseffekt, mit dem immer auch eine zeitliche Verzögerung einhergeht (Anhänger von Jacques Derrida würden wahrscheinlich von einem Effekt der différance sprechen). Und dieser V-Effekt ist nun genau das, was das Politische im Theater ermöglicht, wie es sich Badiou denkt: Aufgrund des Spaltes, der sich bei jeder Darstellung ergibt, zeigt Theater den Staat, wie dieser "gewesen sein wird". Genauer gesagt, führt Theater als Zeitkunst "das Futur der Vergangenheit" ein, das eine "nötige Distanz zum Stand der Dinge herstellt".

Den Staat als vergänglich vorstellen

Nach Badiou ist Theater also immer eine Historisierung. Aber anders als Brecht, der diesen Effekt in erster Linie dafür nutzte, um die realen Verhältnisse dem Publikum zum Bedenken zu übergeben, hat die Historisierung bei Badiou bereits etwas Aktives: Bei ihm wird dem V-Effekt die Kraft übertragen, den Staat als etwas Vergängliches, ergo Kontingentes und Überwindbares zu zeigen. Folgt man diesen Überlegungen, wäre Theater also wesentlich als eine Zeitmaschine zu verstehen, die nicht die Gegenwart, sondern deren Vergänglichkeit zeigt – um so eine andere Zukunft vorzubereiten. Das ist eine Sichtweise, die in der gegenwärtigen Theaterpraxis bisher kaum Berücksichtigung findet, von dieser aber eingeholt werden kann.

 

Alain Badiou: Rhapsodie für das Theater. Kurze philosophische Abhandlung. Herausgegeben von Peter Engelmann. Aus dem Französischen von Corinna Popp. Passagen, Wien 2015, 132 Seiten, kartoniert 17,40 €

Alain Badiou: Der Vorfall bei Antiochien. Tragödie in drei Akten. Herausgegeben von Peter Engelmann. Aus dem Französischen von Corinna Popp. Passagen, Wien 2013, 112 Seiten, kartoniert 13,90 €

Alain Badiou: Beckett. Aus dem Französischen von Heinz Jatho. Diaphanes, Zürich und Berlin 2006, 80 Seiten, kartoniert 14,95 €

Alain Badiou/ Nicolas Truong: Éloge du théâtre. Flammarion, Paris 2013, 96 Seiten, kartoniert 12,00 €. Übersetzt von Esther von der Osten in: Lettre International, Herbst 2014, Seiten 24-37.

 

mehr bücher