In der Eskalationsspirale

von Esther Slevogt

Stendal, 30. Januar 2015. Diese Beziehung bricht für alle ein Tabu, die Liebe zwischen David und Samira. David ist ein jüdischer Israeli aus rechtsnationalen Kreisen. Samira ist israelische Araberin, also Palästinenserin, und kämpft für Gleichberechtigung im israelischen Staat, in dem sie sich als Bürgerin zweiter Klasse fühlt. Als sie mit einem Freund aktivistisch eine Feier zum israelischen Unabhängigkeitstag aufmischt, der von den Palästinensern als "Nakba", also "Katastrophe" historisch eingeordnet wird, wird sie brutal zusammengeschlagen. Einer der Schläger ist David. Die beiden verlieben sich against all odds. Samira wird schwanger. Rechte Schläger treten ihr später das Kind im Leib tot.

Lauter Tabubrüche

Um diesen brutalen Kern herum hat der israelische Dramatiker Joshua Sobol ein höchst komplexes Geflecht von Beziehungen, Handlungseben und Figuren gebaut. Wir begegnen den Beteiligten auf einem Filmset, wo die Geschichte der Palästinenserin Samira Jahre später von einem jüdisch-israelischen Regisseur verfilmt werden soll: mit einem Ensemble, das ebenso gemischt aus arabischen und jüdischen Israelis zusammen gesetzt ist, wie es das Ensemble des (damals von Sobol geleiteten) Theaters Haifa war, wo das Stück 1985 uraufgeführt wurde.

DiePalaestinenserin1 560 Kerstin Jan Kater uZwischen Filmset-Stellwänden: Das Ensemble der "Palästinenserin" © Kerstin Jan Kater

Joshua Sobol, der zur Premiere aus Haifa nach Stendal gekommen war, erzählt in einem (auf Deutsch geführten) Gespräch, das er vor der Vorstellung mit dem Regisseur des Stendaler Abends, Yaron Goldstein und dem Historiker Stefan Hofmann führte, was für ein Tabubruch das damals bereits gewesen sei, dass das Wort "Palästinenserin" überhaupt an einem israelischen Stadttheater gestanden hätte. Vom verhandelten Thema einmal ganz zu schweigen. "Das war ein 'astrales' Wort", ergänzt Yaron Goldstein, der damals die 2. Aufführung sah. Er wurde 1954 in Israel geboren, lebt und arbeitet seit Mitte der 1980er Jahre hauptsächlich in Stuttgart. Inzwischen sind dreißig Jahre vergangen und der Konflikt hat sich in weitere Eskalationsstufen geschraubt.

Kraftpaket auf schwankendem Ego-Grund

In Stendal, wo das Stück behutsam aktualisiert wurde, hat Ausstatterin Sofia Mazzoni mit wenigen Stellwänden ein Filmset auf die Hinterbühne des großen Hauses gebaut. Mit ein paar Handgriffen lassen sie sich verschieben, so dass man mal an einer Straßenecke in Jerusalem, dann im Schlafzimmer Samiras, bei Davids Eltern oder im Studio des alten Choreografen Herbert in London ist, wo Samira nach den erlittenen Brutalitäten Schutz und Abstand suchte. Wir sehen einer Gruppe von Schauspieler*innen dabei zu, wie die letzten Szenen des Films abgedreht werden, der Samiras Geschichte erzählt. Via Livekamera werden die Szenen gleich auf eine große Leinwand projiziert. Die Beteiligten verhandeln dabei immer wieder auch die Schwierigkeiten, sich in Geschichte und Identitäten hineinzuversetzen. Die jüdische Israelin spielt die Palästinenserin, der Filmregisseur einen verflossenen Liebhaber der Hauptdarstellerin. Bezüge verschwimmen, die Frage "Wer spricht für wen?", "Wer kann und darf eigentlich glaubhaft wessen Geschichte erzählen?" schiebt sich immer wieder vor das Geschehen.

SobolStendal 560 Slevogt uRegisseur Yaron Goldstein, Historiker Stefan Hofmann und Joshua Sobol beim Gespräch vor der Premiere in Stendal.  © sle

Sechs starke Protagonisten schlüpfen immer wieder in verschiedene Rollen. Anna Hopperdietz ist eine zierliche wie energische Samira. Sie spielt aber auch die devote Mutter des rechtsnationalen David. Als Drehbuchautorin und "Erleiderin" der erzählten Geschichte verteidigt sie diese Geschichte immer wieder gegen den Zugriff von Regisseur Benesh oder der Schauspielerin, die sie nun im Film darstellt. Angelika Hofstetters legt ihre Samira als eine schmollmündige junge Frau mit Allüren an – der "realen" Samira am Set kann sie innerlich nur bedingt folgen. Andreas Müller als Regisseur Benesh, aber auch als Londoner Ex-Lover Samiras gibt seine Unsympathen mit leiser Melancholie: als Figuren, die daran leiden, ihren Egoismus nicht recht in sozialere Kanäle gespült zu bekommen. Michael Magel spielt den orientierungslosen David als Kraftpaket auf schwankendem Ego-Grund. Hannes Liebmann irrlichtert als leicht somnambuler Choreograf Herbert durch die Geschichte, die er damit immer wieder in fiktive (und auch dezent surreale) Ebenen hebt.

Jochen Gehle schließlich spielt eine Reihe von Arabern, darunter auch Samiras Freund Adan, der schließlich den Mann ermordet, der Samira das Kind im Leib tottrat und dafür ins Gefängnis geht. Dabei gelingt Gehle und dem ganzen stark und konzentriert spielenden Ensemble, ihre Figuren universal und nicht als spezifisch in Nah-Ost verortet anzulegen. Die Gewalt könnte sich auch hier in Stendal abspielen, zwischen örtlichen Neo-Nazis und Zugewanderten beispielsweise. Doch auch dies wird nie explizit ausgespielt. Und so schafft dieser Abend beides: ohne großen Nah-Ost-Zeigefinger einen Konflikt heranzuzoomen, der die Welt seit fast 70 Jahren beschäftigt und gleichzeitig vor der eigenen Haustür zu kehren.

 

Die Palästinenserin
von Joshua Sobol
Deutsch von Jürgen Fischer
Inszenierung: Yaron Goldstein, Ausstattung: Sofia Mazzoni, Video: Max Kupfer, Dramaturgie: Cordula Jung.
Mit: Andreas Müller, Angelika Hofstetter, Anna Hopperdietz, Michael Magel, Jochen Gehle, Hannes Liebmann, Sophia Herman, Max Kupfer, David Tyllack, Maria Wienecke.
Dauer: 2 Stunden, eine Pause

www.tda-stendal.com

 

Kritikenrundschau

"Es dauert eine kleine Weile, bis der Zuschauer sich zurechtfindet im Bühnengeschehen.", bemerkt Birgit Tyllack in der Volksstimme Stendal (2.2.2016). Dennoch oder gerade deshalb findet Tyllack die Inszenierung durchaus "beeindruckend". Die Schauspieler seien ohnehin "durchweg äußerst stark". Auch merkt Tyllack an, dass Sobols Stück heute "nichts von seiner Aktualität eingebüßt" hat.

 

Das Theater der Altmark in Stendal gehört zu den zwölf Häusern, die soeben den 2015 ins Leben gerufenen Theaterpreis der Kultursataatsministerin erhielten, der im Januar 2016 zum ersten Mal vergeben worden ist.

 

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