Presseschau vom 5. Januar 2016 – In der Schweizer Sonntagszeitung kritisiert Doku-Theatermacher Milo Rau die europäische "Wohlfühl-Ethik"

Schluss mit den Bittschriften, raus auf die Straße!

5. Januar 2016. In der Schweizer Sonntagszeitung (27.12.2015) wettert der Recherche-Theatermacher Milo Rau gegen den von ihm so genannten "zynischen Humanismus" in Europa. Es ist ein Humanismus, der in unpolitischer Weise eine "Wohlfühl-Ethik" auslebt. Der zynische Humanist "kritisiert die unmenschliche Grenzpolitik der EU, setzt auf nachhaltigen Konsum und adoptiert Genozid-Opfer". Aber, so Rau, die "grossen Fragen bleiben ungestellt, die wirklichen Verantwortlichkeiten verschwinden hinter dem Instant-Ergebnis des Helfens". Was auf der Strecke bleibe, sei der "gesellschaftliche Wandel".

Im Kern zielt die Kritik auf die Verwandlung realer Aktionen in symbolische: Jede "Change.org-Petition, die von den Ungarn eine Lockerung ihrer Immigrationspolitik oder von einem arabischen Königshaus mehr Meinungsfreiheit fordert, verschiebt eine realpolitische Debatte in den virtuellen Raum. Die Französische Revolution brach aus, als sich die Franzosen entschlossen, nicht länger Bittschriften an ihren König zu verfassen, sondern ihre Forderungen ins Parlament und dann auf die Strasse zu tragen. Wie Teenager, die zu viele Pornos geguckt und dadurch asexuell geworden sind, sind wir unpolitisch geworden, weil wir zu viel symbolisches Engagement konsumiert haben."

"Ich bin ein Arschloch!"

Im Dienste einer Repolitisierung, die auf Handeln abzielt, formuliert Rau fünf Merksätze. Der erste: "Ich profitiere von der Ungerechtigkeit der Welt! Ich bin ein Arschloch!"; der zweite: "Wir können nicht gut und zugleich reich sein. Humanität zahlt sich nicht aus. Wer das Richtige tun will, muss Kosten in Kauf nehmen." Menschlichkeit "kostet unseren Reichtum", sagt Rau mit Blick auf den Wohlstand der Schweiz.

In der dritten These fordert er eine emotionale Berührtheit angesichts der globalen Schrecken: Es geht um "das Leiden von fünf Milliarden Menschen, die nicht das Glück hatten, auf dieser Seite des Grenzzauns geboren zu werden". Rau: "Versuchen wir, uns ihr Schicksal vorzustellen. Es uns lebendig vorzustellen. Denn wenn wir es nicht tun können, sollten wir das Denken ganz sein lassen."

Der vierte Satz ("Werden wir Weltbürger!") fordert eine Revitalisierung des humanistischen Erbes, das über oberflächliche Karitas-Hilfe im Stile einer Marie-Antoinette hinausgeht. "Dem Humanismus des 18. Jahrhunderts treu zu bleiben, würde im 21.  Jahrhundert bedeuten, in einer globalen Revolution die europäischen Aussengrenzen niederzureissen. Das ist keine irre marxistische Utopie, sondern angesichts der Globalisierung der Wirtschaft das Mindeste, was wir tun könnten."

Der fünfte Gedanke resümiert das Programm in einer Forderung mit maximaler Brennweite: "Retten wir gemeinsam die Welt!"

(chr)

7. Januar 2016. Die Flüchtlingskatastrophe, "in den Medien als Geburtshelferin einer Politik der schönen und großen Gesten gefeiert", markiere "in Wahrheit den Beginn der letzten Etappe auf dem Weg in die Postpolitik", legt Milo Rau zwei Tage später in der ZEIT nach und bezieht sich dort auch auf seine bevorstehende Premiere von "Mitleid" an der Berliner Schaubühne. Die Ikone des toten Ailans an der Mittelmeerküste sei jener katastrophal späte Moment, "in dem Europa sich mit dem eigentlichen Wesen seines Reichtums konfrontiert sieht". Sich des "Problems der Flüchtlinge" mit einer weiteren Ethikdebatte anzunehmen sei deshalb nicht nur unpolitisch. "Im Endeffekt ist es auch, so fürchte ich, antiutopisch. Denn was diese Menschen brauchen, ist nicht Charity, es sind Solidarität und Gerechtigkeit."

Rau kritisiert das "unverschleierte Nützlichkeitsargument" in der Debatte, den "zynischen Humanismus" und fordert angesichts des Versagens staatlicher Institutionen stattdessen eine "Poesie des Herzens, des Verstandes und der Tat". Was genau das sein soll, versucht er so zu umreißen: "Warum immer diese selbst auferlegte Zurückhaltung, diese Angst, noch mehr Schaden anzurichten? Warum sollten wir Zöglinge des europäischen Bildungsbürgertums uns nicht für einmal dem magischen Denken hingeben, dass 'nur jene Lanze die Wunde schließt, die sie geöffnet hat' – um Wagners Parsifal zu paraphrasieren? Warum sollten wir nicht, wenn auch nur für eine Saison, die alte Schlingensief-Rolle der ironischen Negation aufgeben und, sagen wir es offen: staatstragend arbeiten?"

Wider die kapitalische Fabel

Rau fordert einerseits eine klare Positionierung (gegen Pegida und Co.), andererseits eine Ablehnung der bestehenden Wirtschaftsordnung: "Hören wir also auf, ein weiteres Jahr der kapitalistischen Fabel zu glauben, dass es immer so weitergehen kann – nur irgendwie weniger tödlich für die Verlierer des Systems, irgendwie weniger peinlich für die Gewinner, irgendwie sauberer für den Planeten. Entwickeln wir, nachdem wir uns der imperialen Innenpolitik gewidmet haben, einen wahrhaft globalen Realismus. Einen Realismus, der nicht nur die Menschen sichtbar macht, die es bis an die Gestade Griechenlands und Italiens geschafft haben. Sondern auch jene, die außerhalb des Fokus der europäischen Mitleidindustrie leben: jene Rechtlosen und Unsichtbaren, die, um ein schreckliches Wort von Hegel aufzunehmen, 'keine Geschichte haben'. Denn wenn die gefühlte Apokalypse des vergangenen Jahres etwas gebracht hat, dann Folgendes: Sie hat auch dem Letzten unter uns die Wahrheit über das System enthüllt, in dem wir leben."

(geka)

 

Kommentare  
Milo Rau gegen Wohlfühl-Ethik: Salonrevoluzzer
Symbolisch und Metaphorischer gehts nimmer, denn von Besitzverhältnissen und deren realer Veränderung durch - tut mir leid - Gewalt ist doch wohl - zumindest in der Meldung - beim Salonrevoluzzer Rau nicht die Rede, und von Marxismus versteht er soviel, wie ich von der Schweiz
Milo Rau gegen Wohlfühl-Ethik: Arschloch ist gerade angesagt
Lieber Milo Rau - ich will bitte nicht mit Dir gemeinsam die Welt retten. Vor allen nicht, wenn Du meinst, dass einer gleich gar nicht denken kann, wenn er sich das Schicksal anderer nicht nur nicht vorstellen kann, sondern es sich darüber hinaus erst recht nicht lebendig vorstellen kann. Sich was vorstellen, ist nur ein Teil des Denkens. Ein hilfreicher, aber nicht der einzige. Außerdem möchte ich nicht mit jemandem gemeinsam die Welt retten, der sich die Welt, obzwar global, nicht annähernd rund vorstellen kann obwohl sie das sogaar nachgewiesen ist!. Was Du trotzdem nicht kannst, wenn Du der Ansicht bist, dass man irgendwo auf der Welt auf der anderen Seite eines Zauns geboren worden sein kann. Bei rund ist IMMER hinter dem Zaun auch vor dem Zaun, oder?? Sich bekennend als Arschloch fühlen kann auch eine Wohlfühl-Ethik sein, wenn Arschlöcher gerade angesagt sind, oder??
Milo Rau gegen Wohlfühl-Ethik: Zeichen setzen
Lieber Milo Rau,
Sie sind ein Visonär! Ich danke Ihnen für ihre Thesen. Lassen Sie uns voran gehen und ein Zeichen setzen: Bitte erklären Sie fortan den Verzicht auf ihre Gage und das Familienerbe der schweizerischen Rau`s und beziehen stattdessen ein Grundeinkommen von monatlich 1500,00 €. Ich würde mich um die Organisation und die Bewerbung dieser "Aktion" kümmern. Ich bin mir sicher, weitere Künstler*innen werden folgen!Der Start einer Bewegung! Was meinen Sie? Das übrig geblieben Geld könnten wir aktivistischen Gruppen zukommen lassen. Und, Herr Milo Rau?
Milo Rau gegen Wohlfühl-Ethik: Link
Hier der Link zum vollständigen Artikel in der Sonntagszeitung:

http://www.sonntagszeitung.ch/read/sz_27_12_2015/kultur/Ich-bin-auch-nur-ein-Arschloch-52359

(Besten Dank für den Hinweis, wir haben noch verlinkt. MfG, die Redaktion)
Milo Rau gegen Wohlfühl-Ethik: lieber im Stillen
"Ich profitiere von der Ungerechtigkeit der Welt! Ich bin ein Arschloch!"
lieber milo rau, dieser satz ist genial,
unternehmen Sie etwas, anstatt die miseren anderer nur künstlerisch auszubeuten, denn etwas anderes machen Sie nicht, indem Sie in ländern mit konflikten ihre Tribunale organisieren, verhöhnen Sie die dort lebenden menschen, die in ihren Tribunalen nur von ihnen inszeniert, aber nicht in realitas zu hören sind;
hören Sie endlich auf, so zu tun, als würden Sie die welt retten wollen, wenn es so wäre, gingen Sie in eine NPO, ohne Selbstinszenierung, aber so wie Sie derzeit arbeiten, ist Ihre Arbeit zu durchsichtig, zu einseitig auf Aufmerksamkeit und Anerkennung ausgerichtet.
Schreiben Sie:
Ich möchte im Stillen für die unterdrückten Menschen dieser Welt arbeiten.
und hören Sie bitte endlich auf, uns zum Narren halten zu wollen.
Milo Rau gegen Wohlfühl-Ethik: Jeder bitte selbst
Vorschlag zur Güte: Jeder rettet seine Welt bitte selbst. "Wir schaffen das". Feiern können wir ja dann nach erfolgter Rettung gemeinsam und auch Milo Rau soll dann nicht der Bissen in den Mund gezählt werden!
Milo Rau gegen Wohlfühl-Ethik: im symbolischen Raum des Theaters
Ich finde das Beispiel mit den asexuellen Teenagern passend, die ihre Sexualität an einen symbolischen Raum, das Medium Internet delegieren. Aber was bitte macht den Milo Rau anders? Er verortet politische Themen in den symbolischen Raum des Theaters. Und damit werde ich doch apolitisch, wenn ich zu viel "politisches" Theater konsumiere? Oder ist die Analogie zu naiv gedacht?
Milo Rau gegen Wohlfühl-Ethik: lieber heiliger Zorn als nihilistischer Sarkasmus
Sicher ein provozierender Text und vielleicht auch ein bisschen schlicht in seiner Weltvorstellung, aber ich finde nicht, dass man - wie hier in den Kommentaren geschieht - gleich kübelweise Häme darüber ausschütten muss. Der heilige Zorn, den Herr Rau da formuliert, ist mir bei allen Vorbehalten immer noch lieber als der nihilistische Sarkasmus, der hier gepflegt wird.
Milo Rau gegen Wohlfühl-Ethik: kein Salonrevoluzzer
Zum „Kongo Tribunal“ wäre klarzustellen, dass die Betroffenen hier keineswegs inszeniert wurden, sondern einen Raum bekamen, in dem ganz reale Konflikte und Menschenrechtsverletzungen von diesen Betroffenen selbst verhandelt wurden. Zum ersten Mal in der Geschichte dieses nun seit zwei Jahrzehnten andauernden Bürgerkrieges, haben sich Regierung und Opposition, Militärs und Menschenrechtsaktivisten, Täter und Opfer, Mienenunternehmen und NGOs überhaupt einmal gewaltfrei und in einem direkten Dialog auseinandergesetzt. Das wurde vor allem von den Betroffenen vor Ort als Meilenstein in diesem Konflikt gewertet.

Weiter sollte man wissen, dass Milo Rau und unser gesamtes Team für dieses Projekt erhebliche Risiken eingegangen sind und für eher bescheidene Honorare unter Extrembedingungen sehr hart und lange dafür gearbeitet haben. Deswegen muss man das Projekt noch lange nicht gut finden, aber man sollte sich als Kritiker wenigstens mit den Umständen vertraut machen, unter denen es entstanden ist. Ob man sich deshalb nun selbst in die Phalanx zynisch-humanistischer Arschlöcher einreihen will oder nicht, ist davon unbenommen. Auch ich teile nicht jede These meines Freundes Milo Rau, schätze ihn aber als Künstler, der eben kein Salonrevoluzzer ist, sondern sich vor Ort begibt und sich dort etwas traut. Und ich schätze ihn als originellen Denker, der seine polemischen Nadelstiche meist an der richtigen Stelle ansetzt und damit wie hier zur Diskussion anregt.
Milo Rau gegen Wohlfühl-Ethik: provokant verkauft
Milo Rau ist in erster linie originell darin, jeden noch so banalen gedanken als provokante these zu verkaufen, die dann unbedingt in der nachtkritik presseschau abgedruckt werden muss.
Milo Rau gegen Wohlfühl-Ethik: Ändert sich was?
lieber arne birkenstock
ich schätze sehr, dass Sie sich für ihren freund hier einsetzen;
aber ehrlich:

helfen wir den menschen, indem wir Sie inszenieren und diese inszenierungen nach europa schleppen, um auf festivals punkte zu sammeln?
das glaube ich nicht.
denn was passiert mit den menschen im kongo? ändert es ihre lage auch nur einen Deut? mitnichten.
nun könnten Sie sagen, aber die menschen in D, CH oder sonstwo in Europa würden für die probleme dieser menschen sensibilisiert werden;
die wahrheit: kein mensch, der nicht bereits partiell sensiblisiert ist, schaut sich eine der rau-veranstaltungen an. gewonnen wird, wer bereits gewonnen ist.
warum dann alles?
(...) und das vehikel wird getragen von den menschen, deren situation ausgebeutet wird. der weiße mann fährt nach afrika, um den menschen zu zeigen, wie man recht spricht, und weil er sich daran gleich zwei mal delektieren möchte, holt er das dann nach europa.
ich wünschte mir mehr kritische reflexion. ich wünschte mir ein, zwei, drei gute dramaturgInnen, die die projekte milo raus betreuten.
Milo Rau gegen Wohlfühl-Ethik: Vorurteile
Verehrte Frau Perennes,

es stimmt - Freundschaft ist eine wunderbare Sache, aber darum geht hier gar nicht. Es geht darum, die Dinge auf der Basis ihres Wesensgehaltes zu beurteilen und nicht auf der Basis der eigenen Vorurteile.

Ihre Kritik fusst auf einer falschen Prämisse, die trotz Wiederholung falsch bleibt. Das Tribunal im Kongo wurde nicht inszeniert und kann insofern auch nicht nach Europa geschleppt werden. Hier haben echte Menschen echte Konflikte mit völlig offenem Ausgang verhandelt. Das Tribunal ist - wie vorher auch schon die Moskauer Prozesse - daher einmalig und nicht wiederholbar.

Die Menschen, deren Ausbeutung durch Milo Rau Sie hier unterstellen, haben dieses Tribunal sehr begrüßt, obwohl der Impuls dazu von Außen kam. Im Kongo alleine hätte so etwas in der derzeitigen Situation aus unterschiedlichen Gründen nicht entstehen können. Nicht etwa, weil die Kongolesen irgendeinen weißen Mann bräuchten, der Ihnen die Prinzipien der Rechtsprechung erklärt, sondern weil die politische, soziale und juristische Gemengelage im Land es einem Kongolesen zur Zeit schlicht unmöglich macht, ein solches Vorhaben durchzuführen. So haben dann sehr engagierte Menschen vor Ort das eben gemeinsam mit uns gemacht. Milo Rau hat hier ja nicht alleine gewirkt, sondern im Verbund mit kongolesischen Juristen, Politikern, Menschenrechtsaktivisten, Minenarbeitern, Betroffenen usw. Diese sind überaus froh darüber, dass dieses symbolische Tribunal stattgefunden hat. Nicht etwa, weil sich dadurch auf einen Schlag die Lage ändern würde, sondern weil hier erstmalig ein Raum zur Auseinandersetzung geschaffen und ein Prozess der Aufarbeitung in Gang gesetzt wurde, der bis heute, Monate nach dem Tribunal, anhält.

Dass nun außerdem weltweit über das Kongo-Tribunal und die ihm zugrunde liegende Problematik berichtet wurde, hat der Sache nicht geschadet und sicher den einen oder anderen für die Verbrechen im Kongo und unsere Mitverantwortung dafür sensibilisiert, der sich ansonsten weder mit Milo Rau noch mit Bürgerkriegen in Afrika befasst.

Gute DramaturgInnen sind uns immer willkommen, wir arbeiten gerne und regelmäßig mit solchen zusammen. Wir legen allerdings Wert darauf, dass sie sich mit den Dingen ernsthaft auseinandersetzen, die sie kritisch beleuchten und nicht irgendwelche Vorurteile auf der Basis falscher Tatsachen in Dauerschleife wiederholen.
Milo Rau gegen Wohlfühl-Ethik: aufs Selbstbild gezielt
Liebe Frau Perennes,
eben um "partielle Sensibilisierung" geht es ihm doch. Der Ausdruck ist fast synonym zu seinem Konzept des zynischen Humanismus zu verwenden. Mitleidsgelaber, Facebook-Posts, Betroffenheit - ohne sich selbst ehrlich und wahrhaftigkeit als Profiteur zu betrachten und dementsprechend endlich zu handeln. Zynische Humanisten gehen zuhauf in seine Stücke. Es ist als würde er sagen: Schön, dass ihr euch mein Theater anguckt, aber lasst uns doch lieber zusammen die Welt retten. Sein Essay zielt also nicht in erster Linie auf die Verbesserung von Lebensbedingungen einzelner, sondern auf unser Selbstbild und unsere Unfähigkeit, global und realistisch zu handeln.

@Arne Birkenstock - Ich bin ein sehr guter Dramaturg
Milo Rau gegen Wohlfühl-Ethik: Kindes-Name
Verehrter Herr Birkenstock,
es geht nicht um Dauerschleife, sondern um Präzisierung.
Nochmals. Es wird nicht verhandelt, sondern - Sie sagten es - symbolisch nachverhandelt. Ein privilegierter Schweizer Regisseur nutzt seine Privilegien, um einheimische Menschen zur Schau zu stellen - alles für eine gute Sache - aber ohne Nachhaltigkeit.

Aber da Sie die Arbeiten Ihres geschätzten Freundes so gut kennen: um was geht es dabei eigentlich?
Theater ist es nun ja nicht, aber auch kein Tribunal.
Erlösen Sie mich bitte, und erklären Sie mir, wie ich das Kind nennen soll?

An die Sensibilisierung glaube ich weiterhin nicht. Zufällig kenne ich den Kongo recht gut. Die Rezeption der Arbeit bei den einfachen Menschen tendiert gegen Null, die Lage der meisten Menschen bleibt unverändert schlecht. Es ist fahrlässig, Mitteleuropäern weismachen zu wollen, dass diese Arbeiten außer im Karusell der modischen Theaterprojekte in den europäischen Festivals irgend eine Relevanz besitzen. Es geht um mediale Aufmerksamkeit, mehr nicht.
(...) Aber eine Marketingmaschine macht noch kein gutes Theater.
Milo Rau gegen Wohlfühlethik: Relevanz wo?
Perennes, mich würde interessieren, welches Theater Ihrer Meinung nach Relevanz besitzt. Welches Theater ändert real und direkt die Lage von irgendjemandem? Welchem Theater könnte man Ihr Argument "gewonnen wird, wer bereits gewonnen ist" nicht entgegenschleudern? Inwiefern wäre das Theater von Milo Rau hier besonders problematisch?
Milo Rau gegen Wohlfühlethik: Motivationen
Mich haben die Ausführungen von Arne Birkenstock tief beeindruckt als kleiner Einblick in Arbeitsweise. Mich würde interessieren- bevor Milo Rau statt Essays zu schreiben, anfängt, Manifeste als Zentralorgan der politischen Schönheit zu verfassen, weil ihn die Zweifler an der Relevanz seines Theaters dahin treiben, sich wie Ruch zu gebärden:
a) Können Sie bitte einmal eine detaillierte Aufstellung der an Milo Raus Kongo-Tribunal beteiligten Finaziers hier durchstellen?
b) Kann Milo Rau im Kreis der Mitarbeiter Genaues über seine Motivation sagen?- Ich meine wirklich über seine, ureigendste, ganz persönliche. An Weltrettungswillen als persönliches Motiv glaube ich eigentlich nicht, es sei, jemand hielte sich für Jesus oder zumindest für einen Propheten...Hat(te) Milo Rau vielleicht einen Freund, den er im Kongo auf viehische Art und Weise verloren hat? Oder einen Freund, der eine Konkgolesin liebte, die an den Berichten aus ihrer einstigen Heimat fast wahsinnig geworden ist, woran die Liebe dann scheiterte, weshalb der Freund sich dann bei ihm einmietete, weil er ein so großes Herz hat für alles Elend um ihn herum? Und der ihn dann solange genervt hat mit seiner Trauer um die verlorene Liebe, bis er selber im Kongo nachsehen wollte, was da los ist??? - Ja, das würde ich gern von Milo Rau erfahren wollen. Und wenn er dazu nichts sagen kann, wäre ich sehr dafür, dass ihn zukünftig das Auswärtige Amt für seine - verstehen Sie mich recht: ich bewundere das wirklich als Leistung! - diplomatischen Dienste für die Ahndung von Kriegsverbrechen bei gleichzeitiger Vermeidung neuer kriegerischer Aktivitäten bezahlen. Nicht über Umwege der Steurzahler aus dem Kulturetat, Abteilung Theaterkunst, sondern aus dem Etat des Auswärtigen Amtes. Ich empfehle deshalb der Geschäftsführung derjenigen Häuser, die seine Arbeiten, die ähnlich gelagert sind, zeigen, die Gelder dafür vom deutschen Auswärtigen Amt einzuholen. Als nächstes träfe das, so ich die Dinge oberflächlich richtig verfolge, die Schaubühne. Die ist Gerichtswege neuerdings wegen Richters FEAR schon gewöhnt und da sollte das mit der Kohle vom Außenministerium für Milo Raus Inszenierung ebenfalls gelingen.
Milo Rau gegen Wohlfühlethik: Suchbewegung
lieber nachfrager,
theater besitzt sicher eine relevanz, und sei es nur eine lokale oder regionale, indem ein theater mit seiner unmittelbaren umwelt verflochten ist, indem zuschauer einer region spieler auf der bühne stehen, indem dieses theater reflektiert wird, und zwar von verschiedensten menschengruppen, nicht von einer kleinen gruppe theaterspezialisten, die in den raren festivalaufführungen sitzen
nennen Sie mich eine Konservative, wenn ich an die Kraft des Theaters glaube, aber ich glaube auch daran, dass sich theater immer weiter entwickelt, und das dessen relevanz im diskurs entsteht. schauen Sie, allein die auseinandersetzungen hier, zwischen den normativen und postmodernen zeigt doch die relevanz eines theaters auf der suche.

aber mein problem mit den Arbeiten Milo Raus - den ich im übrigen als reflektierten Menschen sehr schätze - ist, dass es sich dabei nicht um Theater handelt, aber unbedingt theater sein möchte; und mir die Definition dessen fehlt, was dort passiert. Alles ist auf der Suche: der Erfinder sucht seine projekte, der Spieler seinen fokus, der zuschauer die Relevanz.

die tribunale milo raus bitten um relevanz, das wird immer wieder deutlich in den vielen interviews, die herr rau gibt, und den unzähligen kommentaren und schließlich an diesen Einlassungen.

Und bitte mißverstehen Sie mich nicht. Dies hier soll kein bashing, sondern eine Auseinandersetzung sein, wenn auch eine äußerst kritische. Möglicherweise ist Herr Rau auch noch längst nicht angekommen. Und in zehn oder zwanzig Jahren wird er eine Form des Theaters entwickelt haben, die Relevanz besitzt. Freundliche Grüße.
Milo Rau gegen Wohlfühlethik: Antwort IIPM/Rau
Falls eine Präzisierung erwünscht ist, denn ein grundsätzliches Missverständnis scheint es in Bezug aufs "Kongo Tribunal" nach wie vor zu geben: Es war schlichtweg ein Tribunal, nicht mehr und nicht weniger. D. h. da wurde nicht "nachverhandelt" oder "nachinszeniert", sondern es wurden drei offene Fälle (zwei Wirtschaftsverbrechen, ein Massaker) nach kongolesischem u. internationalem Recht öffentlich verhandelt in Bukavu/Ostkongo. In Berlin gab es einen Monat danach noch eine analytische Nachverhandlung des Bukavu-Tribunals in den Sophiensaelen, über die auch Nachtkritik berichtete, vielleicht daher die Verwirrung.

Die Zeugen waren einerseits Betroffene (also Vertriebene, Überlebende, Bürgerrechtler etc.), andererseits sagten sie für die Angeklagten aus (Firmenmanager, Armee-Offiziere, Politker der Regierung, Rebellen, UNO-Angehörige etc.). Die Anwälte waren gemischt kongolesisch und international (die Internationalen z. B. aus Den Haag, der leitende Richter des Kongo Tribunals ist einer der Initiatoren des Internationalen Strafgerichtshofs). Das gleiche galt für die Jury: Sie war national/international besetzt gemäss der in der DRC (Kongo) aktuell im Aufbau befindlichen Verfahrensweise der sog. "Chambres Mixtes".

"Symbolisch" war das insofern, weil es um drei Fälle ging von fast 1000 seit 1995. D. h. das Kongo Tribunal konnte natürlich nur eine geringe Zahl von Fällen umfassend verhandeln, so wie alle Tribunale der Art, z. B. das Russell-Tribunal. Und symbolisch, also hoffentlich symbolhaft war unser Tribunal natürlich auch, weil M. Bisimwa, der Chef-Untersucher des "Kongo Tribunals" und Initiator der kongolesischen "Chambres Mixtes" zur Aufarbeitung der Massenverbrechen, es gemeinsam mit uns durchführte, um die Anwendbarkeit eines "gemischten" Rechts an drei Fällen konkret auszuprobieren. In spezifisch kongolesischen Debatten wird das "Kongo Tribunal" denn v. a. auch als Beispieltribunal besprochen, also als praktischer Anfang einer regulären Gerichtsbarkeit bzw. eines der globalen Strategie der Multis angepassten zugleich international und lokal wirksamen Wirtschaftsrechts. Genauere Infos zu den Inhalten, Verfahrensweisen und Ergebnissen des "Kongo Tribunals" finden sich auf dem Netz, es sind, denke ich, einige sehr kluge Analysen dazu erschienen, viele übrigens kritisch. All das wird dann im Kinofilm und im Buch nochmal gesammelt.

Wenn man nun allgemein nach der Nachhaltigkeit von Aktivismus fragt, also nach dem, was etwa beim "Kongo Tribunal" über den konkreten z. B. juristischen Nutzen vor Ort hinausgeht - wenn man also fragt: Was bringt der Kinofilm, was bringt die Medienberichterstattung, das Buch, die Facebook-Seite etc.? Dann sind auch wir überfragt, jedenfalls hin- und hergerissen zwischen dem, was hier "Sensibilisierung" genannt wurde auf der einen und der medialen Überfütterung auf der anderen Seite. Tatsache ist: Man guckt sich was an im Netz, im Fernsehen, im Kino - und eine Stunde später ist die Sache wieder weg. Wobei es zum Ostkongo kaum etwas gibt, das überhaupt erst „wieder weg“ sein könnte.

Zur Frage des globalen Realismus: Es trifft zu, dass die in der SonntagsZeitung und der ZEIT ausgewalzte "Hört auf, Change.org-Petitionen anzuklicken, nur vor Ort kann man ernsthaft etwas ändern"-Regel ein wenig dogmatisch ist, aber für Projekte wie das "Kongo Tribunal" ist eine "globale" Strategie, also eine langfristige Zusammenarbeit über Länder- und Kontinentgrenzen auf Augenhöhe der ebenfalls global operierenden Multis unerlässlich. Da geht es nicht um Tage oder Wochen, sondern um Jahre, im Fall unserer Beschäftigung z. B. mit den Verbrechen in Zentralafrika um gut 5 Jahre. Aber natürlich steckt man trotzdem in der Dialektik, die man kritisiert, in all den Verwertungskanälen, Clicks und schönen Worten. Wie sollte man sonst ein Tribunal, eine Aktion, einen Film machen?

Soweit - Ihr IIPM - International Institute of Political Murder
Milo Rau gegen Wohlfühl-Ethik: wissend, aber nicht klüger
Danke für die freundlichen ausführungen. wir wissen nun mehr, klüger sind wir aber nicht - in diesem sinne allen ein angenehmes wochenende.
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