Palmarès vom Schreibtisch?

von Andreas Klaeui

Genf, 27. Mai 2016.Wer einmal eine seiner Produktionen gesehen hat, wird sie nicht mehr vergessen. Das Zürcher Theater Hora ist schon eine ganz besondere Institution. Seit einem Vierteljahrhundert leistet es Pionierarbeit in der künstlerischen Förderung von Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung. Die allererste Produktion war "Momo" nach dem Roman von Michael Ende, die Figur des Meisters Hora darin, der die Zeit verwaltet, gab dem Theater den Namen. Über den Umgang mit Zeit kann man manches lernen in den Hora-Aufführungen, über Geduld, und Hingabe auf der Bühne. International bekannt – und kontrovers diskutiert – wurde es mit Disabled Theater in der Inszenierung von Jérôme Bel, das den Schutz von Rollen hinter sich ließ. Das aktuelle Langzeitprojekt nennt sich "Freie Republik Hora": Hier entwickelt das Ensemble eigene Inszenierungen und Choreografien; abermals ein Schritt über das herkömmliche "Behindertentheater" hinaus.

Julia Haeusermann 280 Adrian Moser uJulia Häusermann tanzt
© Adrian Moser / BAK / OFC / UFC / FOC
Hora ist "ein radikales ästhetisches System, das sich durch nichts und von niemandem behindern lässt", wie Jurymitglied Kaa Linder in der Laudatio formuliert. Dass das Theater gestern die höchste Auszeichnung im Schweizer Theater zugesprochen bekam, ist gewiss verdient. Und groß war der Jubel auf der Bühne des Genfer Théâtre de Carouge, einundzwanzig Hora-Künstlerinnen und Künstler waren gekommen, um den Hans-Reinhart-Ring (oder stellvertretend einen Blumenstrauß) entgegenzunehmen. Julia Häusermann, als Kerr-Preisträgerin einer der Stars des Ensembles, zeigte zum Dank eine kurze Tanzperformance, die allerdings ein wenig verloren wirkte: Schöner wäre gewesen, alle zusammen hätten zu einem ihrer geliebten Schlager abgetanzt. Aber das ließ sich wohl nicht einrichten.

Aufschrei auf dem Totenbett

Neben so viel unmittelbarer Theaterfreude und Auftrittshingabe sahen die weiteren Trägerinnen der Schweizer Theaterpreise etwas blass aus. Der Genfer Schauspieler Jean-Quentin Châtelain ist ein Grand Old Man des Westschweizer – und französischen –Theaters, unvergessen ist sein Solo mit Fritz Zorns "Mars", einem der wichtigsten Schweizer Romane der siebziger und achtziger Jahre. Der Autor hieß Angst, als Nom de plume nahm er sich Zorn, und so verfasste er seinen Text: als wütende Abrechnung mit dem Milieu, aus dem er stammte, der Zürcher Bourgeoisie, und dem Nichtleben, zu dem sie ihn verdammte und dem er seine Krebserkrankung zuschrieb. "Ich bin jung und reich und gebildet; und ich bin unglücklich, neurotisch und allein", lautet der berühmte erste Satz darin, und wer ihn von Jean-Quentin Châtelain gehört hat, wird ihn sich nicht mehr in einem anderen Tonfall vorstellen können, ein verzweifelter Aufschrei auf dem Totenbett. Châtelain wäre gewiss auch ein geeigneter Hauptpreisträger gewesen, geradeso wie die Zürcher Schauspielhaus-Intendantin Barbara Frey, die ebenfalls einen Nebenpreis erhalten hat und in ihrer schönen Dankesrede klarmachte, dass Regieführen eigentlich ein Beruf ist, den es nicht gibt – einzig im Zusammenspiel mit den Schauspielern.Jean Quentin Chatelain 560 Adrian Moser uJean-Quentin Châtelain bei seiner Dankesrede © Adrian Moser / BAK / OFC / UFC / FOC

Weitere Theaterpreise gingen an den Theaterwissenschaftler Germain Meyer, der sich im Kanton Jura für Theatervermittlung engagiert, an das Junge Theater Graubünden und die freie Gruppe 400asa, 1998 von Samuel Schwarz, Lukas Bärfuss und Udo Israel gegründet.
Man steht etwas ratlos vor der Auswahl. Soll der Grand Prix ein Lebenswerk auszeichnen, die Zusatzpreise Förderung und Unterstützung einer Karriere sein? Die Kriterien scheinen nicht eben klar definiert. Jung und alt, Groß und Klein, Institution und freie Szene kommen vor, und immer schön über alle Kantone und Sprachregionen verteilt: Es ist ein Palmarès wie vom Schreibtisch im Bundesamt. Die Schweizer Theaterpreise sind eine magistrale Angelegenheit und haben offenkundig föderalen Bedingungen zu gehorchen. Alle sollen mal drankommen. Das tritt in dieser dritten Vergabe nach dem neuen Modell mit verstärkter Klarheit zutage, und auch, dass es immer schwieriger wird, in der kleinen Schweizer Theaterlandschaft überhaupt die tauglichen Kandidaten zu finden, die dann auch noch die bundesstaatlichen Kriterien erfüllen.

Jürg Kienbergers "Extremist"

Das Nämliche gilt für die Auswahl zum (ebenfalls dritten) Schweizer Theatertreffen mit dem föderalen Verteilschlüssel von drei Produktionen aus der Romandie, einer aus dem Tessin und fünf aus der Deutschschweiz, von denen allerdings zwei – nämlich Simon Stones "Engel in Amerika" vom Theater Basel und Jan Bosses Hexenjagd vom Schauspielhaus Zürich, beides richtig große Theaterkisten – aus technischen Gründen in Genf nicht gezeigt werden können.
Vom Schauspielhaus kommt Stefan Puchers Volksfeind-Inszenierung nach Genf, die auch zum Berliner Theatertreffen eingeladen war. Das Theater Basel zeigt Ewald Palmetshofers Marlowe-Überschreibung "Edward II. Die Liebe bin ich" (eine Übernahme von Nora Schlockers Wiener Inszenierung) – das sind mithin vier Produktionen aus den großen Häusern in den beiden großen Deutschschweizer Städten.

Der Extremist 560 Ralf Feiner uAllround-Theatermusiker Jürg Kienberger (rechts) mit vielgeliebten Saisonrennern
© Ralf Feiner

Die Rumantschia ist nicht vertreten, aber ein deutschsprachiger Abend aus Graubünden: "Der Extremist" der freien Gruppe ressort k um den Regisseur Manfred Ferrari, eine kleine Produktion, aber mit einem der ganz Großen als Protagonist, nämlich Jürg Kienberger. Der Bündner Singschauspieler und überhaupt Allround-Theatermusiker ist hier ganz in seinem Element, dem musikalischen. Ein Grand Hotel, drei Musiker. Ein Mal noch das Caumasee-Lied ("Reizend ist das Wellenspiel"), der "vielgeliebte Saisonrenner" im Sechsachteltakt, und die letzten Gäste haben ausgecheckt. Der Zauber der Zwischensaison kann sich entfalten. Er ist allerdings nur von kurzer Dauer, die Zeitgeschichte weht hinein.

Den Text hat der ukrainische Autor Jurij Andruchowitsch eigens für die Truppe geschrieben. Der "Extremist" (Kienberger) ist ein Pianist, der auf dem Majdan bei den Bürgerprotesten Klavier gespielt hat. Im Schweizer Grand Hotel findet er Exil, unter der heimlichen Beobachtung eines ukrainischen Geheimdienstlers (Samuel Streiff), der ihn zum mörderischen Attentat auf den heimischen Diktator anstiften will. Der Plot ist einigermaßen verworren und hauptsächlich Anlass fürs musikalische Abschweifen: mit Instrumenten vom Tafel-Harmonium bis zur Kienberger'schen Glasharfe. "Der Extremist" ist ein musikalischer Schabernack, eine Harlekinade vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund, die doch auch mit charmantem Nachdruck die subversive Macht der Musik hervorhebt.

Konzentriert und kompakt

Die Romandie ist ebenfalls mit Truppen vertreten, nicht den festen Häusern, was dem En-suite-Produktionsbetrieb der frankofonen Szene entspricht. Die eingeladenen Produktionen spiegeln einigermaßen ausgewogen die ästhetischen Tendenzen in der Westschweiz. "Palavie" der Compagnie Clair-Obscur ist eine einlässliche Textarbeit, die nicht mit Effekten prahlt, aber genau hinhören will, nach einem Text der Westschweizer Autorin Valérie Poirier. "Münchhausen" von Fabrice Melquiot und Joan Mompart vom Genfer Théâtre Am Stram Gram auf der andern Seite ist eine wildere, theatersinnliche Fantasie aus dem ästhetischen Umfeld von Omar Porras.

Nach zwei Malen in Winterthur findet das Theatertreffen nun zum ersten Mal in der Westschweiz statt, zugleich auch konzentrierter und kompakter als bisher. Es dauert drei Tage, ein verlängertes Wochenende, und es gibt jeweils mehrere Vorstellungen am Tag, nicht mehr nur abends eine. Das Zentrum ist das idyllische Théâtre de Carouge, Vorstellungen finden aber auch in der städtischen Comédie, im Kulturzentrum Forum Meyrin und im Kleintheater Théâtre de Poche statt. So dass sich die Theaterladung ein wenig über die Stadt verteilt. Und sich, bleibt zu hoffen, mit der neuen Formel auch der Festivalcharakter einstellt, der dem Schweizer Theatertreffen bisher abging.

 

3. Schweizer Theatertreffen
26. bis 29. Mai 2016 in Genf
Kuratorium: Marie-Pierre Genecand, Tobias Gerosa, Daniele Muscionico, Stefan Reuter, Brigitte Romanens-Deville, Giorgio Thoeni.

rencontre-theatre-suisse.ch/de

 

Kritikenrundschau

"Es ist leicht, die Nase zu rümpfen über das Schweizer Theatertreffen. Es tut auch etwas weh zu sehen, dass dieser Jahrgang nichts Herausragendes hergab. Doch das sind die Risiken des Metiers: Kunst ist Kunst – ein Ausnahme- oder Glücksfall", ist Barbara Villiger Heilig in ihrer Bilanz des Schweizer Theatertreffens in der Neuen Zürcher Zeitung (1.6.2016) sanft.

 

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