Presseschau vom 1. April 2016 – Bernd Stegemann liest in der Zeit die deutsche Flüchtlingspolitik mit Brecht
Der gute Mensch Merkel
Der gute Mensch Merkel
1. April 2016. Der Dramaturg und Buchautor Bernd Stegemann ("Kritik des Theaters", "Lob des Realismus") liest in der neusten Ausgabe der Zeit (31.3.2016) die deutsche Flüchtlingspolitik anhand von Bertolt Brechts Drama "Der gute Mensch von Sezuan".
In Brechts Stück erfinde sich der gute Mensch Shen Te, "um gut bleiben zu können", einen Vetter Shui Ta, "der mit genug Gefühlskälte ausgestattet ist", um Shen Tes Laden, der durch ihre Güte nahezu bankrott ist, wieder auf Vordermann zu bringen. Der fiktivie Vetter wendet dazu "die üblichen Mittel von Konkurrenz und Ausbeutung" an. Die Erkenntnis daraus sei "so einfach wie realistisch: Wer in einer schlechten Welt gut sein will, braucht die Hilfe eines schlechten Menschen. Das Einzige, was diesen Widerspruch aufheben könnte, wäre nicht individuelle Güte, sondern eine Revolution der schlechten Wirklichkeit."
Bernd Stegemann besetzt nun Angela Merkel in der Rolle des guten Menschen Shen Te, der im europäischen Drama "Shui Ta in drei unterschiedlichen Gestalten" an die Seite springe: "Zum einen riegeln die Staaten des Westbalkans ihre Grenzen ab. Der gute Mensch Merkel kann also immer noch darauf beharren, seine Grenzen offen halten zu wollen. Es kommen aber kaum noch Flüchtlinge dort an, da die anderen Staaten die Drecksarbeit übernehmen. Das zweite Auftreten des bösen Vetters ist in dem rapiden Anwachsen rechter bis rechtsextremer politischer Bewegungen in Deutschland zu sehen." Die Grenze zwischen den bisherigen Parteien und der neuen AfD werde "zur neuen, alles bestimmenden Opposition: Shui Ta ist der andere, mit dem man nichts zu tun haben will. Die politische Analyse bleibt schon hier weit hinter der brechtschen Erkenntnis zurück, dass jede gute Tat ihre böse Folge aus sich selbst gebiert, wenn die Welt durch individuelle Güte nicht zu verändern ist."
Der dritte Auftritt des Shui Ta in unserer Zeit sei "dann auch von besonderer Raffinesse. Um weiterhin das Bild der Willkommenskultur aufrechterhalten zu können, wird die Frage nach der Regulierung des Flüchtlingsstroms in ein möglichst fernes Land ausgelagert. Die Türkei, die bisher als zweifelhafte Demokratie und unsicherer Kandidat für einen EU-Beitritt galt, wird über Nacht zum wichtigsten Verbündeten geadelt, damit sie das schmutzige Geschäft der Grenzsicherung übernimmt. Wenn es dabei zu hässlichen Bildern kommt, wird dadurch nur der unterschwellige Rassismus, den die deutsche Gesellschaft immer noch gegen die Türkei hegt, bestätigt, man selbst behält die Hände rein."
Stegemann hält dem guten Menschen Merkel entgegen: "Wer eine Willkommenskultur fordert, ohne über die Eigentumsverhältnisse zu sprechen, verschweigt die Hälfte der Wahrheit. Oder anders, härter gesagt, der belügt die eine Hälfte der Menschen. Die richtige Antwort auf die Wähler der AfD ist keine Anbiederung, indem zum Beispiel die Asylgesetze verschärft werden, und es ist auch nicht ihre moralische Verdammung als Rassisten. Die einzig richtige Antwort wäre die Herstellung einer sozialen Gleichheit aller Lebensbedingungen. (...) Die Dialektik von Shen Te und Shui Ta zu begreifen würde helfen, das Erstarken der AfD ebenso wenig als Naturgewalt zu betrachten wie den Flüchtlingsstrom, sondern beides als konkrete Folgen eines globalen Kapitalismus."
(wb)
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Ja, Frau Merkel, gut verdienende Politikerin, selbst ist es wohl, die sich in Erdogan verwandelt, das aber auf Erdogan projiziert. Und das erzeugt vor allem Stress für die Bürger beider Länder, Deutschland und die Türkei, denn ich kenne keinen Deutschen und keinen Türken, der nicht Kritik an den jeweiligen Staatsoberhäuptern vorbringen könnte. Bilde ich mir jedenfalls ein. Ich könnte mich auch täuschen.
In diesem von Stegemann verwandelten Sezuan-Stück werden die Bürger meines Erachtens völlig aussen vor gelassen, und das ist für mich die Frage. Ist Shen Te denn nun eine Staatenlenkerin oder eine "einfache" (nicht im Sinne von dumm zu betrachtende) Bürgerin? Bei Brecht ist sie meines Erachtens eher Letzteres. Und das heisst für mich, dass Menschen auch in ökonomisch ausbeuterischen Verhältnissen Menschen bleiben können, was allen weiterhelfen würde, ausser den Staatenlenkern, die aus dem (Bürger-)"Krieg" zwischen Menschen auch nur wieder ihren ökonomischen Nutzen ziehen. Umverteilung bzw. Teilen statt Horten und Besitzen geht z.B. auch schon ganz klein. Aber manche Großen sind möglicherweise einfach bereits zu sehr zubetoniert im Hirn, um das wahrzunehmen. Schade. Die Welt können wir, wenn dann, nur über zwischenmenschliche Güte ändern, aber sicher nicht darüber, indem wir uns mit den global ausbeuterischen Bedingungen identifizieren. Global denken, lokal handeln!