Auf die Wiedereröffnung des Comptoir Voltaire

von Pieter De Buysser

Anmerkung: Der Text entstand vor der tatsächlichen Wiedereröffnung des "Le Comptoir Voltaire" Mitte Dezember.

24. Dezember 2015. Momentan steht nicht fest, ob "Le Comptoir Voltaire", das Bistro in Paris, in dem sich einer der Terroristen am 13. November in die Luft sprengte, je wiedereröffnet wird. Sollten sich die Kellner ihre Schürzen wieder umbinden, ist ebenso wenig sicher, dass sich die folgende Situation dort abspielen wird. Aber es ist möglich. Möglichkeitssinn ist heute ebenso wichtig wie Wirklichkeitssinn.

Es lebe der Möglichkeitssinn

Gerade hat sich ein Herr auf die Terrasse gesetzt. Freimütig, etwas ungeschickt, als wäre er der allererste neue Mensch. Er bestellt die Spezialität des Hauses: gegrillten Tintenfisch. Seine Augen funkeln ansteckend. Ist er ein Verrückter oder ein Weiser? Er lächelt. Er sieht uralt aus und forsch. Seine Hosenbeine sind zu kurz, was seine Waden sichtbar werden lässt. Bei den Leuten am Nachbartisch weckt das die Vermutung, dass er zwei Holzbeine hat. Auch wenn er sie für sein Alter besonders geschmeidig bewegt: es ist nicht zu übersehen. "Wenn du mich fragst", sagt die Dame schräg hinter ihm, "würde ich wetten, dass das linke Bein aus europäischer Buche und das rechte aus arabischer Myrrhe ist." Aber nicht alle Umsitzenden begegnen dem Mann mit so viel Neugier. Der Argwohn ist angesichts der Vorfälle groß; obwohl er unschuldig wirkt. Da ist seine merkwürdige Erscheinung. Man fragt sich, ob es Salat ist, den er sich da auf den Kopf gekleckert hat. Oder sind das tatsächlich Zweige, die aus seinem Schädel wachsen. Sein Blick ist scharf und vergnügt.

Der Kellner bringt dem Mann seine Bestellung: "Bitte schön, bon appétit." Der Mann prostet den Menschen an den Tischen neben ihm zu.

"Auf die Wiedereröffnung des Comptoir Voltaire!"

"Auf Euer Wohl!" Alle essen Tintenfisch.

"Ein schöner Tag", sagt der Herr. "Nichts Besonderes, nichtsdestotrotz ist heute der Tag, an dem sich eine Möglichkeit eröffnet." Ein Mädchen am Nebentisch fragt sich, ob er sich nicht zu viel Senf auf die Gabel genommen hat.

Aber der Herr spricht ruhig weiter. "Man merkt es daran, dass es friedlich und still ist und der Dritte Weltkrieg ausbleibt. Man sieht es an den Polizisten, die sich unterhalten. An den euphorischen Liebespaaren, die händchenhaltend die Straße entlanggehen. An dem Muslim, der ohne Angst auf der Straße betet. Versuchen wir uns ruhig weiter an dem kleinen Wunder."

Das Mädchen schaut den Mann an; sie kann ihn nicht einordnen und doch scheint er ihr vertrauter als der eigene Großvater.

"Selbstverständlich werden die Bomben nicht für immer schweigen. Natürlich ist uns wenig Unmenschliches fremd, aber die unverhoffte, schönere Möglichkeit ist heute, hier und jetzt, Wirklichkeit geworden."

Das Mädchen kostet den Senf. Passanten bleiben stehen. Sie wissen nicht, was sie von diesem Mann halten sollen. Weder von dem, was er sagt, noch von den wurzelartigen Verästelungen, die links und rechts aus seinen Schuhen zu wachsen scheinen, die sich umschlingen und mit denen er nun zärtlich das Kopfsteinpflaster zu streicheln scheint.

"Es war wirklich so", macht der Mann weiter, "dass die Verhältnisse in unseren muslimischen Bezirken erniedrigend und dramatisch waren. Aber es hat Gemeinschaften gegeben, die sich aus Armut befreit haben, ohne dass es Verrückte geben musste, die mit Bomben, Sprengstoffgürteln und Macheten das Morden anfingen. Wirklich. Um sie zu Terroristen zu machen, brauchte es etwas Religiöses. Wiewohl Terror keine Religion hat. Der theologische Wahn, den sie ausheckten, war schauderhaft, aufpeitschend, versklavend. Aber Metaphysik und Ästhetik allein haben junge Männer nicht dazu gebracht, sich einen Sprengstoffgürtel umzuschnallen. Es gehörte auch Politik dazu: Empörung über die Gewalt der israelischen Armee, über einen Assad, der Chlorgas einsetzt, den Mangel an Gesetzesregeln in Guantanamo Bay … Wirklich. Und doch würde kein Mensch hunderte Mitmenschen erschießen, nur weil sein Sinn für gesellschaftliches Unrecht so groß ist. Nur weil er will, dass universelle Rechte respektiert werden und weil er Empathie mit notleidenden Mitmenschen fühlt. Psychopathologie, banaler Verfall, Wahnsinn, die Klauen einer Sekte, das alles … Wirklich. Und vorbei. Es ist nun endlich vorbei."

Es lebe der Wirklichkeitssinn

Der Möglichkeitssinn hat dies wirklich gemacht. Der Wind weht durch die Platanen, die Falten auf der Stirn glätten sich, Wissenschaft und Kunst beginnen wieder zu blühen. Wie nie zuvor. Der Wirklichkeitssinn hat es möglich gemacht.

Eine junge Frau, Doktorandin der Wirtschaftswissenschaften, hat dem strahlenden Idioten wider besseren Wissens zugehört. Ihr fällt in diesem Moment die entscheidende Idee für ihre Dissertation ein: das neue, gerechte weltweite Finanzmodell. Begeistert schaut sie den Mann an.

"Komm näher, schau, hier ist keine Zauberei, keine Magie am Werk. Nein, es ist ganz einfach: wir haben endlich gleich viel Wirklichkeitssinn wie Möglichkeitssinn an den Tag gelegt. Straff trainierte und organisierte Terroristen werden von keiner Dichterseele mehr zu gesellschaftlichen Verlierern oder einsamen Wöflen gemacht. Wirklich. Die Reformation verlief bei vielen Muslimen schrecklich mühsam. Nichts wird mehr unter den Teppich gekehrt. Ein klarer Blick unter den Teppich hat auch unsere Mördergrube zum Vorschein gebracht, unsere historisch gegrabene Mördergrube des Kolonialisierens, scheiternden Modernisierens und Reformierens. Wirklich. Nicht zu leugnen. Die Realität hat gesprochen: Polizei, Erkennungsdienste, Nachbarschaftsverbände, Eltern, alle haben angefangen miteinander zu arbeiten, vernünftig und vertrauensvoll. Es ist möglich geworden, denn wir haben den Wirklichkeitssinn gefunden. Schließlich wird auch dies möglich: Die, die sich die Verteidiger der Aufklärung in Europa nannten, haben eingesehen, dass die Bomben des Dschihadismus nicht nur aus dem Islam kamen, sondern auch eine Reaktion auf jahrzehntelange, misslungene westliche Interventionen. Demokratie, Freier Markt und das freie Denken waren mehr denn je etwas Blutrünstiges, das aus amerikanischen Kampfhubschraubern gekrochen kam. Und sofort wurde deutlich, warum es in den letzten Jahren einfach nicht klappen wollte mit der Aufklärung: Die Aufklärung wurde von Obskuranten verteidigt, die diese unbequeme Wirklichkeit leugneten. Aber obwohl sich die wahnsinnigen Terroristen auf den Islam und das Fehlverhalten des Westens beriefen, wäre es genauso wahnsinnig, ihnen darin Recht zu geben. Weder der Islam, noch der Westen sind verantwortlich. Das sind die Terroristen selbst. Es gibt keine Entschuldigung. Auch diese Wirklichkeit wird nicht länger geleugnet. Nichts wird verschwiegen. Sowohl der Islam, als auch der Westen erkennen: Es gibt viel zu tun. Einmal kurz nicht aufgepasst, und eh man sich versieht, haben wir einen grauenhaften Kraken zur Welt gebracht. Und den haben wir jetzt gemeinsam in die Pfanne gehauen."

Er hebt sein Glas: "Werte Freunde. Es ist herrlich, hier mit Euch zu sitzen. Dieser gegrillte Oktopus schmeckt vortrefflich."

An den Tischen rundum erklingt zustimmendes Gemurmel: "In der Tat, herrlich! Sicher! Runter damit und hopp: wir können uns wieder darum kümmern, was für unseren Planeten eigentlich wichtig ist!"

"Ich muss an Goethe denken", sagt der Herr und kaut wie befreit auf einem Stück Fisch. "Ich denke an seine Liebe und Bewunderung für Hafis, den er mehr achtete als jeden anderen. Hafis und der Islam waren ein ungeheurer Inspirationsquell für Goethe. Und für alle seine Kinder. Ich kann nicht anders, als mich zu Goethes Kindern zu zählen, werte Freunde. Und ich kann nicht anders, als mich zu den Kindern von Hafis zu zählen. Aber das verhindert leider nicht, Freunde, dass es in unseren Familien Kinder gibt, bei denen etwas schiefgeht. Das kommt in den besten Familien vor, könnte man sagen. Ich will hier nicht den Titel 'beste Familie' beanspruchen. Wir sind alle Menschen. Wir alle sitzen hier sehr angenehm beieinander: wir Verpfuscher einer halbwegs gescheiterten Kultur. Solange wir das erkennen, gibt es Hoffnung, und so sind wir dann zum Nobelsten imstande. Ich und Ihr: Loser allererster Güte. Zum Wohl! Ohne unser offensichtliches Scheitern gäbe es keinen Platz für die Liebe."

Einer der Männer, der auf der Straße stehengeblieben ist, um zu hören was er sagt, schaut in die Kronen der Bäume, spürt den späten Herbstwind und atmet erleichtert durch. Er realisiert, dass er sich wieder dem noblen, verwegenen Kampf für das Klima widmen kann. Jetzt, wo alle Ölverträge mit Saudi-Arabien außer Kraft gesetzt sind, wird das vielleicht auch ein bisschen einfacher gehen.

Es lebe das Comptoir Voltaire

"Voltaire und Bomben", sagt ein algerischer Mann, der zuhört, "ich bin so froh, dass wir das jetzt endlich hinter uns lassen können." Und er legt die Hand auf seinen Bauch, der außerordentlich stärkenden Mahlzeit nachsinnend. "Dieses Seemonster isst sich ganz hervorragend mit einem Scheibchen Zitrone", sagt der Herr. "Ich erhebe mein Glas auf die Weisheit, die wir teilen, auf die unermesslichen Wunden und die unermesslichen Möglichkeiten, die wir endlich wiedergefunden haben, um uns noch einmal aufzurappeln." Daraufhin pflückt er einen Zweig aus seinem Haar, bricht ihn entzwei und eine prächtige, lebendig wirkende Flamme erscheint, steigt auf und nistet sich als neuer Stern am Himmel ein. "Das hier", sagt er, "ermächtigt uns zu mehr, als uns unsere arme, verletzte Wirklichkeit gebietet. Es ist gut gegangen. Heute ist ein schöner Tag. Wer hätte das gedacht. Gott und Allah wird wieder in Frieden die Existenz versagt, gelobt, verflucht, verspottet, gepriesen, geleugnet, angebetet und negiert. Es war ein kleines Mirakel, für das wir lange geübt haben. Es lebe die Aufklärung, es leben die Muslime, es lebe der Möglichkeitssinn, es lebe der Wirklichkeitssinn, es lebe das Comptoir Voltaire."

Aus dem Niederländischen von Uwe Dethier

 

pieter de buysser klein uPieter De Buysser, Jahrgang 1972, versucht ohne Biographie zu leben. Tatsächlich lebt und arbeitet er als Dramatiker und Schriftsteller in Brüssel nah dem Stadtteil Molenbeek, der nach den Anschlägen in Paris als Heimat von Terroristen Schlagzeilen machte. Den Text schrieb er als Reaktion auf die Ereignisse und den kriegähnlichen Zustand vor seiner Haustür. In Berlin arbeitet er regelmäßig mit dem HAU zusammen, das demnächst sein neues Stück "The tip of the tongue" koproduzieren wird.

 

mehr porträt & reportage