Presseschau vom 6. März 2016 – Ex-Intendant Peter Stoltzenberg vermisst im Gegenwartstheater die Dramatiker, wie er im Tagesspiegel aufschreibt

Die Texte werden schmaler

Die Texte werden schmaler

6. März 2016. Der Tagesspiegel hat Peter Stoltzenberg (Jahrgang 1932, Intendant in Heidelberg und Bremen und heuer Gastprofessor der Berliner Schauspielschule "Ernst Busch") gebeten, den geringen Stellenwert der Autoren im Gegenwartstheater anzuprangern.

Seit Rolf Hochhuth, Peter Weiss oder Edward Albee, also seit den 1960ern, "werden die Texte schmaler, wird die Welt, die sie fassen, immer enger: Beziehungskisten, in denen das Private nicht Reflex des Politischen ist, sondern zur Konstellation verkommt", so die These. Von Heiner Müller oder anderen DDR-Autoren nach Brecht ist keine Rede. Als neuere Dramatiker*innen finden immerhin Elfriede Jelinek, Roland Schimmelpfennig und René Pollesch Erwähnung, ohne dass ihr Werk hier eine Auseinandersetzung erfahren würde.

Poesie ist Sinnbild, nicht Abbild

Stoltzenberg wendet sich mit Entschiedenheit gegen die Abbildästhetik bzw. den Authentizitätsanspruch des Gegenwartstheaters (den er etwa in den Bürgerchören von Volker Lösch, aber auch in Nicolas Stemanns Adaption der TV-Serie "Borgen" ausmacht). Dem Abbildrealismus könnten Stücke im emphatischen Sinne (also echte Autorenwerke) Widerstand entgegensetze: "Ein Stück, selbst ein großes, ist – der Doppelsinn sagt es – immer ein Stück. Und wie immer das Theater sich gibt, es ist Spiel als Antwort auf die Unabbildbarkeit der Welt. Es ändert die Welt nicht, aber es ändert unser Verhältnis zu ihr. Es ist eine Selbstbehauptung des Menschen gegen seine Geschichtlichkeit. Die entscheidende Frage ist ja nicht unsere Sterblichkeit, sondern wie wir leben, während wir sterben. Und was sich darstellen lässt, ist Poesie. Sinnbild, nicht Abbild."

Um dem Theater in seiner derzeitigen kleinteiligen Widerspiegelungsästhetik Einhalt zu gebieten, sei eine entsprechende Vergütung von Autoren notwendig. Aktuell käme ein Autor, eine Autorin mit der üblichen fünfzehnprozentigen Beteiligung an den Kasseneinnahmen auf keinen grünen Zweig: "Es sind im Schnitt für 10 Aufführungen rund 900 Euro bei einer Produktion im Studio oder 6000 Euro, wenn er es ins große Haus schafft; minus Steuern und Verlagsanteil." Die Konsequenz: "Davon kann man nicht leben, dafür muss man zu schnell schreiben, was zu schmalen Texten mit kleiner Besetzung führt. Zeit zum Entwickeln größerer Zusammenhänge gibt es nicht – während das Fernsehen ein festes Honorar zwischen 20.000 und 40.000 Euro zahlt."

(tagesspiegel.de / chr)

 

Kommentare  
Stoltzenbergs Dramendiskurs: in Serie
muss ein/e autor*in sich entscheiden: will ich auf poesie und sinnbild im theater mit echtem ensemblespiel bestehen oder nehm ich die 6000 und mach für theater wie fernsehen in serie, um mich als autor*in fühlen zu können, wenn ich zum klassentreffen gehe?
Stoltzenbergs Dramendiskurs: strukturelles Problem
ich muss auf gar nix bestehen. sehe mich auch nicht in der position. man macht das halt ein paar jahre und wenn es nicht mehr trägt macht man was anderes.
das strukturelle problem bleibt: die hysterie mit der premieren und uas durchgehechelt werden. wenn man die premierenfrequenz reduzieren würde, wäre pro produktion auch wieder mehr geld da, auch und gerade für Autoren...
Stoltzenbergs Dramendiskurs: Folge des Verzichts auf Poesie
das nichtbestehenwollen auf poesie und sinnbild des/der theaterautors/in gegenüber dem betrieb theater ist mitverantwortlich für "das strukturelle problem". also auch mitverantwortlich für die premierenhysterien und für die ensembleschrumpfungen und die ethische, d.h. künstlerische ausdünnung des berufsbildes des schauspielers. zugegeben ist dadurch die diversität der spielweisen entstanden, von der die darstellenden künste genreübergreifend auch profitieren. einschließlich der aktionskunst.
Stoltzenbergs Dramendiskurs: nur halb richtig
stoltzenbergs befund ist nur halb richtig: die wirtschaftliche lage vieler autorinnen und autoren ist tatsächlich prekär. inhaltlich würde ich ihm widersprechen. es gibt viele starke stücke, sie werden nur zu selten inszeniert. das mittelfeld zeitgenössischer dramatik hat sich in den letzten beiden jahrzehnten verbreitert. das führt a) zu mehr konkurrenz b) singulären inszenierungen c) schwächerer feuilleton-aufmerksamkeit auch für starke stücke. letztlich wird das gesteuert über spielplanentscheidungen, die sich ja nicht irgendwie naturhaft zwangsläufig ergeben, sondern aufgrund von präferenzen der theaterleitungen. und due orientieren sich nicht zuerst an transparent formulierten ästhetischen positionen, auch nicht an publikumsinteressen, sondern an den vorlieben der gerade gefragten regieleute, die in ganz eigenen profilierungszwängen im wanderkarrierezirkus stadttheater stecken.
Stoltzenbergs Dramendiskurs: Frage
Lieber ödön, wollen Sie nun viele starke Stücke oder viele mittelmäßige? Wie wäre denn so Ihre Spielplanentscheidung, würdenmüssten Sie eine treffen können?
Stoltzenbergs Dramendiskurs: Best-of-Spielplan
mein stadttheaterspielplan wäre ein best of der szenisch-literarischen jahresproduktion. inszeniert von regieleuten ohne egoproblem und mit einem sinn für verdichtete sprache und erzählerische kraft als einem element einer gemeinsamen theaterarbeit und -erfahrung. neben anderen. mit einem möglichst inspirierten, spielwütigen ensemble und modernen, entwickelten spielweisen jenseits verstaubter psychologisch-realistischer konzepte oder hipper ironisierungen. und zwar unabhängig davon, ob das eine oder andere werk schon uraufgeführt ist.
Stoltzenbergs Dramendiskurs: Überblick?
Sehr gutes Vorhaben. Wie verschafften Sie sich einen Überblick über die gesichert vorhandene szenisch-literarische Jahresproduktion als Grundlage für Ihre best-of-Entscheidung?
Stoltzenbergs Dramendiskurs: lesend
na, lesend. wie sonst. und ihr spielplan, @5 und @7?
Stoltzenbergs Dramendiskurs: hellseherische Fähigkeiten?
Jaja, aber wie können Sie so sicher sein, dass Sie lesend wählen können innerhalb einer kompletten Jahresproduktion!? Wo genau beziehen Sie ihren Lesestoff her?? Wenn Sie mir das sagen, lass ich auch ein Stückchen von meinem Spielplan gucken. Sonst nicht. Ich würde Sie nämlich nur dann grenzenlos bewundern, wenn Sie sich sicher wären, eine ganze szenisch-literarische Jahresproduktion gelesen zu haben. So als Hell-Seher irgendwie. Denn zu einer Jahresproduktion von szenisch-literarischen Arbeiten gehörten doch auch die, die z.B. in stillen Kämmerleins ohne jede Zeugenschaft entstanden wären. Oder würden Sie diese dann ausschließen aus dem Begriff der Jahresproduktion?
Stoltzenbergs Dramendiskurs: Relevantes wird bemerkt
@9: sie wollen mich unbedingt darauf festlegen, dass ich nicht ALLE stücke einer saison lesen kann. das versteht sich von selbst und kann auch nicht der anspruch sein. wenn sie aber als festangestellte/r dramaturg/in täglich ein stück lesen und zwei weitere halb, bin ich mir sicher, dass ihnen die relevantesten theatertexte eines jahres nicht entgehen werden. ob das dann mit der auswahl von theater heute, mülheim, heidelberg oder dem berliner stückemarkt usw. übereinstimmt, ist eine andere frage. ich ahne schon ihr nächstes argument: jede auswahl kann nur subjektiv sein. - stimmt auch. aber als professioneller leser können sie für eine verobjektivierung ihrer auswahl sorgen, indem sie ihre methode transparent machen. - auch in einem text, der im "stillen kämmerlein ohne zeugenschaft" entsteht, wie sie schreiben, steckt sicher viel arbeit. aber entdeckt werden kann er erst, wenn er das kämmerlein verlässt. und dann gibt es hierzulande etliche möglichkeiten, professionelle leser für den ersten schritt richtung bühne zu finden. mehr möglichkeiten als in jedem anderen land.
Stoltzenbergs Dramendiskurs: nicht zweifelsfrei
Welche? Möglichkeiten. Alle, die Sie kennen bitte. Und was ist denn mit den bezweifelten Stücken eines Jahrganges? Die, bei denen Sie nur so ein Gefühl haben, dass Sie sich möglicherweise irren könnten mit der spontanen Relevanzbeurteilung? Schleppen Sie die dann festangestellt in den nächsten Jahrgang rüber? Ich will Sie gar nicht festlegen und auf gar nichts. Das steht mir gar nicht zu und ich würde mir so etwas selbst nicht gefallen lassen, da versuch ich das auch nicht bei andern. Ich hätte nur gern, dass Sie nicht so zweifelsfrei festglegt sind darauf, dass Ihre persönlichen Relevanzen der Maßstab für relevante Dramatik sein könntenmüsstensollten.
Stoltzenbergs Dramendirskurs: oft folgenlos
@11: möglichkeiten? 60 deutschsprachige theaterverlage, ein knappes dutzend namhafter wettbewerbe und preise, studiengänge für szenisches schreiben und hunderte dramaturgInnen in diesem land, die fürs lesen bezahlt werden. die chancen, als talentierte/r theaterautor/in nicht entdeckt zu werden, sind relativ gering. das problem, um das es mir geht: die entdeckungen bleiben zu oft folgenlos. ich wurde gefragt, wie ich einen spielplan zusammenstellen würde. darauf habe ich geantwortet, ohne sie mit meinen persönlichen maßstäben zu belästigen. wer sagt ihnen, ich hätte keine zweifel? kommen sie mal raus aus ihrem stillen kämmerlein bitte, und beziehen sie eine position.
Stoltzenbergs Dramen-Diskurs: nicht verstanden, nicht verlegt
Oh, ich wäre gar nicht belästigt, persönliche Maßstäbe von jemandem mitgeteilt zu bekommen, der die Macht und die – selbst zweiflerische! – Kompetenz hat, Theaterspielpläne zusammenzustellen! Ganz im Gegenteil!! Ich wäre hocherfreut, wenn so ein bezahlter Lese-Mensch, einmal, nur einmal bitte!, sagte: MEINE persönlichen Maßstäbe gelten hier, in diesem Verlag, in diesem Theater, in dieser Jury, in diesem Stiftungsrat. Und diese Maßstäbe sind konkret die und die genau. (Aus dem und dem Grund… Als Bonus-Info!) … Es wäre kaum auszudenken, wenn dies Lektoren in 60 deutschsprachigen Theaterverlagen tun würden. Oder die Juroren der knapp ein Dutzend namhafter Wettbewerbe. Oder die Professoren der Studiengänge Szenisches Schreiben. Die ja alle für das Lesen, durch ihre ganz persönliche Brille, mit ihren ganz eigenen Augen, bezahlt werden: Ich-Sagen. Und nicht Ich-Denken und so tun wie Wir-Sagen.
Und andere Wege fallen Ihnen also nicht ein?: Theaterverlag, Wettbewerbseinsendung, Preisausschreiben und Studienabschlüsse, noch dazu in ganz speziellen Studiengängen? Da wäre ein ja Büchner noch aufgefallen, aber Kleist schon wohl nicht mehr. Beckett leider auch nicht usw.
Allerdings nehme ich Ihr Problem sehr ernst. Dass Entdeckungen zu oft folgenlos bleiben. Das kann ich als Dramaturgenproblem anerkennen, verstehen und sogar in besonderem Maße achten. Was tun Sie dagegen? Gegen das Problem, wenn es doch Ihr persönliches ist?
Im Übrigen bin ich nicht erst heute, sondern längst aus meinem stillen Kämmerlein herausgekommen. Und zwar immer, wenn ich eine Arbeit beendet habe. Also seit ungefähr knappen dreißig Jahren. Der Redaktion, die hier administriert, liegt meine jeweilige IP-Adresse vor und auch mein Name. Wenn Sie sich mit mir über Ihr Problem unterhalten wollen, wenden Sie sich also an die Redaktion.
Der letzte Cheflektor eines Theaterverlages, der-und zwar nur auf Empfehlung aus namhaftem Munde, meine Kammerproduktion sich veranlasst sah, gründlich zu lesen, teilte mir jedenfalls mit, dass sein persönlicher Maßstab der sei, dass er keine Zeit habe zwischen all diesen Wettbewerben und Festivals die er besuchen müsse, sich mit so komplizierteren Sachen zu befassen. Und er das betreffende Stück nicht verstehen könne, vor allem nicht, was das mit Heute zu tun haben solle. Und das ihm die erfundene Sprache auf gut deutsch gesagt, nerven würde. Vor allem aber hielte er es für unredlich, es nur wegen der namhaften Empfehlung in seinen Verlag zu nehmen, wenn er weiß, dass er nichts vertreten kann, was er nicht versteht. Und das wäre dann besonders ungerecht. Besonders mir gegenüber. Weil er mich ja dann in den Verlag nehmen täte, aber trotzdem nichts für mich tun würde. Wegen seines Unverständnisses.
Was machen Sie denn- ich meine jetzt wirklich SIE, Herr/Frau Ödön, nicht irgendeinen beliebigen Dramaturgen, wenn Sie etwas nicht verstehen, aber Ihnen z.B. ein international sehr namhafter Dramatiker, einen Tipp gegeben hat, dass Sie doch unbedingt mal was lesen sollten und das in Ihren Spielplan aufnehmen???
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