Dompteurin des Universums

von Kaa Linder

Zürich, 28. April 2016. Auf der aseptisch weissen Bühne trampelt Sandra Hüller als Isa in DocMartens zwischen schwarzem Kabelsalat herum und hält sich fest am Mikrofon. Zwei Zimmerpflanzen und ein Berg aus braunem Tierpelz – mehr gibt's hier nicht an Kulisse. Zwei Musiker (Moritz Bossmann, Sandro Tajouri) sind noch da, ganz in Weiss und moderat verschanzt hinter Schlagzeug und Keyboard. Was folgt, ist ein fulminanter Monolog, der zwischen barockem Rezitativ und Rockkonzert oszilliert. Schauspiel allererster Güte.

"Am Anfang war die Kraft" resümiert das alterslose Wesen Isa in schwarzer Trainerhose. Mit dem Fingernagel, so zitiert sich Isa selbst, schiebt sie den Mond zurück in den Himmel. So beginnt ihr verstörender Nachtgesang auf die Vergänglichkeit des Lebens und die Schönheit der Erinnerung.

Kraft des Dickkopfs

Isabelle, "Herrscherin über das Universum, die Planeten und alles andere", ist die 14-jährige Protagonistin in Wolfgang Herrndorfs Roadmovie "Tschick", in welchem zwei pubertierende Jungs auf spektakulären Umwegen durch Deutschlands Prärie kurven. Dabei begegnen sie Isa auf einer Mülldeponie. Ist Isa in "Tschick" eine Randepisode, so hat ihr Wolfgang Herrndorf mit seinem posthum erschienenen Romanfragment "Bilder deiner grossen Liebe" ein magisches Porträt auf den Leib geschrieben.

BilderdeinergrossenLiebe1 560 Niklaus Stauss uMagische Lebensbeschwörung und schönster Nachtgesang: Sandra Hüller in "Bilder deiner
grossen Liebe" © Niklaus Stauss

Isa ist mit zwei Tabletten in Reserve aus der Klapse abgehauen. Da steht sie nun im Garten der Klinik vor dem Eisentor. Ob sie sich an einen Ausflug mit Papa mitten im kalten Frühjahr, mit Zelt und schimpfender Mama erinnert, oder ob sie es sich verklemmt, in ihrem Tagebuch zu lesen, welches wie ein 16-Tönner an ihrem Gürtel hängt, stets hat Isa den Überblick und die Kontrolle. "Wenn ich will, dass die Sonne steht, dann steht die Sonne!"

Wandern wie die Sterne

Auf diese Weise lässt sich auch das Eisentor öffnen, und so findet sich Isa in der Freiheit wieder. Per Anhalter geht's raus ins Leben, wo ein LKW-Fahrer erstmal seine Hand zwischen Isas Beinen parkiert und damit markiert, was der jungen Frau in der Folge ständig widerfahren wird: Anmache, Übergriff, Demütigung. Isa geht in den Wald, schläft bei Tag und wandert in der Nacht. Ihre Weggefährten sind Weberknechte, ein stummes Kind, ein totes Reh und die Sterne am Firmament, die sie mit Namen kennt. "Ich gehe barfuss durch den Nebel, trete in Pfützen und trinke das brackige Wasser. Schwankend erreiche ich einen zweiten Morgen."

Regisseur Tom Schneider macht aus Herrndorfs porös filigranem Text eine Partitur, ein Solo für eine grandiose Sandra Hüller. Sie stattet diese Isa, die mehr verlorene Tochter als wahnsinnige Waise ist, mit dem Profil einer Dompteuse aus. Mit nichts als einem Mikrofon in der Hand, zähmt die Schauspielerin sämtliche Gespenster. Die zahlreichen Gespenster aus Isas Wandertagebuch und jene, die als Publikum vor ihr sitzen.

Große Performance

Mit stupender Leichtigkeit amalgamiert Sandra Hüller Isas verzweifelte Einsamkeit zur perfekten Performance. Sie tigert, trampelt und tanzt über die Bühne, sie singt, schnurrt und schreit, und was immer sie da tut auf der Bühne, scheint richtig, zwingend, nicht anders zu denken. Der Bruch zu Isas tristem Dasein könnte härter nicht sein. Indem Sandra Hüller ihre Isa mit der coolen Souveränität einer Rockdiva ausstattet, scheinen deren Abgründe umso tiefer und gefährlicher auf. Das ist Hypnose und Zauberei in einem, schlicht ergreifend und ganz nebenbei wie eine grosse Verbeugung vor Wolfgang Herrndorf.

Bilder deiner grossen Liebe
von Wolfgang Herrndorf, Bühnenfassung von Robert Koall
Regie: Tom Schneider, Bühne und Kostüme: Michael Graessner, Dramaturgie: Inga Schonlau. Musik: Moritz Bossmann, Sandro Tajouri, Sandra Hüller.
Mit: Sandra Hüller, Moritz Bossmann, Sandro Tajouri.
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause

www.theaterneumarkt.de

 

Mehr zu Herrndorfs letztem Roman: Jan Gehler brachte Bilder deiner großen Liebe im März 2015 in Dresden zur Uraufführung. 

 

Kritikenrundschau

"Darüber, inwiefern es klug war, diese sehr unfertige Erzählung zu publizieren, müssen wir an dieser Stelle nicht philosophieren", schreibt Barbara Villiger Heilig in der Neuen Zürcher Zeitung (29.4.2016). "Als Bühnenstoff könnte sie durchaus etwas taugen." Es werde im Neumarkt-Theater dann aber doch "bloss ein netter Abend" draus. "Trotz zwei Musikern (...), drei Gitarren, einem Schlagzeug und etlicher Elektronik fehlt ihm jeglicher Groove", so Villiger Heilig. "Von Regie (Tom Schneider) keine Spur." Sandra Hüller lege sich "wacker ins Zeug" – kann die Angelegenheit für die Rezensentin aber doch ganz offensichtlich nicht retten.

In der Basler Zeitung (30.4.2016) schreibt Stephan Reuter: "«My life is a dead
dream, my heart is a graveyard», singt Sandra Hüller, sie feixt, tanzt, kreischt, heult, schaltet Tag und Nacht an, als beherrschte sie die Sonne. Und verschafft so einer Aussätzigen den Trost einer irrlichternden Soloshow.".

In Der Landbote (30.4.2016) aus Winterthur schreibt Stefan Busz: Sandra Hüller auf der Bühne des Theaters Neumarkt sei eine "Erscheinung, die uns alle mit ihrem Spiel berühren kann". Sandra Hüller mache es "mit magischen Händen, so wie im Buch. Es ist eine Kraft, die aus dem Inneren kommt."

Andreas Tobler findet Sandra Hüller im Zürcher Tages-Anzeiger (29.4.2016) schlichtweg "zum Niederknien". Der Abend sei ein Triumph für das Theater Neumarkt, "die beiden Musiker auf der Bühne, den Regisseur"und die "Ausnahmeschauspielerin Sandra Hüller". Ein Triumph, weil Sandra Hüller sich auf der Bühne in einer "souveränen Halbdistanz" bewege zwischen den "pubertären Nichtigkeiten und den wahren Seelennöten" der Isa. Hüller tänzele im Raum "zwischen blosser Erzählung und der Emotion ihrer Figur, in die sie nur am Ende ganz hineingeht". So sei dieser Herrndorf-Abend wieder einer "dieser kirren Randgänge, mit denen Sandra Hüller seit Jahren in virtuosen Variationen das Publikum zum Niederknien bringt".

Kommentare  
Bilder deiner grossen Liebe, Zürich: laut, aber großartig
Sandra Hüller ist auf jeden Fall ein Ereignis. Eine Rolle so natürlich zu spielen, als wäre nichts einstudiert ist wirklich grossartig. Ihre Trauer und ihre Verzweiflung ist allgegenwärtig und findet zum Schluss eine Erlösung. Gestört hat mich die Lautstärke, die bei einem nicht sehr grossen Raum wirklich nicht notwendig ist. Gestört haben mich auch diese sexuelle Stereotypen wie "geile Fotze", notgeile Lastwagenfahrer, auch ein Übergriff von einer Frau fehlt nicht. Gestört hat mich auch, dass sie verbal immer schlagfertig ist, als könnte sie nichts schrecken. Dargestellt wurde die Vorstellung eines gesunden Menschen von einem Menschen mit psychischer Störung, nicht mehr und nicht weniger. Ich fand die beiden Darsteller von Tschick und Maik sehr treffend.
Leserkritik: Bilder deiner großen Liebe, Volksbühne Berlin
Gastspiel im Roten Salon der Volksbühne

Ist das noch Theater? Oder doch eher ein Rockkonzert? Es passt jedenfalls gut in das erklärte Konzept von Chris Dercon und Marietta Piepenbrock, die Grenzen zwischen den Kunstgattungen auszuloten und mit den Formen zu experimentieren. „Bilder deiner großen Liebe“, Tom Schneiders eigenwillige Adaption von Wolfgang Herrndorfs Romanfragment, ist als Gastspiel des Theaters Neumarkt aus Zürich der bisher überzeugendste Abend der noch jungen, aber bekanntlich extrem umstrittenen Volksbühnen-Intendanz.

Sandra Hüller spielt mit den Extremen: Flüstern und Schreien. Fast völlige Dunkelheit und gleißendes, das Publikum blendende Scheinwerfer. Zarte, hingehauchte, poetische Sätze und vulgärste Gossensprache. Von diesem ständigen Wechsel und der eindrucksvollen Präsenz der Hauptdarstellerin lebt dieser 75 Minuten kurze Abend.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2017/11/16/bilder-deiner-grossen-liebe-sandra-hueller-rockt-mit-ihrem-zuercher-herrndorf-fragment-den-roten-salon/
Bilder deiner grossen Liebe, Berlin: facettenreich
In der Tat findet man so schnell keine Schublade für diesen Abend, der jedenfalls aber eine Wucht ist. Es ist natürlich ein Witz, wenn die NZZ bescheinigt "von Regie keine Spur", weil selbstverständlich viele Entscheidungen getroffen wurden angesichts des literarischen Textes und dessen Umsetzung. Die Register wechseln souverän, Isa steht facettenreich vor uns, Sandra Hüller und die Musik sind großartig. Einzig fehlt mir ein bisschen das verletzliche Mädchen, die verrückte 14-jährige, da ist dann für mich die erwachsene, jederzeit kontrollierte Schauspielerin doch zu präsent. Schade, daß dies nur an zwei Abenden in Berlin zu sehen ist.
Bilder deiner grossen Liebe, Berlin: Hüller ist nicht Isa
Hüller ist nicht Isa, sie erzählt sie. Oder erzählt, wie sie sich erzählt. Oder irgendetwas in der Art. Robert Koall hat die Bühnenfassung erstellt – einen Monolog, ein Konzert, eine Selbstentäußerung, die ihre eigene Distanz mitdenkt. Wir sehen: ein fantastisches Mädchen, bestehend aus Fantasie. Aus Selbstermächtigung und externer Zuschreibung, aus Eigen- und Frendbildern, oszillierend, nie fassbar, eine, die sich immer wieder selbst entgleitet. Sie ist trotzig sich Behauptende, panisch Verzweifelte, wütend gegen die Welt, die Menschen und die Männer anbrüllend – vielleicht auch gegen sich selbst – sich und ihre nonkonformistische Kompromisslosigkeit herausfordernd ins Scheinwerferlicht schiebend. Das Mädchen, dem die beiden Tschick-Jungs auf der Müllkippe begegnete, ist dort nie weggekommen. Weggeworfen als Nichtpassende, Ver-Rückte, nicht zu Definierende. Egal, sie ist trotzdem da, denn auf der Müllkippe sind wir auch, wir haben es nur verdrängt.

Hüller gibt Isa als Rastlose, die ihre Welt formt, kontrolliert, das Licht an- und ausgehen lässt, die Atmosphäre bestimmt, vom kalten Licht der Klarheit über die schummrige Pseudo-Gemütlichkeit sphärisch hinterlegter Introspektion bis hin zur fahlen ewigen Nacht, in der die Gespenster wohnen. Ihre und vielleicht auch die, die vor ihr sitzen. Sie bringt die Sonne zum Stillstand und bricht das Tor auf, zur Anstalt, der sie gerade entkommt. In eine Welt voller Missbrauch und Gleichgültigkeit, fantasierter Liebe und brotloser Treue. Sie erzählt Geschichten, ihre, solche, die ihre hätten sein können, in einer anderen Realität oder einer anderen Zeit, malt sprachliche Bilder von romantischer Opulenz, expressionistischer Wildheit und düsterer Schlichtheit. Sie wechselt den Erzähl- und Ausdrucksmodus von einer Sekunde zur nächsten, ist Rockstar (begleitet vom Musiker-Duo Moritz Bossmann und Sandro Tajouri) und Verlorene, Provokateurin und Liebessucherin, trotzige Rebellin und still Verzweifelte.

Und vor allem Einsame. Aber eine, die sich aus ihrem existenziellen Alleinsein eine Welt erschafft, die nur die ihre ist. Die andere nicht sehen, für ein Zeichen ihrer Verrücktheit halten und als Anlass nehmen, sie aus ihrem Blickfeld zu verbannen. Aber sie kommt zurück, weil sie immer da ist, die als anders Deklarierte, die Schubladensprengerin, das Prinzip Mensch, Subkategorie weiblich. Aber nein, auch das ist schon zu viel Etikettierung. Bei Sandra Hüller ist sie Performerin, gestaltet, (er)findet ihr leben als Show, als spektakulär gebrochene Revue, die Erwartungen aufbaut und brutal an die Wand klatscht. weil sie immer anders ist, in ihrer zerbrochenen Vielfalt. Der vielleicht die Mitte fehlt, aber nicht der Kern. Der heißt Leben. Ein monologisches, dem sie aber auch – einmal – Gegenüber abtrotzt. Hüller/Isa nötigt ihre Musiker, Maik und Tschick zu geben. Ausgeburten ihrer Fantasie, klar, aber auch potenzielle Mitverschwörer, deren pure Möglichkeit sie weitermachen lässt, weil sie Hoffnung gibt, das es sie doch geben könnte: eine Welt, in der sie bleiben könnte, ein Leben, das ihres ist. Weil sie es erzwingt, ertrotzt, erfindet. Und sich von der Realität nicht kirre machen lässt.

Der Abend feiert sie nicht, die psychisch Kranke, Verzweifelte, Suizidgefährdete, (Selbst)Zerstörerische. Aber er reduziert sie nicht auf ihre Symptome, sucht, das Nichtkontaminierte. Und hält uns vielleicht auch einen Spiegel vor. „Das ist das Leben“, sagt sie und brüllt sich zu harten Rockklängen die Seele aus dem Leib. Sie hat Recht. Immer. Es ist ein phänomenaler Abend, was natürlich auch an Sandre Hüller liegt. Wie sie sich und vor allem ihre Isa aus dem, durchs, ins Leben singt, wütet, spricht, rührt zu Tränen, fasst an, erschüttert, aber erprobt auch das Zwerchfell. Die Zuschauerseele lacht und weint und wippt mit. Leben halt. Nicht mehr, vor allem aber auch nicht weniger.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2017/11/18/die-sich-ins-leben-singt/
Bilder deiner grossen Liebe, Zürich: Hörspiel
Das großartige Stück als noch großartigeres Hörspiel ist heute Abend im NDR zu hören und ich hab es grade schon online gehört und runtergeladen!!! Es ist wirklich Wahnsinn, was Sandra Hüller da macht. Man kann sich ja auch mal über die Öffentlich Rechtlichen freuen.
hier:
https://www.ndr.de/ndrkultur/sendungen/hoerspiel/Hoerspiel-Sandra-Hueller-Bilder-deiner-grossen-Liebe,sendung929898.html#
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