Zieh dich aus für die Wahrheit!

von Lena Schneider

Brüssel, 14. Mai 2016. Wer hätte das gedacht: Am Ende dieses Stück ist einem leicht. Da hatte man sich im Vorhinein gewappnet, war fest entschlossen, sich vom Titel nicht in die Irre führen zu lassen und nichts auch nur annähernd Leichtes zu erwarten. Hatte es zynisch, zumindest aber auf nicht gerade raffinierte Weise frotzelnd vom Autorregisseur Milo Rau gefunden, sein erstes Stück mit Kindern, eines über Pädophilie, "Five Easy Pieces" zu nennen. Und dann das. Leichtigkeit.

Wie kann das sein? Anderthalb Stunden lang geht es thematisch denkbar düster zu. Marc Dutroux, der in den frühen neunziger Jahren mehrere minderjährige Mädchen entführt und missbraucht hatte, gilt in Belgien als personifiziertes Böses schlechthin. Obwohl er seit 20 Jahren im Gefängnis sitzt, kennt und erkennt ihn dort noch heute jedes Kind – was Rau zu Anfang von "Five Easy Pieces" auch thematisiert. Da wird ein Foto von Dutroux gezeigt und auf die Frage des einzigen Erwachsenen auf der Bühne (Peter Seynaeve), wer das denn sei, überbieten sich die sieben Acht- bis Dreizehnjährigen aufgeregt in Detailwissen über die Entführungen. Das führt zu Lachern in Publikum, zeigt aber vor allem: Der Grusel, der mit Dutroux einhergeht, fasziniert die Kinder (und nicht nur die). Ähnlich begeisterte Aufregung herrscht nur auf die Frage hin, wer von den Kindern denn schon mal selbst getötet habe. AIle sieben, stellt sich heraus. Goldfische, ein Vogel, und der Kleinste verbrennt gerne Insekten.

Wer die Fäden in der Hand hält

Ob oder wie solche verstörenden Details mit der Causa Dutroux zusammenhängen, überlässt Rau wie gehabt uns, er psychologisiert nicht. Was er in seinen Recherchen (in diesem Fall Gespräche mit Menschen aus Dutrouxs Umfeld und natürlich die Begegnung mit den Kindern) findet, bewertet er nicht. Auch wenn sich die Kinder im Theaterspielen üben, Emotionen teilweise kunsttränengenau nachspielen: Die Emotionen sind Elemente auf Raus Recherchepalette. Er zeigt sie vor. Und er zeigt dabei sich – oder besser: den eigenen Blick, die recherchierende Instanz. Wie in anderen Inszenierungen Raus geht es auch in "Five Easy Pieces" um das Medium der Reflexion selbst, um das Theater. Was kann es, was will es; was kann es oder will es nicht?

Five Easy2 560 PhileDeprez uWie Leid zu Kunst wird © Phile Deprez

Auf der Bühne hilft dabei diesmal die Rolle von Peter Seynaeve, der – zuweilen von einem Lehrer- oder Regiepult aus – durch Fragen und Anweisungen die Richtung des Abends vorgibt. Ein herablassend-spöttischer Showmaster, auf dessen Fingerzeig hin auch mal ein Kitsch-Nebel eingeblendet wird. Er castet die Kinder, schreibt fleißig mit, was sie sagen und in den per Video live nachgestellten Szenen – mit den Kindern als Dutrouxs Vater, als Polizist, als Opfer und Eltern von Opfern – führt er selbst die Kamera. "Theater ist ein Marionettenspiel mit Menschen", sagt anfangs ein Kind. Rau zeigt, wer in so einem Theater die Fäden in der Hand hält.

Was wollen wir (nicht) sehen?

Wie zweifelhaft, wie gefährlich dieses Machtgefälle gerade im Theater mit Kindern ist, zeigt Rau, indem er die Rolle des Showmasters zeitweise zum Verwechseln nahe mit der Rolle Dutrouxs zusammenführt. In einer gefilmten Szene spielt die achtjährige Rachel das von Dutroux entführte Mädchen Sabine. Sie soll sich ausziehen. ("Wie in der Probe, komm!") Sie zögert. Sie soll die Hose ausziehen. Sie zögert. Dann tut sie es. In diesem Zögern, mehr noch als in der Beschreibung der Gräuel, die Sabine erdulden musste, wird das Ausmaß des Grauens spürbar. Die Szene ist verstörend, und auch so kalkuliert. Ist die Scham, die man dem kleinen Mädchen hier glaubt, echt oder gespielt? Ist es interessant, ist es "nötig", in einem Stück über Kindesmisshandlung ein halbnacktes Kind von der Misshandlung erzählen zu lassen? Oder ist es gar das, was wir – wie die Kinder, die sich vom Grausen vor Dutroux auf seltsame Weise faszinieren lassen – doch eigentlich sehen wollen? Solche Fragen wirft uns Rau hin. Es sind keine kleinen, und genug für einen Abend. Der Exkurs in die Kolonialgeschichte Belgiens (Dutroux verbrachte einige frühe Jahre im Kongo, sein Vater arbeitete dort) wirkt im Zusammenhang mit Raus bisherigen Arbeiten konsequent – hier aber forciert, eher wie ein thematischer Reflex. Das im Programmheft formulierte Versprechen, anhand von Dutroux auch noch eben die Geschichte Belgiens in Kurzform zu erzählen, kann nicht eingelöst werden.

Den Stücktitel hat sich Milo Rau übrigens bei Igor Strawinski geborgt. "Five Easy Pieces" – so heißen seine Klavierübungstücke für Kinder. Wie eine lebenstaugliche Lektion aussehen könnte, erzählt ein Mädchen (Polly Persyn) zum Schluss, vorn an der Rampe. Es ist die Geschichte einer Marionette, die einmal eine Wolke sehen will, etwas kompliziert. Nur so viel: Es geht nur ohne Fäden.

Five Easy Pieces
von Milo Rau und Ensemble
Regie: Milo Rau, Bühne und Kostüm: Anton Lukas, Video und Sound: Sam Verhaert, Dramaturgie: Stefan Bläske.
Von und mit: Rachel Dedain, Maurice Leerman, Pepijn Loobuyck, Willem Loobuyck, Polly Persyn, Peter Seynaeve, Elle Liza Tayou, Winne Vanacker.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.campo.nuwww.kfda.be

 

Kritikenrundschau:

"Five Easy Pieces sei "ein sehr komplexer Abend", schreibt Christine Wahl im Tagesspiegel (2.7.2016). "Sein produktives Verstörungspotenzial bezieht er daraus, auf der Folie der Dutroux-Thematik permanent die Bedingungen des Theaterspielens selbst auszuleuchten – Kategorien wie Einfühlung, Authentizität, Katharsis." "Ein höchst ambivalentes Zuschaugefühl" weckt in ihr vor allem Peter Seynaeve, der einzige erwachsene Darsteller auf der Bühne, weil dieser als "Projektionsfläche für Erwachsenen-Autorität schlechthin, mithin auch für ihre prinzipielle Missbrauchsmöglichkeit" fungiert. "Für die erwachsenen Zuschauer sind die Szenen, in denen etwa ein achtjähriges Mädchen den Brief eines entführten Kindes vorträgt – tatsächlich eine Kompilation aus Niederschriften verschiedener Entführungsopfer –, schwer zu ertragen" – für die Kinder hingegen sei laut Rau die größte Sorge gewesen: "Was mache ich, wenn ich auf der Bühne meinen Text vergesse?"

"Es wird einem schlecht, aber das Wunder, dass das Ganze nicht ins Makabre entgleitet, gelingt", schreibt Hannah Lühmann für Die Welt (3.7.2016). "Wie das geht? Man kann es wirklich schlecht erzählen." Für sie ist das ganze Stück "ein einziger Bruch", zusammengesetzt aus "Destillate(n)der tatsächlichen Vorstellungswelten der Kinderschauspieler". "Niedlich, ulkig, bösartig" findet Lühmann, "was Milo Rau in Zusammenarbeit mit dem Campo Arts Centre, das auf Theater von Kindern und Jugendlichen für erwachsene Zuschauer spezialisiert ist, da auf die Bühne gebracht hat."

Milo Rau lässt "uns am Schrecken teilhaben, den man nicht spielen kann", schreibt Sieglinde Geisel für die Neue Zürcher Zeitung (5.7.2016) . "Wir starren nur auf die Leinwand und versuchen zu verstehen, was für ein Spiel hier gespielt wird." "Was sehen wir in diesen fünf trügerisch 'leichten' Stücken? Ein Spiegelkabinett unserer eigenen Gefühle, auf der leeren weissen Fläche, die Erik Saties Musik dazu in uns erzeugt."

"Five Easy Pieces" sei Milo Raus bisher beste Arbeit, schreibt Peter Laudenbach für die Süddeutsche Zeitung (5.7.2016). Rau habe "die Verbrechen des belgischen Kindervergewaltigers und Mörders Marc Dutroux zum Thema eines kaum erträglichen Theaterabends gemacht." "Kinder spielen Erwachsene, die Angst um ihr Kind haben, während die Theaterzuschauer in der Szene davor gesehen haben, was diesem und anderen Kindern in Dutroux Kellern geschehen ist", dies findet Laudenbach "gleichzeitig atemberaubend, analytisch klar und grauenvoll." Sein Fazit: "Die Inszenierung ist der seltene Fall eines Theaterabends, der auf angemessene Weise wehtut und dabei etwas leistet, was man früher Katharsis nannte: Trauerarbeit."

"Selten ist Theater derart vielschichtig, ohne belehrend zu werden", schreibt Dirk Pilz für die Berliner Zeitung (5.7.2016). "Es zeigt die Wirklichkeit wie sie ist – schroff, himmelhoch abgründig, aber nicht unbegreiflich. Das braucht es." Von den sieben Kinderdarstellern zeigt Pilz sich beeindruckt, "spielen das mit größter Genauigkeit, ohne jeden falschen Ton." Die Kunst dürfe alles, schreibt Pilz, um von der Wirklichkeit zu erzählen. "Wenn es gut geht, zeigt sie damit Wirklichkeiten, die sonst verdeckt bleiben, poröse Wahrheiten, die sich auf keinen Begriff bringen lassen." Dieser Inszenierung gelingt das "erschreckend gut", so Pilz.

Pressestimmen zum Gastspiel beim Berliner Theatertreffen 2017

Für Christian Baron vom Neuen Deutschland (15.5.2017) ist diese Arbeit ein neuerlicher Ausweis der herausragenden Qualität des Theaters von Milo Rau: "Milo Rau verhandelt in jeder seiner Produktionen alle großen und wichtigen philosophischen Fragen, ohne auch nur ansatzweise belehrend daherzukommen. Indem er das Theater zur Bühne des Lebens macht und alle ästhetischen Mittel dieser Kunstform ausschöpft, entwickeln sich Inszenierungen, die zum Intensivsten, Innovativsten und gesellschaftlich Relevantesten gehören, was derzeit auf deutschsprachigen Bühnen zu sehen ist."

Der Abend zettele ein höchst komplexes Spiel um Repräsentation, Voyeurismus, 'Authentizität' und überhaupt so ziemlich alles an, womit das Theater sich seit jeher beschäftige, schreibt Christine Wahl im Tagesspiegel (16.5.2017). "'Einfach' sind die 'Five Easy Pieces' garantiert nicht, sondern schmerzgrenzenüberschreitend emotional, aber: zu klug für Rührseligkeit."

Man verlasse das Theater "in Verstörung, ausgelaugt", schreibt Rüdiger Schaper im Tagesspiegel (22.5.2017). Es sei "unfassbar, wie ruhig die Kinder auftreten", sie sprächen "makellos", umkreisten ein Drama, dessen Opfer sie und ihre Familien sein könnten. "Man mag das falsch und sensationalistisch finden – unerträglich, dass Kinder sich mit dem Monster Dutroux beschäftigen." Und ja: Es sei "kaum zu ertragen, was man hört und sieht und denken muss". Das spreche aber nicht gegen diese "außergewöhnliche Aufführung, die das große, professionelle Theater beschämt". "Five Easy Pieces" stelle "die wichtigen Fragen. Es ist ein Stück Europa."

Kommentare  
Five Easy Pieces, Brüssel: warum nicht mehr?
Beim KFDA sind etwa 30 Stücke zu sehen und viele Künstler, die bisher in Deutschland völlig unbekannt sind. Ich schätze Nachtkritik sehr, aber dass ihr das Stück des einzigen Deutschen im Programm besprecht und den Rest gar nicht erwähnt, zeigt, wie wenig interessiert die deutsche Theaterszene an Künstlern aus anderen Theaterkreisen ist...(:

(Liebe/r Zahlenmensch, wir würden gern viel mehr aus dem Programm des Kunstenfestival besprechen und machen das auch, wenn Sie uns sagen, woher wir das Geld und die Arbeitszeit zaubern können. Schauen Sie doch derweil mal in unserer Rubrik international vorbei oder auch in den Nachtkritiken, wo wir uns keineswegs auf deutsche Künstler*innen beschränken. Mit freundlichen Grüßen, die Redaktion)
Five Easy Pieces, Brüssel: belgische Kritik
Die belgische Kritik (La Libre Belgique): "Ein Spektakel voller Feinheit und Intelligenz... großartig und respektvoll. Das Ereignis des diesjährigen Kunstenfestivaldesarts."

http://www.lalibre.be/culture/scenes/l-affaire-dutroux-jouee-par-des-enfants-pleine-reussite-57381ba835708ea2d5813a8d
Five Easy Pieces, Brüssel/Berlin: abstoßende Idee
Und die Eltern der Kinder? Was war deren größte Sorge? Um ehrlich zu sein, würde mich am meisten interessieren, was Rau den Eltern der Kinder gesagt hat, was die spielen/zeigen sollen, welche Einwände sie hatten z.B. und wie gegen solche Einwände von ihm argumentiert wurde.
Ich will es einmal ganz klar sagen: wenn Kinder von allein auf Idee gekommen wären, "Dutroux" zu spielen und ich hätte das mitbekommen, wäre ich fasziniert gewesen und hätte gern über ihr Spiel mit ihnen reden wollen. Es hätte mich erinnert an die Spiele, die wir früher selbst gespielt haben und die auch meine Kinder gespielt haben... So kann ich nur sagen: mich stößt diese Idee ab. Sie widert mich schon als Inszenierungsidee an. Würde ich nie besuchen - Theatervampirismus an Kindern, deren Eltern das sehr vermutlich auch noch gut finden.
Five Easy Pieces, Brüssel/Berlin: Reißbrett
Five Easy Pieces, Sophiensaele/Berlin

Milo Raus "Five easy pieces" sind zunächst eine Reflexion über Belgien als verwundetes Land.

Auf einer zweiten Ebene verhandelt die Co-Produktion von CAMPO und Raus International Institute of Political Murder (IIPM) die Frage, wie Theater vom Grauen des sexuellen Missbrauchs erzählen kann. 8-13jährige schlüpfen in Mini-Reenactments in die Rollen der gequälten Kinder, der schockierten Polizisten und trauernden Eltern. Der einzige Erwachsene auf der Bühne ist Peter Seynaeve, der meist im Hintergrund an seinem Schreibtisch als zynischer Casting-Direktor agiert.

Der Abend erstickt an seinem wie am Reißbrett entworfenen Konzept, im Programmheft ranken sich zu viele Phrasen um Raus Grundidee. Auf der Bühne erreichen die „Five easy pieces“ nicht die berührende Kraft stärkerer Milo Rau-Abende wie „The Dark Ages“.

An den Kindern liegt es nicht, dass dieser Abend nicht gelingt. Sie machen ihre Sache gut, werden aber alleingelassen.

Kompletter Text: https://daskulturblog.com/2016/07/02/five-easy-pieces-milo-raus-abend-ueber-den-belgischen-kindermoerder-marc-dutroux-in-den-sophiensaelen/
Five Easy Pieces, Brüssel/Berlin: Vorankündigung?
Ich frage mich gerade, ob das im Tagesspiegel eine Kritik oder eine Vorankündigung ist. Oder ist das egal?

(Hm, ja, das mag sein, aber immerhin scheint Christine Wahl den Abend wohl gesehen zu haben. Wir lassen die Zusammenfassung jetzt mal stehen, es schadet ja nichts. Herzlich wb für die Red.)
Five Easy Pieces, Brüssel/Berlin: voll daneben
Eine Szene ist verstörend. Und das ist das, was "wir" eigentlich sehen wollen. Ach so. Wirklich? Muss der Kritikerberuf eigentlich alles verallgemeinern? Nun ja. Ich kann mich DR nur anschließen, es ist abstoßend, dass Milo Rau diesen Fall hier überhaupt noch einmal reproduzieren muss, wie auch schon zur Genüge in den Medien geschehen. Ja, es gibt eine Verantwortung von Eltern für ihre Kinder, und da frage ich mich ebenso, ob die Eltern da nur den Ruhm ihres "Kinderstars" gesehen haben. Und ist es denn wahr, dass jedes Kind von dem Fall weiss? Das würde ich stark bezweifeln. Oder hat Milo Rau das Ganze dann eben doch nur als üblicherweise ausbeutendes Regisseursinteresse (jeder Regisseur ist ein Dutroux, egal ob in Bezug auf Kinderdarsteller oder Erwachsene) so konstruiert? Siehe das Thema Theater als Marionettenspiel mit Menschen. Kinder wollen kooperieren. Das dann als Regisseur auch noch auszunutzen und zum Thema zu machen, das ist irgendwie echt voll daneben.
Five Easy Pieces, Brüssel/Berlin: kein Theatermacher
Milo Rau ist ein Installateur, der auf reisserische Themen geht, die ihm so viel wie möglich Raum geben, sich selbst und seine Arbeiten darzustellen, ein Theatermacher ist er nicht.
Dafür fehlen ihm einfach die Fähigkeiten umzugehen mit Text, Spielern, Raum und Zeit. Konzepte, so spannend sie sein mögen, genügen dafür nicht.
Es handelt sich um eine Art pseudo-dokumentarische Verarbeitung, nahe am Journalismus. Zudem muss ich Herrn Rau dringend empfehlen, aufzuhören, am Fließband zu produzieren, und einmal über die Stoffe nachzudenken, die er verarbeitet.
Moskau, Kongo, Breivik, Dutroux, was kommt als nächstes.
Five Easy Pieces, Berlin: extrem berührend
Rau ist mit Five Easy Pieces einen extrem berührenden, geschmackvollen, vielschichtigen, umsichtigen Theaterabend gelungen. Ich bitte diejenigen, die das Anliegen schon von vorne rein kritisch sehen, sich das erst anzuschauen, bevor man argumentiert. Dieses oder jenes Thema, oder diesen oder jenen Regiezugriff abzulehnen, ohne sich das Kunstwerk anzuschauen, zeugt von einem sehr engen Kunstbegriff und von wenig Mut. Von wesentlich weniger Mut als Rau zeigt mit diesem Abend. Ich war dort (obwohl der Abend sich nicht auf Jugendliche richtet; das Anliegen von Campo ist mit jugendlichen Dastellern Theater für Erwachsene zu machen) mit meinen 12-, 15- und 17-jährigen Töchtern, mit denen ich im Anschluss sowohl über das Thema als auch über die theatralische Umsetzung ein intensives Gespräch hatte.
Five Easy Pieces, Berlin: Angstmamis & Helikopterpapis
Man muss diesen Abend gesehen haben und verstanden. Wie verabeiten Kinder Märchen, wie die Realität? Und wie klären wir sie auf, begleitend durch solch einen Abend. Es ist nicht das Problem der Kinder, sondern das der Zuschauer. Sie werden zu Voyeuren. Und uns wird doch nur vor Augen gehalten, was täglich durch die Medien geistert und wo wir mitleidig vor der Glotze sitzen und weinen. Die Kinder verarbeiten dieses Thema mit einer Leichtigkeit und ohne Scham. Welche Bedeutung haben Märchen, Kinder werden gefressen, leiden, werden ausgesetzt.
Für Kinder ist es eine Auseinandersetzung mit dem Erwachsenwerden.
Inga, ich finde nichts abstoßendes. Haben Sie den Abend gesehen? Wenn ja, wann und wo? Ich bin es leid, wenn Sorgenmenschen inhaltslos ihre Meinung äußern. Für solche Empfindsamkeit ist hier wenig Platz, dafür gibt es Psychiater.
Ich fand auch, dass es ein berührender, umsichtiger, aber auch beklemmender Abend war und stimmen Frau Jaeschke voll zu.
Was machen die Kinder in der Freizeit? Schon mal informiert, Inga? Dann tun Sie es. Sie werden erschrocken sein, wie unverdaut ein Mord, Kriminalität und Ängste ungefiltert durch die Kinderzimmer wandern. Und wie Angstmamis und -papis helikoptermäßig um die Kinder kreisen.Nur keine negativen Erfahrungen, nur keine Keime. Das führt aber leider zu Anfälligkeiten.
Ich hatte das Gefühl, die Kinder wollten spielen, sie wollten sich auseinandersetzen und sie zeigten uns, wie man mit diesem Thema gelassen umgeht.
Die Welt ist global und darum Cotard ist es gut, wenn man sich mit ihr auch global auseinandersetzt und wie Rau Verknüpfungn schafft. Wie viele Stücke von Rau haben Sie bewusst wahrnehmen können, um sich so ein triviales Urteil wie Fließbandproduktion erlauben zu dürfen? Und was haben Sie geleistet, um diese Welt verständlich zu machen. Wenn Sie einen kleinen Beitrag geleistet haben, dann bin ich bereit, weiter mit Ihnen zu diskutieren, ansonsten bringen Sie sich bitte erst einmal in Schwung.
Five Easy Pieces, Berlin: Was kann Theater?
Five Easy Pieces ist eine Studie über Spiel und Theater, über Manipulation und Missbrauch, die leichtfüßig und kaum merklich Ebene auf Ebene türmt, bis sich der Zuschauer in einem Gewirr aus Fragen wiederfindet, die ihn selbst betreffen, die Grundsätzliches in Frage stellen, die das gerade Genossene ins Zwielicht setzen und seinen Blick zweideutig erscheinen lassen. Das Theater als Medium der Erkenntnis: Milo Rau war vielleicht noch nie so radikal wie an diesem Abend, der das Theater selbst zum potenziellen Unterdrückungsinstrument und Missbrauchsraum macht, es nach seiner Rolle und seine Abgründen fragt, und der doch auch die Möglichkeit zulässt, dass das was hier passiert, ganz im Sinne derer ist, die wir gerade noch missbraucht glaubten. Natürlich ist das ohnehin alles Spiel, doch wo ist seine Wahrheit? Milo Rau zwingt die, die mit wachsender Unruhe zusehen, ihren Blick in Frage zu stellen, ihren Reaktionen zu misstrauen. Wenn der Anblick des halbnackten Mädchens mit dem sachlich erzählten Abschiedsbrief erschüttert, was ist die Ursache? Der manipulative Zwang, dem der Zuschauer beiwohnt, oder die mimetische Kraft von Rachels Darstellung? Es ist die Entscheidung jedes Zuschauers, seine Haltung zu finden, die verschiedenen Ebenen zuzulassen. Die Fragen drängen sich auf, die Antworten zu finden, obliegt dem Besucher. Am Ende lässt ihn Milo Rau allein mit sich und seinen Fragen. Der Boden schwankt, der Zuschauer muss lernen, auf ihm zu gehen. Aus der Bahn geworfen, verunsichert, und doch seltsam beglückt. Was kann Theater mehr? Und darf es das?

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2016/07/05/die-wahrheit-ein-fragezeichen/#more-5680
Five Easy Pieces, Berlin: Nein!
Wenn sich die Fragen konzeptionell vorab aufdrängen, muss der Zuschauer da nicht hin, wenn er schon gelernt hat, was Rau ihm beibringen will. Ohne Theater. Oder zumindest von einem anderen Theater als diesem. Und ein Theater, das sich konzeptionell allein durch themenverbundene Darstellerwahl aufdrängt, ist keines, das ich aufsuche. Schön, wenn das bei dem Thema andere beglückt. Weil es sich im Theater selbst präsentiert? Vielleicht gut, auch einmal das eigene Glück zu befragen. Nicht nur das eigene Unglück. Und auch einmal zu fragen, warum man ausgerechnet Theater braucht, um ein seltsames Gefühl von Beglückung haben zu können als Zuschauer. Wenn man zu d i e s e r konkreten Frage nicht gekommen ist, hat dieser Abend gar nichts gekonnt. Aber man kann es sich natürlich einreden, dass es mehr nicht können kann, das Theater. Um der wirklich schmerzhaften konkreten Frage aus dem Weg zu gehen. Ansonsten darf Theater alles. Wie jede Kunst. Aber der Zuschauer darf auch alles. Ich geh zu sowas nicht hin und wenn das noch so ästhetisch Ebenen-blinkert. Das werde ich nicht auch noch durch Bezahlung unterstützen als Haltung zu dem Thema und zu Kindern und Jugendlichen und ihren diesbezüglichen ureigendsten Spielweisen.
Five Easy Pieces, Berlin: Trauer?
Worum trauert konkret Herr Laudenbach mit Milo Raus Hilfe? Steht da auch etwas dazu in der SZ?
Es ist etwas anderes, wenn Kinder und Jugendliche das ALLES selbst organisieren. Von der IDEE, Erwachsene spielen zu wollen, die Angst um ihre Kinder haben, bis hin zur kompletten Umsetzung mit eigenen, wirklich eigenen, Mitteln. Dann nämlich ist das ein Schrei, den sie selbst organisieren, der aus ihnen kommt und der dem Bedürfnis entspringt, nicht überfordert oder genervt zu werden mit der Angst der Erwachsenen in der Welt wie sie heute ist. Oder wenn Kinder einen Brief an Rau schreiben und schreiben: "Hilf uns, Du machst so coole Sachen wie Kongo-Tribunal. Wir wollen das Dutroux-Monster mal für richtige Erwachsene vorspielen, nicht nur immer alleine..." Aber die Wahrheit ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit: die Kinder und Jugendlichen sind nicht von selbst auf die Idee gekommen. Und sie haben Rau nicht um Hilfe gebeten. Und deshalb ist das seelischer Missbrauch. Ganz klar. Ein Missbrauch des Lebens durch das Theater. Und so etwas wird immer salonfähiger. Das ist absolut widerlich. Und es wird sich rächen. Solch ein Theater ermöglicht drei Dutroux mehr als es vorher gegeben hat. Und da reden wir schließlich nicht verharmlosend von Missbrauch, sondern bitteschön in aller Deutlichkeit von Mord. Mord an Kindern und Jugendlichen. Da findet gar keine Katharsis statt außer eventuell bei Voyeuren, die keinen alltäglichen Umgang mit Kindern mehr haben und die sich weder ihrem eigenen Fortpflanzungstrieb noch den Tatsachen stellen, die in der Welt so wie sie ist, verhindern, dass sie ihn menschenwürdig ausleben... Mit denen sich Milo Rau gemein macht und dafür die schöne Idee eines Kindertheaters für Erwachsene missbraucht. Das sich über seine Leitung prostituiert, um auf dem Markt des heißumkämpften Theaterbetriebes eine eindeutig künstlerische Bedeutung zu bekommen? Und auch hier hilft die Frage nach dem ökonomischen Kern: WER konkret bekommt das Geld für Inszenierung und Vorstellungen?? Wer konkret, wie viel konkret? Es wäre wirklich interessant, was konkrete Eltern der tatsächlichen Opfer meinen. Ob denen das geholfen hat bei ihrer Trauerarbeit? Kann man das Stück auch den Eltern der beiden Jungen empfehlen, die der Brandenburger Silvio S., der mit Kindern nach Zeugenaussagen total gut konnte", ermordet hat?? Von denen zumindest eines der Kinder als überaus selbstbewusst beschrieben wurde. Und trotzdem dem Täter in die tödliche Vertrauensfalle ging, weil der so gut mit Kindern konnte? ... Trauerarbeit ist etwas sehr individuelles. Und es ist ein Unterschied, ob ich zu betrauern habe, dass ich kein eigenes Kind habe, oder dass meines nicht einfach starb, was tragisch genug ist, sondern sogar ermordet wurde. Oder zu betrauern, dass Kinder von Leuten ermordet wurden, die ich kenne oder von Leuten, die ich nicht kenne oder dass überhaupt die Welt so grausame Möglichkeiten wie sexuellen Missbrauch und Mord sogar an Kindern bereithält... Welche Trauerarbeit und Katharsis hat diese Inszenierung denn nun g e n a u ermöglicht??? Wenn mir das einer sagen kann, gehe ich vielleicht doch da hin, um mir das Publikum anzuschauen... Aber auch nur dann. Und ansonsten bleib ich dem fern, und wenn das zwanzig Preise bekommt und noch mehr namhafte Theaterkitiker karthasische Erweckung gespürt haben oder von der behutsamen Ästhetik so angerührt sind wie man nur sein kann, wenn man Theater so routiniert schaut, dass einen so schnell ohnehin nichts mehr berührt. Und eventuell ist das ja überhaupt einmal eine Frage: Muss das Theater sich immer sensationistischer präsentieren, damit Kritker berührt werden und über es möglichst gut schreiben? Oder müssen Theater-Kritiker sich eventuell auch einmal fragen, was sie denn alles noch so berühren kann. Außerhalb von Theater.
Five Easy Pieces, Berlin: Kinder
@ Olaf: Sorgenmenschen? Psychiater? Im Gegenteil! Oder genau darum geht es wohl, um Erwachsene, die meinen, genau zu wissen, was Kinder brauchen oder nicht brauchen. Die sich null Fragen stellen zu dem, was die Kinder (hier von sieben/acht Jahren) eigentlich selbst wollen. Theater spielen vielleicht. Aber sicher nicht zu diesem Thema. Das sie aus Erfahrung ihrer Kindersicht auch überhaupt nicht interessieren wird, weil es (wahrscheinlich) kein wesentlicher Bestandteil ihrer Alltagserfahrung ist. Jedenfalls nicht dieser Kinder. Anderer Kinder vielleicht schon, aber ob es bei denen dann hauptsächlich darum geht, auf einer Bühne stehen zu wollen und Geld dafür zu bekommen, das kann ich mir nicht vorstellen.
Five Easy Pieces, Berlin: Seien sie so lieb..
"Theater spielen vielleicht. Aber sicher nicht zu diesem Thema."

Seien Sie bitte so lieb und erzählen uns, welche Quelle Siue für diese Aussage haben? Ich vermute, Sie haben mit den Kindern gesprochen? Im Satz davor schreiben Sie: "Oder genau darum geht es wohl, um Erwachsene, die meinen, genau zu wissen, was Kinder brauchen oder nicht brauchen." und im nächsten nehmen Sie sich heraus, den Kindern vorzuschreiben, was sie zu wollen haben. Ich frage jetzt auch nicht, ob Sie den Abend gesehen haben – haben Sie ja nie. Aber so langsam schwillt mir der Kamm bei so viel Arroganz und Heuchelei.
Five Easy Pieces, Berlin: Nüchtern
@ Sascha Krieger: Ich kann nicht erkennen, wo Sie in meinen Aussagen "Arroganz und Heuchelei" entdecken. Ich kenne mich bloß ein wenig im Bereich der Pädagogik, der Theaterpädagogik und des Menschseins aus. Sie hoffentlich auch. Und ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass Kinder von ca. acht Jahren gerade solche Themen - Kindesmissbrauch - als Lieblingsspielthemen wählen. Es ist zunächst mal Milo Raus Interesse (gewesen), nicht das der Kinder. Oder? Die wurden dann doch im Nachhinein gecastet. Seien wir doch mal ehrlich. Ich sehe es jedenfalls so. Nüchtern und realistisch.
Five Easy Pieces, Brüssel: Spätfolgen für die Kinder
Es ist schon erstaunlich, dass ein so brillanter Regisseur, sich selbst und sein tun un-hinterfragt auf die Bühne lässt und so zum Mittäter an Schutzbefohlen wird, und dies sind Kinder und Jugendliche nun mal in erster Linie. Für den Effekt eines Theaterabends, Minderjährige zu benutzen, ohne einschätzen zu können welche Folgen und Spätfolgen dieses in der Psyche auslöst macht jeden der fahrlässig oder beabsichtigt dieses tut zu einem Mittäter. Das ist genauso psychischer Gewalt auch wenn sie scheinbar indirekt ausgeübt wird. Außerdem ist hinter der Leistung der Kinder der Erfolgsdruck eines theatralischen Abends auch diese geht nicht spurlos an Laien-Kinder-Darstellern vorüber. Ich beglückwünsche die Städte die den Mut hatten diese Aufführung zu untersagen.
Five Easy Pieces, Brüssel: Publikumsgespräch
@16: Der Behauptung, Milo Rau würde die schauspielenden Kinder als "Mittäter" "benutzen" möchte ich entschieden entgegentreten.

Es gab einen sehr geordneten, sorgfältigen Prozess parallel zur Inszenierung, der auch Psychologen einschloss, die die Kinder begleiteten. Auch haben die Eltern der Kinder ein Wörtchen mitzureden.

Ich möchte anraten, dass Sie Ihre Bedenken in einem Publikumsgespräch zum Ausdruck bringen. Sie sind sicherlich nicht die/der einzige, und es ist besser, dies im direkten Austausch mit dem Team zu besprechen. Das ist jedenfalls beim Publikumsgespräch während des Theatertreffens in überzeugender Weise geschehen.
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