Krieg den Katzen

Von Cornelia Fiedler

München, 23. März 2016. Könnte lustig sein, so ein Clash zwischen Tolstoi, dem Weltliteraten fürs Weltgeschehen, und den rotzig-klugen Performance-Meister*innen der Mikroebene, Gob Squad. Also wird in den Kammerspielen bei "War and Peace" anfangs gut gelaunt mitgespielt: Leute aus dem Publikum lassen sich an die festlich gedeckte Tafel mit Livecam ganz vorne im Zuschauerraum geleiten und plaudern dort höflich mit: übers Kochen, übers Lesen und über die fatale Gleichzeitigkeit von brutalstem Weltgeschehen einerseits und dem eigenen privilegierten Dasein andererseits. Auch die restlichen Zuschauer*innen folgen den Anweisungen der Performer*innen, messen den eigenen Puls, zählen dabei laut mit – aha, wir leben noch – und warten darauf, Neues vom Sterben im Krieg zu erfahren. Und warten und warten und warten.

war and peace2 560 David Baltzer uApfel oder Apfel?: Bastian Trost, Sarah Thom, Damian Rebgetz performen Tolstoi
© David Baltzer

Von der zwingenden Präsenz, von den mitreißend offenherzigen Gefühls- und Reflexionsspiralen, mit denen Gob Squad unter anderem in "Western Society" (u.a. in München bei Spielart 2013) begeisterte, ist hier bei bestem Willen wenig wiederzufinden. "War and Peace" holpert zweigleisig quer durch die Romanhandlung: Unten im Parkett tagt ein "Salon" nach dem Vorbild der Festgesellschaften bei Tolstoi, die den Krieg nicht kennen aber klug und galant darüber zu reden wissen. Oben auf der Bühne wird sehr minimalistisch die restliche Handlung skizziert. Zunächst tauchen dort aus einem Pavillon mit halbtransparenten weißen Vorhängen nacheinander circa zwei Dutzend Romanfiguren auf, werfen sich in Pose, werden kommentiert, Helene etwa als "so manipulativ wie Frauke Petry", und verschwinden zum Kostümwechsel. Als dabei Zar Alexander auf Napoleon trifft, entspinnt sich ein amüsantes kleines Battle im Darstellen von Feldherrengefühlen. Katja Bürkle gewinnt gegen Sean Pattens narzisstischen Napoleon. Ihr Zar begreift für eine Sekunde die eigene Verantwortung für das Massentöten, was sie mit Comic-Erschauern und einer echten Träne im Augenwinkel quittiert.

Tolstoi's Dance with History

Für einen weiteren abstrusen Höhepunkt des Abends ist Johanna Freiburg zuständig, die ansonsten meist die strenge Tolstoi-Expertin gibt. Unter der Überschrift "Tolstoi's dance with history", projiziert auf einen dunkel wolkigen Schlachtengemälde-Himmel, performt sie einen furchtbar ernsthaften Pas de deux mit einem regenbogenfarbenen Wirbelband, bekannt aus der rhythmischen Sportgymnastik.

Die groß angekündigte Frage, wie man denn bitte gut leben soll, in einer kaputten, entsolidarisierten, kriegsgeilen, dummen Welt, wird letztlich sowohl in den zwischengeschalteten Tischgesprächen als auch in den Miniszenen nur gestreift, ganz sanft, ohne weh zu tun. Das gipfelt in der Vorführung mehrerer Katzenvideos, die die Essenz dessen darstellen sollen, was wir uns tagtäglich im Netz reinziehen. Platter geht's nicht mehr. Dankenswerterweise verweigert die dazu befragte Zuschauerin sichtlich genervt das Gespräch über die "unnötige" Darbietung. Ähnlich schnell wird die Geschichtsphilosophie Tolstois abgehakt, mit einer Runde Fatalismus und einem Textauszug über die Frage, warum der Apfel vom Baum fällt, respektive Napoleon in den Krieg gegen Russland zog.

Die Brücke zum Stadttheaterpublikum

Die Idee, Gob Squad solle an den Kammerspielen erstmals eine Romanadaption entwickeln, kam von Intendant Matthias Lilienthal. Der klassische Titel soll dabei eine Brücke zum Stadttheaterpublikum schlagen, so seine Hoffnung . Die Frage ist nur, was das für ein Publikum sein soll, das derart plumpen vorauseilenden Gehorsam einfordert – und hinter welchem Mond es in Lilienthal Augen die letzten Jahrzehnte verbracht haben soll?

Gob Squad, die seit ihrer Gründung 1994 (damals als Absolvent*innen des Gießener Instituts für angewandte Theaterwissenschaften und der Nottingham-Trent University) Maßstäbe in der freien Theaterszene gesetzt haben, sind für eine solche Zwangshybridisierung jedenfalls offensichtlich die Falschen. "War and Peace" bleibt über weite Strecken seicht, unambitioniert und deutlich unter dem Niveau ihrer frei entwickelten Projekte. Ihre eigentlich grundsympathische Haltung zur Beschissenheit der Dinge, zum westlichen Wohlstand auf Kosten anderer etwa, lassen die Spieler*innen nur hier und da aufblitzen. Und so wundert sich am Ende keiner mehr darüber, dass "lustige Birken" und eine Eiche in grün-schlaffen Blätterkostümen über die Bühne tanzen und vorführen, dass so einige Menschen die Romanhandlung und den Krieg nicht überlebt haben. Traurig aber wahr.

 

War and Peace
Eine Perfomance von Gob Squad nach Leo Tolstoi
Von: Johanna Freiburg, Sean Patten, Sharon Smith, Berit Stumpf, Sarah Thom, Bastian Trost, Simon Will, Damian Rebgetz, Niels Bormann, Tatiana Saphir, Laura Tonke, Katja Bürkle.
Konzept und Regie: Gob Squad, Bühne: Romy Kießling, Kostüme: Ingken Benesch, Video: Miles Chalcraft, Licht: Andreas Rehfeld, Dramaturgie: Johanna Höhmann, Christina Runge, Sounddesign: Jeff McGrory, Konzept und Regie: Gob Squad
In wechselnden Besetzungen mit: Johanna Freiburg, Sean Patten, Damian Rebgetz, Katja Bürkle, Sharon Smith, Berit Stumpf, Sarah Thom, Bastian Trost, Simon Will, Niels Bormann, Tatiana Saphir, Laura Tonke.
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause

www.muenchner-kammerspiele.de

 

Kritikenrundschau

"Die erste halbe Stunde hat einen Zauber", schreibt Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (26.3.2016). Der kehre zwar danach nicht mehr wieder, aber wenigstens bleibe die "Erinnerung daran, ans leichte Nichts, fernab eines ästhetischen Diskurses, der an den Kammerspielen eh der immer gleiche ist." Dennoch findet Tholl: "alles  reizend hier, man fühlt sich so angenehm animiert wie wohl noch nie, seit Matthias Lilienthal die Intendanz des Hauses übernommen hat."

Sven Ricklefs sah für BR2 (24.3.2016) einen Abend, der sich an "jener Hilflosigkeit entlang" hangelt, "die " uns alle im Angesicht der Fragen nach Krieg und Frieden verbindet." Dies mache die Inszenierung zwar definitiv "ansehenswert", "ob sie allerdings qualitativ oder ästhetisch wirklich anders daherkommt, weil sie ein eigentlich bewußtes Antistadttheaterkollektiv an eben jenem Stadttheater mit sicherlich großartigen Ensemblemitgliedern hat arbeiten lassen - das wird nicht wirklich deutlich."

 

Kommentare  
War and Peace, München: mein Platz bleibt frei
...und so wird heute Abend mein Platz in Reihe 2 frei bleiben, ich werde ein Buch von Alexander Kluge über den Krieg lesen, ein glas Wein neben mir haben, ... und so erfülle ich doch den Rahmen, den mir Lilienthal geben will...., nur bin ich selbstgelenkt. Danke der Kritik
War and Peace, München: der nächste Langweiler
Nach Caspar Western Friedrich (oder so ähnlich) der nächste Langweiler. Wann ist das Theater endlich leergespielt und kann wieder neu eröffnet werden? Mein Abo werde ich kündigen und auf bessere Zeiten warten.
War and Peace, München: absolute Fehlbesetzung
War heute in der Zweitaufführung, Katja Bürkle, wegen der v.a. ich hin bin, da man sie in anderen Aufführungen ja kaum mehr sieht (wie auch die restlichen verbliebenen Mitglieder dieses noch vor kurzem so großartigen Ensembles) war nicht auf der Bühne, sondern saß als Zuschauerin in der Reihe vor mir. Am Ende der Aufführung konnte ich mir gut vorstellen, warum. Bei einer derartig dilettantisch mittelmäßigen Veranstaltung sollte man gute Schauspieler auch wirklich nicht verheizen...
Was um Himmels willen hat so was im Haupthaus der Kammerspiele zu suchen???? Lilienthal ist hier als Intendant leider eine absolute Fehlbesetzung.
War and Peace, München: Dercon, mir graut vor Dir
In Berlin bleiben manche Plätze nicht frei, Neugier? Gob Squad kommt auch hierher... an die Volksbühne. Was solls? Lilienthal hat Schützenhilfe gegen Castorf geleistet und nun kommt Chris Dercon.
Im HAU war alles noch in Ordnung, an den Kammerspielen in München vielleicht ein Aufbruch, der wohl zu scheitern scheint.
Lilienthal ist genial, aber die Zeit ist nicht reif oder schon wieder enteilt. Was bleibt ist solides Theater.
Dercon mir grauts vor dir! Castorf gestaltet Theater immer noch genial um und kommt wie Phönix aus der Asche.
Wenn der Volksbühne derconmäßig das geschieht, wass derzeit den Kammerspielen ereilt, dann wehe Lilienthal, eine Nummer zu groß und dann noch die zweite. Das Hau hatte den richtigen Adressaten, da war ich gern und häufig.
Und nun? Ich bin nicht in München... aber in Berlin und ich will C.
War and Peace, München: Krieg und Katzenvideos
War an Peace, München:
Eine Live-Video-Performance nach dem Roman von Leo Tolstoi. Gob Squad versucht sich diesem Monumentalwerk mit seinen 250 Charakteren zu nähern ohne Anspruch, den Roman auf die Bühne zu bringen. Dabei wird die Atmosphäre eines Salons in Sankt Petersburg des 19. Jahrhunderts als Rahmen genutzt. Man trifft sich an einem Tisch mit zufällig aus dem Publikum ausgewählten Personen, führt belanglose Gespräche über das Leben, die Zeit, den Roman "Krieg und Frieden", die nur phasenweise Tiefe andeuten, leider jedoch ohne in die Tiefe zu gehen. Hat man nichts zu sagen oder keine eindeutige Meinung, bieten sich Floskeln wie: "Je ne sais quoi" oder "Was meinen Sie?" an, um das Gespräch in Gang zu halten.
Immer wieder werden Parallelen zur Gegenwart angedeutet. Während der napoleonischen Kriege suchte die gehobene Gesellschaft bei Smalltalk und kleinen künstlerischen Darbietungen (Gesang und eher bemühtem Tanz) Zerstreuung, während auf den Schlachtfeldern zehntausende Russen und Franzosen verbluteten. Heute werden Kriege in den arabischen Ländern geführt und ein beinahe weltweiter Kampf gegen den Terrorismus, während im Internet Katzenvideos der große Renner sind. - Die Propaganda des IS macht sich diese Vorliebe übrigens zu Nutze und platziert Katzen in ihren Fotos von IS-Kämpfern!
Im Gedächtnis bleibt für mich vor allem die Szene, in der eine Krankenschwester schildert, wie Soldaten auf den Schlachtfeldern ihr eigenes Sterben erleben und die Verbindung mit den persönlichen (?!) Erfahrungen der Schauspielerin mit dem langen Sterbeprozess ihres Großonkels. Unterhaltsam auch die Darstellung der großen Feldherren - Napoleon und des Zaren - beim Anblick der Schlachtfelder, vor und nach dem Gemetzel.
Insgesamt muss ich leider zu der Performance aber auch sagen: "Je ne sais quoi"
War and Peace, München: letztlich zynisch
War and Peace, München:
Kann man an neuen Theaterformen durchaus Interesse haben und dennoch ständig enttäuscht werden, ohne sich selbst als ignorant und “altes Eisen“ zu outen? In diesem Dilemma steckt, wer die Aufführungen der Münchner Kammerspiele in der ersten Spielzeit unter neuer Leitung über sich ergehen ließ. Ich wage die Behauptung, dass die bisweilen hoch dotierten Regisseure und Regie-Teams und die Vordenker jener noch immer in den 90er Jahren mit ihrem Misstrauen in Text und Information feststecken. Ihnen ist man geneigt jene Tränenecke zuzuweisen, in die man lebendiges und sich stets fortentwickelndes Theater einst verbannte. Gemeint ist jenes Theater, das sich um neue Erzählweisen bemühte, bevor eine eindeutig bevorzugte Label-Theaterszene die Macht über die Bühnen ergriff.

Zudem konnte ich mich eines schmerzhaften Fremdschämens nicht erwehren, liebe ich doch das Theater und schätze eigentlich die Intelligenz seiner Leitung. Schade, so schade! Hatte ich doch auf intelligentes und politisches, und unkonventionelles Theater gehofft. Vermutlich ist es nicht der richtige Ort, ein Publikum inhaltlich, auch ästhetisch zu unterfordern. Das Publikum kann und will mehr! Und es will Qualität, gerne persönliche Anmerkungen oder Kommentare, aber nicht privatistische Improvisation. Diese Art Experimental-Theater mit dem üblichen Selbstverständnis zu subventionieren, empfinde ich zu Zeiten der Ent-Demokratisierung Europas letztlich zynisch.
War and Peace, München: Zuspruch für Gob Squad
We love you! Don't listen to anybody here. Keep up the good work!
War and Peace, München: ein Ärgernis
Technisch aufwändig produzierte Langeweile. Ein Ärgernis.
War and Peace, München: schlicht, aber wirkungsvoll
Der Grundgestus ist ein ironischer, in seiner Grundfreundlichkeit hinterhältiger. Denn das harmlose Spiel, der freundliche Ton, das gelöste Gelächter ziehen uns schnell hinein, machen uns – und unsere drei Repräsentanten an der Festtafel – zu Komplizen der Realitätsverweigerung und der ewigen Fortführung des blutigen Geschichtstanzes. Am ende bleiben die Bäume, stille Zeugen, welche die verstummte Menschheit – oder das, was von ihr übrig ist – an die Hand nimmt. Der Abend ist streckenweise etwas schlicht geraten, hat mit so mancher Länge und noch mehr Redundanz zu kämpfen und erzählt uns wenig Neues. Aber so, wie er es erzählt, ganz ohne Zeigefinger und zu beginn fast unbemerkt, zeigt er dann doch Wirkung. Er erzeugt ganz theatral Erkenntnis durch pures Spiel, er nimmt uns in die Pflicht und regt an nachzudenken, ob unser Glück nicht bitter erkauft ist. Es ist nicht ausgeschlossen, dass der Abend Tolstoi gefallen hätte.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2016/04/22/tanz-den-tolstoi/
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