Es ist vorbei! Oder will der nur spielen?

von Ralf-Carl Langhals

Mannheim, 21. Mai 2016. Mit einem Schlag wird es dunkel. Was im Einlasslicht wie eine schlichte Schräge aussah, offenbart sich als Schuttrampe in Förderbandoptik, eine geniale wie halsbrecherische Bühnenidee von Carola Reuther. Wie Zuckerrüben oder gar die männlichen Küken, die derzeit auf allen TV-Bildschirmen dem sichern Tod durch Schreddern entgegenrumpeln, poltern die Darstellerinnen mit vollem Körpereinsatz und lautem Getöse gefährlich nah zur Bühnenrampe. Was für ein Auftritt! Schlammverschmiert stürzen sich 18 hochmotivierte junge Damen prompt in den Text: "Zeus, Schützer der Flehenden, seh’ gnädig herab auf unseren Zug, der zum Schiff sich erhob...". Aus Ägypten sind sie vor der Zwangsverheiratung mit ihren Vettern geflohen und begehren nun Schutz im griechischen Argos.

Produktive Verunsicherung

Im Schauspielhaus des Nationaltheaters waren "Die Schutzflehenden", Auftakt und einzig komplett erhaltener Teil der Danaiden-Tetralogie des Aischylos, schon einmal Grundlage für ein jetztzeitiges Flüchtlingsdrama. Nicolas Stemann zeigte hier die Uraufführung von Elfriede Jelineks sarkastisch-klugem Text "Die Schutzbefohlenen" im Rahmen von Theater der Welt 2014, produziert wurde überwiegend in Hamburg und mit Darstellern des Thalia Theaters. Volker Lösch, Chorspezialist mit künstlerischer Nähe zu entrechteten Randfiguren der bundesdeutschen Gesellschaft, geht den gut 2500 Jahre alten Text im Verbund mit der örtlichen Bürgerbühne, Alltagsspezialisten, Nationaltheater Mannheim-Ensemblemitgliedern – und Ergebnissen einer Recherche zum Thema Asylpolitik in Mannheim und Heidelberg an. So ganz kommt man nicht dahinter, wer nun nur spielt, nur Textbeiträge lieferte, Schauspielschülerin oder Aktivistin ist, doch der Abend lebt auch von dieser Unsicherheit der Zuordnung. Chorisch gearbeitet wurde unter Christoph Jöde bestens und Löschs Gebärdenrepertoire und Textbelebungsideen für gemischte Ensemble sind auch diesmal aller Ehren wert.

.die schutzflehenden2 560 Hans Joerg Michel hMatthias Thömmes, Sandra Bezler und der Chor  © Hans Jörg Michel

Gesinnungsprüfung per Leitkulturabfrage

Ragna Pitoll ermahnt als väterlicher Danaos ihre Schützlinge zur Demut, unterweist sie texttreu in Unterwerfungs- und Bescheidenheitsgesten. Mit leichter Zunge werden ihre Ratschläge plötzlich zur anwaltlichen Rechtsbelehrung für Asylbewerber: "Vermeiden Sie Widersprüche", "Unterschreiben Sie den Verzicht auf die Rückübersetzung des Anhörungsprotokolls nicht!". Das wirkt ebenso wenig gewollt wie Matthias Thömmes goldgewandeter Griechenkönig Pelasgos, der politisch korrekt aber misstrauisch um das antike Asylverfahren der Hikesie tänzelt. Wohl ist dem Politiker dabei nicht - und so prüft er der Schutzflehenden Aufnahmeanspruch mit einer Leitkulturabfrage nach gemeinsamen Mythen noch mit Aischylos-Text.

Beruhigen kann ihn das Wissen, seine Nichten zu spätaussiedelnden Gesinnungsgriechinnen zählen zu dürfen, keineswegs. Im Gegenteil, nimmt er sie auf, droht Krieg mit der Verwandtschaft und Elend für sein Volk. Was tun, sprach Zeus. Erstmal gründlich mit dem Feuerwehrschlauch den Dreck von den unreinlichen Ankömmlingen spritzen. Fabian Raabe hat als ägyptischer Herold indes einen spielstarken Auftritt, der zeigt, wie es den Frauen bei einer Rückkehr in die Heimat ergehen könnte ... Zwei der vielen harten, aber dramaturgisch unterlegten Regieideen, die immer – wenn auch manchmal nur haarscharf – oberhalb der Grenze zur Geschmacklosigkeit bleiben. In regem Wechsel springt der Text nun immer wieder in die Gegenwart. Der König wird zum Sachbearbeiter, kundig im Heidelberger "Modellverfahren mit Fall-Clustern zur Beschleunigung der Abläufe des Asylverfahrens". Zunehmend wird es hochpolitisch.

Die schöne Zeit des ungeteilten Wohlstands ist vorbei

Mit den recherchierten Stimmungsbildern der befragten Experten wickelt Lösch politischen Schmu von der praktischen Seite her auf: "sichere Herkunftsländer", "gute Bleibeperspektive", "Aufforderung zur freiwilligen Ausreise - oder eben Rückführung". Die Fragwürdigkeit der staatlich verordneten Kategorien entlarvt Ragna Pitoll als engagierte Anwältin mit konkreten Fällen. Ihr Fazit: "Wirtschaftsflüchtling, wenn ich das schon höre, dieses Unwort!"

Den Darstellern, auch den semiprofessionellen, perlt Beamtendeutsch ebenso leicht aus der trainierten Kehle wie antike Verse oder die anonymisierten Einzelschicksale aus Bosnien, dem Iran, Afghanistan oder Mazedonien. Ja, das macht auch beim 100. Theaterflüchtlingsprojekt betroffen. Dass die Politik – von AfD bis Grün – zum Asylpaket 2 ordentlich was auf die Schönredeschnauze bekommt, hätte einen freuen können, wenn es differenzierter gewesen wäre, hat doch die ewige Leier auf das christliche "C" in der Regierungspartei sogar an Stammtischen schon einen Bart. Aischylos ist zu diesem Zeitpunkt aufgegeben, es folgen Agitationschöre zum Weltbürgertum, zu Grenzen, die fallen müssen, zur Forderung nach dem Recht, zu gehen und zu bleiben. "Es ist vorbei!" - mit dem Nichtteilen müssen, mit der Freiheitsexklusivität der Europäer.

"Ab sofort sind unsere Grenzen offen"

Ist das Kippen des bis dahin fraglos großen Abends dramaturgisch und politisch konsequent? Ist das der notwendige Ruck, der durch die Gesellschaft gehen muss? Oder nimmt hier ein glänzender Handwerker (wieder mal) den salonsozialistischen Mund zu voll? Auch darin herrscht Meinungsfreiheit.

Bei dem Ruf "Ab sofort sind unsere Grenzen offen", mag man noch ernstlich gerührt sein. Beim Zusatz "... und bringt eure Bomben mit, wir sind am Extremismus nicht unschuldig", wird dann doch geschluckt im Zuschauerraum. Nach dem Schlusssatz "Dann nehmen wir sie alleine auf, das geht", folgt dennoch einhelliger Jubel. Vielleicht, weil mancher beim Auftritt Volker Löschs hoffte, doch noch mal Glück gehabt zu haben und der Umverteilung weiterhin entkommen zu können. Denn wer zu Höchstgagen in schimmernder Seide und Lackschuh zum Applaus kommt, der beißt nicht, der will ja vielleicht doch nur spielen ...

 

Die Schutzflehenden 
von Aischylos / Aktivist*innen, Anwält*innen, Dolmetscher*innen, Entscheider*innen, Flüchtlingshelfer*innen, Geflüchtete, Politiker*innen, Polizist*innen, Psycholog*innen, Sozialarbeiter*innen  
Regie: Volker Lösch, Bühne und Kostüme: Carola Reuther, Mitarbeit Kostüme: Carla Friedrich, Chorleitung: Christoph Jöde, Dramaturgie: Christoph Lepschy / Stefanie Bub, Licht: Damian Chmielarz.  
Mit: Sandra Bezler, Ragna Pitoll, Matthias Thömmes, Fabian Raabe und Viola Becker, Anne-Sophie de Millas, Helena Fuladdjusch, Esra Gülay, Sabrina Herzog, Sophia Hörmann, Vivien Lahdo, Aydan Mugan, Natice Orhan-Daibel, Lisa Pellegrinon, Julia Schmitt, Clara Schwinning, Eliska Sykorova, Felicitas Vajna, Victoria Vanessa Vladimirova, Jule Winkler, Vivien Zisack.   
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause

www.nationaltheater-mannheim.de

 

Kritikenrundschau

"Ein flammendes Plädoyer für die Not leidenden Menschen, ja für die Aufnahme aller Flüchtlinge, die zu uns kommen wollen" hat Heribert Vogt gesehen und schreibt in der Rhein-Neckar-Zeitung (23.5.2016): "Eine Blauäugigkeit sondergleichen, könnte man meinen. Aber Theater ist nicht dazu da, staatstragende Botschaften zu transportieren, sondern den Finger in die Wunde zu legen und Freiräume für alternative Denkweisen zu eröffnen." Und dies gelinge Volker Lösch eindrucksvoll. Ins Rutschen komme Löschs Regiekonzept an diesem Abend nie. "Vielmehr wirkt seine Verbindung der Aischylos-Tragödie aus dem Jahr 463 v. Chr. mit den heutigen Verhältnissen – knapp 2500 Jahre später – durchaus stimmig."

"Das Problem bei Lösch: Man versteht immer sofort alles, bemerkt ziemlich schnell aber auch, dass es nur um stereotype Wahrnehmungen geht, die eine linke Gegenöffentlichkeit dem stereotypen 'Lügenpresse'-Geschrei all jener Pegida-Anhänger entgegensetzen will, die angesichts der Flüchtlinge um ihren Vorgarten fürchten", schreibt Jürgen Berger auf Spiegel online (22.5.2016). "Bewusst übergangslos" seien die aktuellen, "wie bei Lösch nicht anders zu erwarten, niederschmetternd(en)" Interview-Passagen in den Aischylos-Text eingefügt worden, "was sich ungefähr so anfühlt, als sei ein Seidentuch mit einem Wollteppich unter Zuhilfenahme eines Schiffstaus vernäht worden", so Berger – immerhin das Anfangsbild sei beeindruckend.

"Ein packender und konzentrierter Theaterabend", findet Johannes Breckner im Darmstädter Echo (23.5.2016). Das Theater beziehe Position für die konkrete Arbeit an einer Vision, und Lösch werbe dafür mit einprägsamen Bildern und einer starken Choreografie, die das Bühnenkonzept sehr fantasievoll bespiele. "Vor allem zeigt er Menschen und Schicksale, er lässt die Frauen in der Gesellschaft ankommen, steckt sie in prachtvolle Kleider und zeigt, dass die Angst vor der Verfolgung trotzdem nicht aufhört."

In ihren theatralischen Mitteln sei die Inszenierung lange Zeit durchaus attraktiv, so Dietrich Wappler in der Rheinpfalz (23.5.2016). Das "zähe Finale" ende hingegen sympathisch, aber holzhammermäßig: "Statt Diskursangebote ztu machen, wird hier billiger Beifall provoziert."

Kommentare  
Die Schutzflehenden, Mannheim: ab ins Theatermuseum
Wäre das Thema Flüchtlinge nicht in den Fokus gekommen, wäre Volker Lösch schon längst im Theatermuseum verschwunden. Zu recht.
Die Schutzflehenden, Mannheim: Lösch meint es ernst
Eigentlich eine schöne Nachtkritik. Sie beschreibt anschaulich, sie stellt Fragen, und sie ist bis in die Details hinein erstaunlich klar in ihrem Urteil: handwerklich "(wieder mal) glänzend", die Bühnenidee "genial", die chorische Arbeit "bestens", die Regieideen "hart, aber dramaturgisch unterlegt", der Abend werde "hochpolitisch" und mache "betroffen". Zusammengefasst: "ein großer Abend".

Wurde dem Kritiker nach so viel Lob dann selber schwindelig? Musste er, um sich kritisch zu geben, am Ende doch noch draufhauen? Das ist ja okay und ein üblicher Kritikerreflex, aber warum wird das so persönlich und gemein? Was ist der Vorwurf? Volker Lösch nehme seinen "salonsozialistischen Mund" zu voll, wolle nicht beißen, nur spielen, schließlich erhalte er Höchstgagen und verbeuge sich mit Anzug und Lackschuhen?!

Was tut ein Kleidungsgeschmack zur Sache? Sind andere Regisseure in ihren politischen Botschaften glaubwürdiger, wenn sie zwar noch mehr verdienen, aber als "Edelpenner" rumrennen oder mit zerrissenen Jeans oder Kapuzenpulli tun als seien sie noch immer jung und rebellisch? (Mal ganz abgesehen davon, dass Löschs Anzug am Premierenabend dieselbe Farbe hatte wie der Anzug von Pelasgos, dem Griechenkönig, der die Grenzen öffnet und Asyl gibt, also eine klare politische Parteinahme signalisiert?)

Man könnte über diesen Fauxpas hinweggehen, er disqualifiziert sich selbst. Ich reagiere auf den Vorwurf, weil ich selten mit einem Regisseur gearbeitet habe, der es ernster meint mit seiner politischen Haltung. Der eben nicht nur auf der Theaterbühne spielt, sondern auch auf Demos geht, Wutreden hält (auch das im Anzug, ja), politische Text publiziert usw. Und der gerade auch im Kollegialen und Persönlichen versucht, wenn nicht sozialistisch, so zumindest besonders fair zu sein. Ok, er bekommt in diesem System als Regisseur höhere Gagen als alle anderen in der Produktion, aber er ist außergewöhnlich großzügig, lädt seine Mitarbeiter regelmäßig ein, engagiert sich in seiner Freizeit (probt mit Choristen fürs Schauspielschulvorsprechen; vermittelt Jobs an Kollegen, die gute Arbeit machen, usw.), und wenn er einen Geldpreis bekommt, dann teilt er ihn mit seinem Team. Die wenigsten Regisseure, die ich kenne, sind derart engagiert, fair und großzügig.

Darum, Herr Langhals, dieser Widerspruch. Wenn er als persönlicher Vorwurf gemeint gewesen war, ist er ungerecht und trifft schlichtweg den Falschen. Wenn er Metapher sein sollte für einen Theaterbetrieb, der auf der Bühne engagiert ist, aber eben nur auf der Bühne, also nur "Spiel", dann freilich sollte man diskutieren: über andere Formen von politischem Theater, über Demos, Tribunale, Artivismus. Aber auch hier sollte man das eine gegen das andere nicht ausspielen. Auch ein Vierte-Wand-Schauspiel vor bürgerlichem Publikum - ganz gleich ob in Lackschuhen, Birkenstock oder Doc Martens - kann politische Kraft entfalten. Hoffe ich. Wenn nicht, können wir es gleich sein lassen, mit diesem unserem Theaterbetrieb. Hochachtungsvoll. SB
Die Schutzflehenden, Mannheim: wie bei Pasolini
@ Fair Play: Neben dem, was ich höre, und ich habe ein sehr feines Gehör (Lösch ist mir da oft viel zu grob), gehe ich stark von Bildern aus. Auch und vor allem von metaphorisch aufgeladenen, nicht von platten Pornobildern. Und hier muss ich fragen: Reproduziert das obige Bild nicht nur das sogenannte "Flüchtlingselend" (als Zeitungsschlagzeile) und das dazu noch sehr klischeehaft? Junge Frauen in einer masochistisch-hündischen Position wie in Pasolinis Salò und ein Mann/Herr über ihnen? Ist das nicht viel zu klischeehaft gedacht? Ach, die armen Frauen und die bösen Männer wieder. Warum dürfen die sich eigentlich nicht direkt in die Augen schauen? Und gibt es heutzutage etwa keine flüchtenden Männer? Es gibt ja auch aufnehmende Politikerinnen bzw. Dominas, oder etwa nicht?
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